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Die Meldungen überschlugen sich noch immer, als Elin einige Tage später Berlin verließ.

Die Gerüchte über den drohenden Konkurs der VKG hatten ein Beben ausgelöst. Fast stündlich wurden neue Horrorzahlen über mögliche Milliardenverluste des Konzerns bekannt. Die Dimension des Schadens war so ungeheuerlich, dass bereits Bundesbehörden Ermittlungen aufgenommen hatten. Zietens Büroräume waren durchsucht worden. Erics ehemalige Chefs hatten sich ins Ausland abgesetzt.

Am ersten Tag kam sie nur bis Trebbin. Sie hatte keine Zeit gehabt, die Reise zu planen, und so brach sie mit einem ihrer heiligsten Grundsätze und benutzte Geld, um ein Hotelzimmer zu bezahlen. Ihr Vater hatte ihr nach der Verhandlung ein Bündel dieser neuen Geldscheine aufgedrängt und sie angefleht, doch endlich zur Vernunft zu kommen, jetzt, da sie diese schreckliche Sache hinter sich hatte. Ob sie überhaupt an ihn dachte, eine Vorstellung davon habe, welche Sorgen er sich um sie machte? Was er denn nur tun könne, damit sie ihn wenigstens wie einen Mitmenschen behandelte?

Sie dachte während der Fahrt viel an ihn. Das stundenlange Fahrradfahren zeigte die übliche Wirkung. Sie wurde ruhig. Die Stimmen in ihrem Kopf verschwanden nicht, aber die Gespräche, die sie führten, wurden klar und durchsichtig. Seit sie mit vierzehn von zu Hause weggelaufen war, führte sie immer wieder diese Endlosgespräche in ihrem Kopf, erörterte Lebensentwürfe und Grundsatzfragen, mit denen sie haderte. Beim Fahrradfahren ordneten sie sich halbwegs. Sie beschloss, sich mit ihrem Vater auszusprechen, wenn sie dies hier hinter sich gebracht hätte. Ja, sie würde ab jetzt einiges anders machen.

Genaueres über die Gründe der Einstellung des Verfahrens gegen sie hatte man ihr nicht mitgeteilt. Das Video war beschlagnahmt worden. Sie hatte Zollangers Aussage nicht sehen dürfen. Aber Vera Kornmüller hatte ihr den unglaublichen Inhalt in groben Zügen geschildert. Kurz nach diesem Gespräch hatte sie den Umschlag wieder herausgesucht, den ihr vor einigen Wochen ein anonymer Absender ins Krankenhaus geschickt hatte. Die merkwürdige Eintrittskarte in das Museum lag noch immer darin. Sollte sie der Spur folgen? Zollanger musste damit rechnen, dass nach Veröffentlichung des Videos überall nach ihm gefahndet würde. Er hatte einen Menschen getötet. Und er hatte wer weiß wie viele Straftaten begangen, um Ermittlungen zu sabotieren, welche die Wahnsinnstaten seines rätselhaften Bruder betrafen. Er würde sich ein sehr gut gewähltes Versteck ausgesucht haben. Einen wirklich unauffindbaren Ort. Hatte er ihr einen Hinweis geschickt? Sie würde es auf einen Versuch ankommen lassen. Deshalb fuhr sie nach Süden. Nach Siena.

Da sie nicht sicher sein konnte, ob ihr jemand folgte, wich sie auf einsame Nebenstrecken aus und pausierte manchmal an Orten, wo sie einen Verfolger sicher entdeckt hätte. Das Wetter war katastrophal, die Straßen in einem schlimmen Zustand. Zweimal war sie fast angefahren worden. An eine Alpenüberquerung war im Winter ohnehin nicht zu denken, und so nahm sie am vierten Tag den Zug.

Sie erreichte Siena am Nachmittag des 18. Februar. Sie fand ein Hotel in der Nähe der Piazza del Campo, nahm ein Zimmer, ruhte sich ein paar Stunden aus, ging essen und dann früh zu Bett. Am nächsten Morgen war sie eine der ersten Besucherinnen im Museo Civico. Sie betrat den Innenhof des Palazzo Pubblico und stieg die zwei Treppen zum Museum hinauf. Sie legte ihre Eintrittskarte vor, durchquerte den ersten Saal, durchschritt eine niedrige Tür und stand im nächsten Augenblick im »Saal der Neun«. Sie bewegte sich langsam in die Mitte des Raumes und ließ ihren Blick dann von der westlichen über die nördliche zur östlichen Wand schweifen. Die Figuren waren im frühen Morgenlicht nur schemenhaft zu erkennen. Ein kleines Fenster zur Piazza del Campo hin war zwar geöffnet, ließ aber nicht genügend Licht herein, um das riesige Wandgemälde auch nur annährend auszuleuchten.

