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Sie haben das Tier also nicht angefasst?«, fragte Zollanger und wartete, bis der Dolmetscher übersetzt hatte. Es war einfach mühselig, diese Befragungen mit Dolmetscher. Und was sollte die Putzfrau schon bemerkt haben? Aber irgendwo mussten sie ja anfangen. Der armen Frau stand der Angstschweiß auf der Stirn. Offenbar hatte sie noch immer nicht begriffen, dass sie überhaupt keiner Straftat verdächtigt wurde, sondern lediglich mithelfen sollte, eine aufzuklären.
In Lichtenberg hatte sich trotz erneuter intensiver Befragung in der Nachbarschaft kein einziger verwertbarer Zeuge auftreiben lassen. In Tempelhof standen sie vor dem umgekehrten Problem. Die Liste der Online-Buchungen für die »Bad Santa Party« war mittlerweile eingegangen, neunhundertdreiundsiebzig an der Zahl. Aber was sollten sie damit machen? Sollten sie Jean-Pierre Fontaine aus Toulouse und Günther Henlein aus Duisburg vorladen und fragen, ob sie bei ihrem Berlinbesuch ein totes Lamm im Gepäck gehabt hatten? Nach welchem Muster sollten sie die Liste der Namen durchgehen? Und was war mit den tausend anderen, die im Vorverkauf oder an der Abendkasse bar bezahlt hatten? War der Täter nicht wahrscheinlicher in dieser Gruppe zu finden?
Udo Brenner befragte im Nebenraum schon den ganzen Morgen über die Angestellten und das Sicherheitspersonal des Trieb-Werks, ohne dass sich irgendetwas Konkretes dabei ergeben hätte. Ein ganz normaler Abend sei es gewesen. Nein, niemand habe auffällig viel Gepäck dabeigehabt und wenn, dann nur das Übliche: Masken, Ketten, Lederkram.
Als Zollanger gegen vierzehn Uhr bei Staatsanwalt Frieser anrief, hatte er ihm daher auch kaum Neuigkeiten zu berichten.
»Sie haben also noch immer keine klare Richtung?«
»Nein.«
»Das heißt also, entweder wir haben Pech, und es bleibt, wie es ist, oder wir haben Pech, und es passiert noch etwas.«
»Ja. So würde ich es auch ausdrücken.«
»Und wie würden Sie es beschreiben, wenn wir ein wenig Glück hätten?«, fragte Frieser.
»Vielleicht finden wir in der Gästeliste des Trieb-Werks einen Schafhirten«, schlug Zollanger vor. »Wobei ich bezweifle, dass Schafhirten ihre Clubtickets online buchen. Aber wer weiß. Variante zwei: Wir arrangieren uns mit der Abteilung 21 des Landeskriminalamts, und ich kann Krawczik und Draeger nach Friedrichshain schicken, um einen Verdächtigen oder einen möglichen Zeugen einzusammeln.«
»Was sagen Sie da?«
»Die Telekom hat heute Morgen die Handydaten der Funkzelle geliefert, wo die Abrissplatte steht«, erklärte Zollanger. »In der fraglichen Zeit ist dort mehrmals telefoniert worden. Und zwar …«, er fischte den Ausdruck aus seinen Unterlagen, »… um 22:24 Uhr und um 23:03 Uhr. Die Verbindungen dauerten stets nur ein paar Sekunden, sind aber bereits zugeordnet. Wir haben die drei Anschlussteilnehmer.«
»Das ist ja großartig«, entfuhr es Frieser. »Worauf warten Sie also noch?«
»Das Problem ist: Den Anrufer kennt man schon bei uns. Die Nummer wird seit geraumer Zeit observiert.«
»Von wem?«
»Vom LKA. Abteilung 21. Betäubungsmittel. Der Besitzer der observierten Nummer panscht und vertreibt im großen Stil Partydrogen. Die Kollegen der 21 wollen nicht, dass wir den Burschen hochnehmen, weil sie über ihn an GBL-Produzenten in Belgien herankommen wollen, die offenbar halb Europa mit Partypillen beliefern.«
»Das kann doch nicht wahr sein. Und jetzt?«
Zollanger griff das nächste Blatt heraus und überflog die Angaben.
