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Hans-Joachim Zieten starrte entsetzt den Namen an, der auf Aivars’ Liste hellgelb markiert war. Der Lette wartete zufrieden, bis Zieten die Worte wiederfand.

»Können Sie mir bitte erklären, wie Sie zu dieser absolut irrwitzigen Information gekommen sind?«

»Die Torsi sind Nachbildungen«, erklärte Aivars. »Sie sind Allegorien auf einer italienischen Wandmalerei nachempfunden. Sie stammen aus dem vierzehnten Jahrhundert. Von einem gewissen Lorenzetti.«

»Was heißt das bitte, verdammt noch mal. Ich verstehe überhaupt nichts.«

»Ich gebe Ihnen eine Kurzfassung«, sagte Aivars ruhig. »Die Stadt Siena war im dreizehnten Jahrhundert so gut wie ruiniert, weil jede Regierung derart mit den lokalen Clans verstrickt war, dass letztlich immer das Gleiche herauskam: Die Bürger wurden ausgeraubt. Der wirtschaftliche und politische Niedergang der Stadt war katastrophal. Es gelang der Stadt erst, sich aus dem Würgegriff der mächtigen Familien zu befreien, als man damit begann, wichtige Ämter nur noch auf Zeit und vor allem an neutrale Verwalter von auswärts zu vergeben. Das rettete die Stadt. Um diesen Erfolg für alle Zeit im Gedächtnis der Regierenden frisch zu halten, wurde um 1340 ein Wandgemälde in Auftrag gegeben. Es stellt sehr drastisch die Folgen einer guten und einer schlechten Regierung gegenüber. Schauen Sie.«

Er öffnete eine Datei auf dem Computer und lud eine Detailansicht des Gemäldes auf den Bildschirm.

»Das hier ist die Allegorie der schlechten Regierung. In der Mitte sitzt der Chef der üblen Bande: die Figur des Tyrannen. Wie Sie sehen, handelt es sich um ein schielendes Monstrum mit Schweinezähnen, zu dessen Füßen eine Ziege kauert. Links davon sitzen Crudelitas, Proditio und Fraus, also die Grausamkeit, der Verrat und der Betrug. Proditio und Fraus haben den Torsi Nummer zwei und drei Pate gestanden. Davon bin ich überzeugt. Der Torso, der in Lichtenberg gefunden wurde, enthält Elemente der Tyrannenfigur.«

Zieten starrte die Fratzen auf dem Bildschirm an. Seine Lippen bildeten nur noch einen schmalen Strich.

»Auf den Botschaften, die Sie und Marquardt bekommen haben, sind Embleme zu sehen«, erklärte Aivars weiter. »Die Torsi verweisen auf eine hochpolitische Wandmalerei. Das heißt, die Symbolsprache dieses Täters ist stark moralisierend. Vor allem ist sie ungewöhnlich altertümlich. Meine Vermutung war, dass kein Jugendlicher oder junger Mensch, sondern ein älterer Zeitgenosse hinter diesen Arrangements steckt, jemand, der diese Wandmalerei sehr gut kennt oder in Büchern studiert hat. Eine Person, die vermutlich Bibliotheken benutzt. Es war, wie gesagt, nur eine Arbeitshypothese. Ein Versuch.«

»Aber wie um alles in der Welt haben Sie diesen Namen gefunden?«, wollte Zieten ungeduldig wissen.

»Ich habe in den Online-Katalogen der fünf größten Bibliotheken Berlins nach Kunstbänden gesucht, die diese Gemälde detailliert behandeln. Die Signaturnummern der entsprechenden Bände habe ich jemandem geschickt, der für mich arbeitet. Er hat die Server der Bibliotheken danach durchforstet, wer in den letzten sechs Monaten diese Signaturnummern bestellt hat. Für einen guten Hacker ein Kinderspiel. Und wir haben Glück gehabt. Wie Sie sehen, hat Hauptkommissar Martin Zollanger gestern um 9:38 Uhr zwei der gelisteten Bände bestellt und sie um 13:34 Uhr ausgeliehen.«

Zieten war sprachlos. Er wusste gar nicht, worüber er mehr staunen sollte. Über diesen Aivars und seine analytischen Fähigkeiten. Über die Tatsache, dass ein Hacker in kürzester Zeit herausfinden konnte, wer wann welche Bücher las. Oder das Unglaublichste von allem: Dass der Mann, der für all diesen Wahnsinn verantwortlich war, ein Polizist sein sollte. Und dazu noch ausgerechnet der Polizist, der diesen Fall bearbeitete.

