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Inga Zieten war keine ängstliche Person. Und sie hatte auch keinerlei Grund, argwöhnisch zu sein, als sie am Sonntagabend ihren MINI in die Tiefgarage des Appartementgebäudes am Steglitzer Kreisel lenkte. Sie nahm nicht viel von ihrer Umgebung wahr. Erstens war sie von eineinhalb Stunden Powertraining, die hinter ihr lagen, ziemlich erschöpft. Zweitens steckten zwei kleine weiße Kopfhörer in ihren Ohren, aus denen mit ziemlicher Lautstärke Genie in a Bottle von Christina Aguilera zu hören war. Sie hätte den merkwürdigen Herrn, der neben dem Aufzug in der Dunkelheit auf sie wartete, auch ohne Kopfhörer nicht früher wahrgenommen. Und selbst wenn. Am Gang der Ereignisse hätte es nichts geändert.
Inga Zieten war zu diesem Zeitpunkt dreiundzwanzig Jahre alt. Sie hatte ein sorgloses Leben geführt, war als einzige Tochter von Ulla und Hans-Joachim Zieten in einer Grunewalder Stadtvilla aufgewachsen, hatte die letzten zwei Schuljahre an einem Privatgymnasium in der Schweiz absolviert und danach in Genf und Los Angeles eine Wirtschafts-, Finanz- und Managementausbildung durchlaufen. Das Ganze hatte um die zweihunderttausend Dollar gekostet, was allerdings angesichts der Kontakte und Berufsperspektiven, die sich daraus ergaben, eher preiswert erschien. Natürlich hätte sie auch ohne ein solches Studium in das verzweigte Geschäftsimperium ihres Vaters eintreten können. Die Kunst, beim Jonglieren mit öffentlichen Geldern reich zu werden, lernte man ohnehin nicht im Hörsaal. Aber ihr Vater hatte nun einmal gewünscht, dass sie sich erst einmal ein wenig in der Welt umschaute, bevor sie bei ihm einstieg, wie er das nannte.
Inga Zieten war intelligent, aber nur mäßig hübsch, was in beiden Fällen daran lag, dass sie ihrem Vater in fast allem ähnlicher war als ihrer Mutter. Seit sie Julia Roberts in Erin Brockovich gesehen hatte, traktierte sie zwar ihre glatten dunkelbraunen Haare regelmäßig mit Föhn und Lockenwicklern, aber das führte nur dazu, dass sie aussah wie jemand, der wie jemand anderes aussehen wollte. Die etwas zu fülligen Waden und ihre bereits sich andeutende Hüftschwere gingen aus jedem noch so teuren Powertraining unbeschadet hervor. Gegen die kühle, blassgrüne Irisfärbung, die sie anstelle der braunen Augen ihrer Mutter von ihrem Vater geerbt hatte, war schon gar nichts zu machen. Der Gesamteindruck von Inga war der einer Zwanzigjährigen, bei der überall bereits die Vierzigjährige durchschimmerte, wobei sich allerdings die Frage stellte, ob das nicht auch an ihrem Lebensstil lag. Inga berechnete ihr Jahresbudget nicht. Die Kosten für ihre Penthouse-Wohnung, ihren MINI Cabrio und ihre laufenden Ausgaben ganz allgemein kannte sie nur vage. Ebensowenig wie ihre Mutter wusste sie, was mit Hilfe der diversen Karten, mit denen sie ihre Einkäufe tätigte, am Monatsende vom Konto abgebucht wurde. Irgendwie ging das alles zu einem Steuerberater, der daraus Betriebskosten für eine von Hans-Joachim Zietens zahlreiche Firmen machte.
If you wanna be with me, baby there’s a price to pay, sang Christina Aguilera gerade, als Inga auf ihren Parkplatz rollte. Sie stoppte kurz vor dem an die Hauswand geschraubten Nummernschild, schaltete den Motor aus, zog den Zündschlüssel ab und öffnete die Tür. Sie schaute sich kurz in der Tiefgarage um, registrierte die gut beleuchtete Fahrstuhltür in etwa zehn Metern Entfernung und die kleine rote Zahl darüber, die anzeigte, dass der Fahrstuhl sich gerade im neunten Stock befand. Sie brauchte sich also nicht zu beeilen. Sie schloss die Fahrertür, trat ans Heck des Wagens und öffnete den Kofferraum. Ihre Sporttasche lag da. Christina Aguilera sang: I’m a genie in a bottle baby, you gotta rub me the right way honey.
Und dann spürte sie etwas. Einen Luftzug in ihrem Rücken. Daher drehte sie sich um, anstatt nach ihrer Tasche zu greifen. Und was sie da sah, war sehr merkwürdig. Da kam jemand auf sie zu. Ein Mönch? Oder so etwas Ähnliches. Der Mann trug jedenfalls eine schwarze Kutte, wie sie sie von Mönchen oder Priestern kannte. Seine Hände steckten in seinen Ärmeln. Wollte er sie etwas fragen? Inga richtete sich auf und begann damit, die Kopfhörer aus ihren Ohren herauszuziehen. Hormones racing at the speed of light …, hörte sie noch. Dann stand der Mann direkt vor ihr, lächelte sie an und presste plötzlich etwas Kaltes und Feuchtes auf ihr Gesicht. Inga rutschte nach hinten, schlug mit dem Hinterkopf gegen die geöffnete Hecktür, begriff schlagartig, dass sie gerade überfallen wurde, versuchte ihre Arme zu heben, spürte dabei, dass irgendetwas mit ihrem Körper nicht mehr funktionierte, hatte plötzlich keinerlei Kontrolle mehr über ihre Beine, sackte zusammen und fiel in ein schwarzes Loch.