»Die Personen, die angerufen wurden, sind zwei männliche Individuen, deutsche Namen, beide wohnhaft in Prenzlauer Berg. Bisher nicht auffällig geworden. Aus den Personendaten zu schließen, sind es Studenten. Wir vermuten, dass die beiden entweder Kunden oder Händler sind. Wahrscheinlich haben sie sich am Donnerstagabend in diesem Plattenbau mit dem Dealer getroffen, um sich mit Ware zu versorgen. Der Zeitpunkt käme hin. Ab Donnerstag wird es voll in den Clubs.«
»Das heißt, sie waren in jedem Fall vor Ort und haben möglicherweise etwas beobachtet.«
»Ja. Könnte sein.«
»Dann knöpfen Sie sich wenigstens diese beiden gleich mal vor.«
»Auch davon ist LKA 21 überhaupt nicht begeistert.«
»Wer ist der zuständige Staatsanwalt?«
»Weber.«
»Ich kümmere mich darum.«
Zollanger schüttelte den Kopf, sagte aber nichts.
»Wie steht es mit den Handydaten am Tatort Nummer zwei?«, fragte Frieser.
»Fehlanzeige. An Tatort zwei wimmelt es von Übermittlungsdaten. Es gibt aber keine Überschneidung mit Funkdaten aus der Lichtenberger Funkzelle. Diese Daten helfen uns also nicht viel weiter.«
»Was ist eigentlich GBL?«, fragte Brenner, nachdem Zollanger aufgelegt hatte.
»Gamma-Butyrolacton«, antwortete Zollanger. »Habe ich aber auch heute erst gelernt. In der Szene nennen sie es Liquid Ecstasy. Ist aber Kloputzmittel.«
»Was?«
»Ja. Und Kloputzmittel fallen leider nicht unter das Betäubungsmittelgesetz. Man kann die Scheiße zweihundertliterweise direkt bei der BASF bestellen und zurechtmischen. Die Kids trinken das, um sich aufzupeppen. Ein bis zwei Milliliter, und du hast die beste Party deines Lebens. Oder deine letzte, wenn der Panscher patzt. Die Dosierung ist riskant.«
»Und einer dieser Dealer war Donnerstag Nacht am Tatort?«
Zollanger nickte. »Hör mal, Udo, ich muss kurz weg. Wenn Frieser anruft, sag ihm, wir kämen auch so weiter, und ich sei gegen vierzehn Uhr zurück.«
»Du meinst, Weber gibt kein grünes Licht für die beiden Studenten?«
»Nein. Sicher nicht. Oder kannst du dir einen Trick ausdenken, unter welchem Vorwand wir sie vorladen und befragen sollen? Die sind doch nicht bescheuert. Sobald wir die Abrissplatte erwähnen, wissen sie, dass wir ihre Handys auf dem Radar haben. Und sofort weiß es der Panscher. Nein. Ich kann mir sowieso nicht vorstellen, dass die drei etwas wissen, was uns weiterhilft. Bis nachher.«
Zollanger stand auf, nahm seinen Mantel vom Haken und verließ sein Dienstzimmer in Richtung Fahrstuhl. Das gestrige Gespräch mit Elin Hilger ging ihm noch immer im Kopf herum.
Er hatte ihr hinterhergeschaut, wie sie das Café verlassen hatte und Richtung Hansaplatz verschwunden war. Ihr Teeglas stand noch da, halb leergetrunken. Sonst hatte sie ja nichts gewollt. Warum war sie ausgerechnet jetzt hier aufgetaucht? Was würde sie als Nächstes unternehmen? Viel konnte sie nicht tun. Ihn würde sie vermutlich nicht noch einmal aufsuchen. Ihre Baumstammfotos zur Staatsanwaltschaft schicken? Das würde nicht viel bewirken. Solange sie keinen Anwalt einschaltete, war nicht zu erwarten, dass irgendjemand von ihren privaten Ermittlungen überhaupt Kenntnis nehmen würde. Aber dieses Mädchen war nicht zu unterschätzen. Sie war ein merkwürdiger Typ mit ihrem sehr hübschen Gesicht, das gar nicht zu der restlichen Erscheinung passte. Als sei es ihr lästig.