»Aber … was soll das heißen?«, stammelte er.

Aivars zuckte mit den Schultern.

»Ich kann Ihnen nur Informationen liefern. Schlüsse müssen Sie selbst ziehen.«

»Dieser Zollanger ist der Chefermittler in der Torso-Geschichte«, sagte Zieten. »Vielleicht … vielleicht war er einfach schneller als Sie?«

Aivars schüttelte den Kopf. »Warum steht dann kein Sterbenswörtchen von diesem wichtigen Zusammenhang in seinem Ermittlungsbericht? Der Mann weiß doch nicht erst seit gestern Morgen, dass es diese Verbindung gibt.«

Zietens legte die Handflächen gegeneinander, ging mehrmals auf und ab und sagte kein Wort.

»Sie meinen also, dieser Hauptkommissar steckt hinter all dem Irrsinn? Warum? Das ist doch absurd.«

»Ich weiß nicht, was für eine Rolle Herr Zollanger in dieser Sache spielt«, sagte Aivars und betrachtete die Fingernägel seiner linken Hand. »Sie wissen nun, dass der Chefermittler der Mordkommission äußerst wichtige, fallrelevante Informationen zurückhält. Das ist merkwürdig. Wissen Sie etwas über diesen Mann? Hatten Sie schon einmal etwas mit ihm zu tun?«

»Nein«, antwortete Zieten schroff, bemüht, die Fassung zu bewahren. In seinem Kopf herrschte völliger Aufruhr. Zollanger? Ein Hauptkommissar? Was hatte er mit diesem Polizisten zu schaffen? Nichts. Gar nichts. Sein Verstand lief auf Hochtouren, aber er produzierte nur Herzklopfen.

Sein Handy klingelte.

»Warten Sie bitte einen Augenblick«, sagte Zieten. Er ging in den Nebenraum und griff zum Telefon.

»Hajo. Hier ist Jochen. Wir haben das Ergebnis.«

»Und?«

»Es sind Ingas Haare.«

Zietens Knie wurden weich. Er setzte sich, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und schluckte.

»Ich muss die Mordkommission informieren. Ich kann das nicht länger für mich behalten.«

»Das tust du nicht. Auf keinen Fall.«

»Hajo, ich muss …«

»Ich rufe dich gleich zurück«, schnitt er ihm das Wort ab.

Aivars musterte ihn, als er zurückkam.

»Schlechte Nachrichten? Sie sehen sehr blass aus, Herr Zieten.«

»Hören Sie zu«, sagte Zieten. »Ich weiß nicht, was Marquardt, Sedlazek und Sie mit diesem Hilger gemacht haben … nein, sagen Sie gar nichts. Dafür ist jetzt keine Zeit. Was auch immer geschehen ist: Sie drei haben etwas Entsetzliches in Gang gesetzt. Etwas Grauenvolles, absolut Widerwärtiges. Sie müssen mir helfen, dieses Monstrum zu stoppen.«

»Ist das ein Auftrag?«

»Nennen Sie es, wie Sie wollen. Sie haben in ein paar Stunden Dinge herausgefunden, wozu die Polizei vermutlich Wochen gebraucht hätte, wenn sie überhaupt darauf gekommen wäre. Und wenn Sie mit Ihrer Vermutung Recht haben, ist die Polizei sowieso nutzlos. Ich habe keine Zeit, verstehen Sie? Also, was schlagen Sie vor? Was soll ich tun?«

»Herr Zieten, ich fürchte, es bleibt Ihnen nicht viel anderes übrig, als sich etwas mit Herrn Zollanger zu beschäftigen.«

»Und wie soll ich das machen?«

»Ganz einfach. Ich besuche ihn und schaue nach, was er sonst noch so alles liest.«