Elin schaute sich suchend um, entdeckte den Zeitschalter für die Beleuchtung neben dem Eingang und betätigte ihn. Sie erschrak fast, als sie sich wieder umdrehte. Sie hatte mittlerweile Reproduktionen dieser riesenhaften Wandmalerei gesehen und einiges darüber gelesen. Sie wusste, dass die Stadt Siena vor fast siebenhundert Jahren verzweifelt versucht hatte, sich von Korruption und Vetternwirtschaft zu befreien, wusste auch, welche Mittel man damals ersonnen hatte, um zu verhindern, was offenbar mit fataler historischer Regelmäßigkeit jedem Gemeinwesen drohte: dass die Machthaber zu Verbrechern wurden.

In Siena war man damals so weit gegangen, die neun Stadtoberen alle sechs Monate auszutauschen. Darüber hinaus wurden sie unter eine Art Quarantäne gesetzt und, um sie gegen Lobbyeinflüsse so weit wie möglich abzuschirmen, im Ostflügel des Gebäudes einquartiert. Wie groß die Verzweiflung über die Folgen korrupter und verbrecherischer Staatsführung gewesen sein musste, bezeugte die Wandmalerei sehr eindringlich.

Elin betrachtete die Darstellung der schlechten Regierung und das zuständige Personal, die Figuren des Bösen: die Grausamkeit, die einen Säugling schlachtete; die sich selbst entzweisägende Zwietracht; das den Verrat symbolisierende Lamm mit Skorpionschwanz auf dem Schoß eines vertrauensseligen Bürgers. Der über allem thronende schielende Tyrann mit Teufelshörnern und Wildschweinhauern hatte, nach dem, was Frau Kornmüller ihr erzählt hatte, Martin Zollangers Bruder als Vorlage für eine seiner Hassfiguren gedient.

Was für ein Einfall, diese Horrorfiguren real nachzubilden, dachte Elin spontan. Doch nach längerer Betrachtung erschien es ihr nicht mehr so abwegig, dass jemand den Wunsch verspüren konnte, auf obszöne Korruption in der Gegenwart mit einem Menetekel aus der Vergangenheit zu antworten. War diese naive, fast kindliche Bildsprache vielleicht sogar die einzige, in der sich eine Anklage gegen all das, was in der zynischen Gegenwart tagtäglich geschah, noch vorbringen ließ? Vielleicht wirkte dieses Gemälde nach fast siebenhundert Jahren in der Einfachheit und Klarheit seiner Botschaft gerade deshalb so stark auf den Betrachter, weil sich die Werte, Prinzipien und Grundsätze, die es einklagte, nicht änderten und niemals ändern würden, auch wenn kaum noch jemand an sie glaubte.

Elin wandte sich dem Teil des Gemäldes zu, auf dem diese Grundsätze dargestellt waren. Ein blühendes Gemeinwesen war da zu sehen, in dessen Zentrum sich kein schielender Tyrann befand, sondern das als weise Herrscherfigur dargestellte Gemeinwohl. Es war umrahmt von den wichtigsten Voraussetzungen für seine Realisierung: Friede, Gerechtigkeit, Mäßigung, Großmut, Tapferkeit und Vorsicht.

Elin war mittlerweile nicht mehr die einzige Besucherin. Eine Schulklasse wurde gerade hereingeführt. Sie beobachtete einige Minuten lang die meist albernen Reaktionen der Jugendlichen auf die Fratzen und Ungeheuer an den Wänden und verließ dann den Saal, als die Lehrerin auf Italienisch begann, die Wandmalerei zu kommentieren.

Was sollte sie jetzt tun? Einfach warten, wie sie es sich vorgenommen hatte? Ihr Vorhaben kam ihr plötzlich irrwitzig vor. Warum hatte er ihr die Eintrittskarte zu diesem Museum geschickt und sie so nach Siena gelockt? War dies der Ort, der Zollangers Bruder zu seiner Aktion inspiriert hatte? Sie setzte sich auf eine Bank und ließ ihren Blick durch den Saal schweifen. Auf ihrem Plan las sie, dass sie sich in der »Sala del Mappamondo« befand. Dem Weltkartensaal. Sie schaute sich um. Vor allem der Reiter auf blauem Grund an der Wand zur »Sala dei Nove« faszinierte sie. Aber dann holte die Gegenwart sie wieder ein. Was tat sie hier? Sie war quer durch Europa gefahren. Wie lange sollte sie hier sitzen? Und worauf warten?

Sie fand keine Antwort auf ihre Fragen. Aber sie vermochte auch nicht, das Museum wieder zu verlassen. Sie besuchte die anderen Säle, kehrte jedoch immer wieder in die »Sala dei Nove« zurück, um Ambrogio Lorenzettis Allegorie von der guten und schlechten Regierung erneut zu betrachten. Manchmal trat sie an das kleine Fenster und schaute versonnen auf die Piazza del Campo hinab, wo sich trotz der kalten Jahreszeit und des schlechten Wetters viele Touristen tummelten.