Er war noch eine halbe Stunde sitzen geblieben und hatte seinen Blick teilnahmslos durch das Foyer der Akademie der Künste spazieren lassen. Unweit des Eingangs war sein Blick dann an ein paar alten Ausstellungsplakaten hängengeblieben. Die großformatigen Drucke mittelalterlicher Fresken hatten ihn regelrecht angestarrt. Und da war ihm dieser unheimliche Gedanke gekommen. Das Lamm. Der Ziegenkopf. Kam ihm das nicht bekannt vor?
Er verließ das Dienstgebäude, ging die paar Schritte bis zur Kurfürstenstraße und winkte ein Taxi heran.
»Zur Staatsbibliothek bitte.«
Der Wagen fädelte sich in den Verkehr ein. Er wurde einfach nicht schlau aus dieser Stadt. Wenn man darin herumfuhr, hatte man das Gefühl, als lebten hier nur Vollidioten. Oder als gingen zumindest die Werbetexter davon aus, dass nur Kretins ihre Anzeigen lasen. Geiz ist geil, rülpste ihm ein Banner entgegen. Ich bin doch nicht blöd, furzte das nächste. Der neueste amtliche Slogan für die Stadt war schlechterdings genial. Arm aber sexy. Er fragte sich, was nur den Erfolg dieses blökenden Mantras ausmachte. Mit welchen anderen Slogans war der Zeitgeist wohl schwanger gegangen, bevor er mit dieser teuflischen Missgeburt niedergekommen war? Dumm aber dufte? Verkackt aber knorke? Verarscht aber Party? Strohdoof aber happy? Wenigstens war seit dem Börsenkrach endlich die feiste Visage seines ehemaligen Lieblingsschauspielers aus dem Stadtbild verschwunden. Wenn Zollanger allerdings die Augen schloss, sah er sie oft noch vor sich, riesengroß an allen Wänden der Stadt, wo diese Kanaille mit aasigem Lächeln dem Volk empfohlen hatte, die T-Aktie zu zeichnen.
Wenige Minuten später tauchte der beige schimmernde Bibliotheksbau mit seiner Paillettenfassade vor ihm auf. Aber Zollanger nahm ihn kaum wahr. Er sah etwas anderes. Die umwickelten Hinterbeine eines Lamms, das schwarze, reißfeste Textilklebeband und die daraus hervorstehende Messerklinge. Dass ausgerechnet er in diesem Fall ermitteln sollte! Ja, dass vielleicht er selbst gemeint war! Es wäre die verrückteste Erklärung von allen. Und zugleich die plausibelste.
Obwohl er die Bücher schon vor zwei Stunden per Internet bestellt hatte, waren die Bände noch nicht an der Buchausgabe angekommen. Außenstandort, meldete der Computer auf seine Nachfrage an einem der Terminals in der Eingangshalle. Ausgabe Leihstelle ab 12:30 Uhr.
Er verbrachte die Wartezeit damit, in der Cafeteria der Bibliothek einen Kaffee zu trinken. Das Krangewirr auf dem Potsdamer Platz war fast verschwunden, ebenso wie die Abraumhalden zwischen den fast fertiggestellten Bürotürmen. Zollangers Blick verlor sich rasch zwischen vereinzelt noch herumstehenden Schuttmulden, die sich in den nagelneuen Glasfassaden spiegelten. Aber er nahm sie gar nicht recht wahr, denn das Gebäude, das er vor sich sah, war viele hundert Jahre alt und befand sich über tausend Kilometer entfernt. Er schloss die Augen und versuchte, in Gedanken darin herumzuspazieren. Es war doch erst ein halbes Jahr her, dass er dort gewesen war. Aber die Einzelheiten waren zu verschwommen. An die Ziege konnte er sich erinnern, die der zentralen Figur des Wandgemäldes zu Füßen gelegen hatte. Daneben waren drei weitere Figuren zu sehen gewesen. Und das Lamm? Eine der Figuren hatte es auf dem Schoß gehabt. Aber welche war es gewesen. Tyrannis? Fraus? Proditio? Das waren die Namen, die ihm jetzt wieder einfielen. Doch wozu gehörte das Lamm?
Als er aus seiner Grübelei wieder erwachte, war es schon Viertel vor eins. Sein Kaffee stand unberührt vor ihm. Er nippte daran, schob das lauwarme Zeug von sich weg und ging zur Leihstelle. Die großformatigen Bände erwarteten ihn auf einem der Metallregale. Er hatte vorgehabt, sie sich hier anzuschauen. Aber jetzt änderte er seine Meinung. Er fuhr in seine Wohnung, ging in sein Arbeitszimmer und legte alles auf dem Schreibtisch ab.
Er brauchte das Wandgemälde nicht lange zu suchen. Band II der Ausgabe widmete ihm ein ganzes Kapitel. Schon der erste Blick auf die beidseitige Abbildung bestätigte ihm seine Ahnung: Da war Tyrannis, die zentrale Figur mit blauem Mantel und goldfarbener Schärpe. Zu ihren Füßen kauerte die Ziege. Die zweite Figur links der Tyrannenfigur hielt das Lamm. Proditio, stand auf dem Fries dahinter. Brav saß das Lamm auf dem Schoß der Figur, die Unschuld selbst. Doch das Tier hatte keine Hinterbeine. Stattdessen begann sich der Leib dort zu deformieren. Die Figur, die das Lamm auf dem Schoß hielt, sah davon nichts, war ahnungslos, dass kurz hinter der Stelle, wo ihre Hand das weiche Fell kraulte, der Lammkörper schwarz und hart wurde, sich verjüngte, einschnürte, krümmte, im Rücken der Figur aufragte, um dort in einem giftigen Skorpionstachel zu enden, der im nächsten Moment zustechen würde.
Das war also tatsächlich an ihn gerichtet, dachte Zollanger mit einer Mischung aus Schaudern und Respekt. Proditio. Verrat!
Er erhob sich, ging im Zimmer auf und ab und blieb schließlich unschlüssig vor seinem Aktenregal neben der Tür stehen. Billroth. Zieten. BIG. Hilger. Wenn er das nur endlich von der Seele hätte. Er kannte die Dokumente so gut wie auswendig. Er hatte ja fast ein Jahr lang gesammelt. Aber wozu? Warum hatte er sich überhaupt so intensiv mit Anton Billroths Hinterlassenschaft beschäftigt? Um über seinen Ausraster hinwegzukommen? Um sich etwas zu beweisen? Er wusste doch, dass er nichts unternehmen würde. Es war sinnlos. Die Sache war zu groß. Zu unübersichtlich. Selbst wenn das Mädchen jetzt darin herumstocherte. Was würde schon dabei herauskommen. Verständlich, dass sie den bizarren Spuren ihres komplizierten Bruders folgte. Aber was konnte sie schon bewirken? Wenn nicht einmal er selbst verwertbare Beweise gefunden hatte. Oder sollte er sie zu ihrer eigenen Sicherheit im Auge behalten? Hatte ihr Bruder ihr möglicherweise Informationen gegeben?
Geschwister!, dachte er grimmig. Besser, man hatte keine.
Er zog den Ordner mit der Aufschrift »Zieten« halb heraus und stieß ihn dann mit einer Mischung aus Wut und Resignation geräuschvoll wieder an seinen Platz zurück. Dann ging er an seinen Schreibtisch und starrte mit zusammengepressten Lippen das Schaf mit dem Skorpionschwanz an. Was immer er jetzt auch tat: Er hatte ein verdammt großes Problem am Hals.