Um halb zwei verließ sie das Museum, aß etwas, kehrte um fünfzehn Uhr zurück und blieb bis zum Ende der Besuchszeit. Den Abend verbrachte sie in ihrem Hotelzimmer. Eric war in ihren Gedanken. Was würde er wohl denken, wenn er sie jetzt sehen könnte?

Am nächsten Tag fand sie sich erneut um zehn Uhr morgens im Museum ein. Diesmal löste sie eine Eintrittskarte. Der uniformierte Kartenverkäufer schien sich zu wundern, dass sie das Museum zweimal hintereinander besuchte. Oder warum schaute er sie so komisch an? Wahrscheinlich kamen die meisten Besucher nur einmal hierher.

Sie verbrachte eine Weile in der »Sala dei Nove« und ließ sich dann wieder auf einer Bank in der »Sala del Mappamondo« nieder.

Sie wartete den ganzen Tag, beobachtete Museumsbesucher, ging immer wieder in den Freskensaal und gelangte allmählich zu der Einsicht, dass ihr Vorhaben sinnlos gewesen war. Sie harrte bis eine Stunde vor Schließung des Museums aus, stattete Lorenzettis Allegorie einen letzten Besuch ab und verließ das Museum vorzeitig. Es war kälter geworden. Dafür regnete es nicht mehr. Sie spazierte durch die abendlichen Gassen des Städtchens, blieb vor dem einen oder anderen Schaufenster stehen, ohne wirklich wahrzunehmen, was darin angeboten wurde, und hatte trotz allem das Gefühl, etwas Notwendiges getan zu haben.

Die Figuren, die sie die letzten zwei Tage immer wieder betrachtet hatte, traten ihr dauernd vor Augen. Sie hatte nie das Bedürfnis gehabt, zu beten. Sie war nicht religiös. Überzeugungen, vor allem ethische und moralische, konnte sie sich nur aus der Vernunft hergeleitet vorstellen. Aber die Bilder hatten sie berührt.

Sie betrat ein Café und bestellte einen Tee. Fast alle Tische waren besetzt. Die Leute unterhielten sich lautstark. Ein Fernseher an der Decke quakte vor sich hin. Aber Elin nahm den Lärm kaum wahr. Sie leerte ihre Taschen aus und begann, Quittungen und Eintrittskarten wegzuwerfen, die sich in ihren Anoraktaschen angesammelt hatten. Morgen würde sie die Rückreise antreten. Sollte sie die Eintrittskarten zum Museum aufbewahren? Als Souvenir? Sie nahm die beiden Tickets, die bereits zerknüllt im Aschenbecher lagen, wieder heraus und strich sie glatt. War das die von heute? Sie drehte das Ticket um und überprüfte das Datum. Ja. Das war die letzte. 20. Febbraio stand da. Aber da stand noch etwas. Via Santa Caterina 7. Jemand hatte die Adresse mit blauem Kugelschreiber daraufgeschrieben. Sonst nichts. Nur diese Adresse. Via Santa Caterina 7.

Sie ließ sich auf ihrem Stuhl zurückfallen und starrte die Eintrittskarte an, die sie noch immer in der Hand hielt. Dann erhob sie sich, packte ihre Sachen, bezahlte den Tee und bat den Kellner um eine Wegbeschreibung. Zehn Minuten später stand sie vor dem Haus mit der Nummer 7. Es gab nur eine grüne Holztür ohne Klingel. Sie klopfte. Nichts geschah. Sie klopfte erneut. Nach einer Weile hörte sie Schritte auf einer Holztreppe, dann öffnete sich die Tür. Ein Mann stand vor ihr und schaute sie an. Er trug jetzt keine Uniform, aber sie erkannte ihn trotzdem. Sie hatte ja heute Morgen eine Eintrittskarte für das Museum bei ihm gekauft.

Er trat wortlos zur Seite. Als sie zögerte, ergriff er sie sanft am Arm, zog sie herein und schloss die Tür wieder.

»Signora Hilger?«, fragte er kurz.

Sie nickte unsicher.

»Aspetta qui«, sagte er nur. Der Hausflur führte in einen Hof, an dessen Ende ein weiteres Haus stand. Der Mann verschwand darin. Es vergingen ein paar Minuten, bis ein anderer, jüngerer Mann erschien. Er ging an Elin vorbei, öffnete die Tür zur Straße und machte ihr dann ein Zeichen, ihm zu folgen. Sie tat, wie ihr geheißen. Schweigend gingen sie einige Minuten stadtauswärts bis zu einem Parkhaus. Der Mann signalisierte ihr, zu warten. Kurz darauf hielt ein Wagen vor ihr. Der Mann beugte sich über den Beifahrersitz und öffnete ihr die Tür.

»Parli italiano?«, fragte er, als er sah, dass sie zögerte.

»No«, sagte sie.

»Inglese?«

»Yes. A little.«

»You want to see your friend?«

»Yes.«

»I will take you.«

»Where is he?«

»I cannot tell you«, gab der junge Mann zurück. Dann fügte er hinzu: »I am Stefano. Do not worry. In two hours we are there. Okay?«