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Zollanger hatte sich für seine Zigarettenpause in die siebte Etage zurückgezogen. Aber selbst hier verfolgte ihn dieses Ding. Er sah es vor sich, ganz gleich, wohin er schaute, wie es dort oben auf dem Boden lag, gut ausgeleuchtet, wie ein verdammtes Kunstwerk. Er konnte seine Kollegen im oberen Stock gut hören, wenn sie sich etwas zuriefen oder Material bewegten. Findeisen war dabei, letzte Fotos zu schießen. Draeger ordnete sichergestellte Spuren.

Zollanger hatte seinen weißen Schutzanzug geöffnet und die Handschuhe ausgezogen. Schade, dachte er, dass die Anzüge nicht über die Augen reichten. Auch nach nun fast vier Stunden verstörte ihn der Anblick immer noch. Ja, es schien ihm sogar durch die Betondecken hindurch hinterherzustarren.

Er blickte in das Schneetreiben hinaus und rauchte. Berlin-Lichtenberg lag sieben Stockwerke unter ihm, aber durch das Schneegestöber war die Sicht schlecht. Die Dächer der Türme am Frankfurter Tor waren schemenhaft zu erkennen. Der Alex war verschwunden. Wenn es früher zu schneien begonnen hätte, wäre das von Vorteil gewesen. Wer immer das Ding hier deponiert hatte, hätte wenigstens Fußspuren hinterlassen. So war der Schnee nur ein Störfaktor.

Er spürte, dass jemand neben ihn getreten war. Es war Udo Brenner.

»Willst du auch eine?«, fragte Zollanger, griff in seine Manteltasche und nestelte ein Päckchen Club-Zigaretten hervor.

»Frühstück wär’ mir so langsam lieber.«

»Unten gibt’s Kaffee.«

»Ohne Fahrstuhl. Nee danke.«

Du mit deinen dreiundfünfzig wirst das ja wohl noch schaffen, dachte Zollanger, sagte aber nichts.

»Warum wohl ausgerechnet acht?«, fragte er stattdessen.

»Das wundert dich?«, gab Udo Brenner zurück. »Sonst nichts?«

Zollanger ließ seine Zigarette auf den rauhen Betonboden fallen, trat sie aus und steckte fröstelnd die Hände in seine Manteltaschen. Brenner hatte recht. Vor dem Frühstück schmeckten die Dinger nicht besonders. Nicht mal seine geliebten alten Ostzigaretten.

»Ich frage mich nur: Warum schleppen die Typen das Ding ausgerechnet ins achte Stockwerk? Warum nicht ins zehnte oder dritte? Es sieht doch überall gleich aus. Alle Wände weg. Alle Fenster. Rohbau sozusagen. Hätte es der dritte Stock nicht auch getan?«

Brenner zuckte mit den Schultern. »Du meinst also, es waren mehrere Männer?«

Knipste Findeisen da oben immer noch herum? Digitaltechnik, dachte Zollanger. Er war in einer anderen Welt groß geworden. Der Welt des Mangels. Da überlegte man, bevor man Bilder schoss, und knipste nicht einfach besinnungslos drauflos. Was nützten ihm Hunderte von Fotos von einem Torso?

»Frauen waren es sicher nicht«, sagte er.

»Warum?«

»So eine Scheiße macht keine Frau. Und das Ding wiegt gut und gerne vierzig Kilo.«

»Rollkoffer«, entgegnete Brenner. »Kein Problem heutzutage.«

»Ja. Da hast du auch wieder recht. Kein Problem.«

»Du traust Frauen zu wenig zu.«

Zollanger erwiderte nichts. Ein dunkelgrüner Kleinbus kam auf einmal unten auf der Straße herangekrochen. Die weiße Aufschrift auf der Seite war aus der Entfernung nicht zu lesen, aber Zollanger wusste auch so, was darauf stand: Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin Berlin. Der Wagen schlich die Siegfriedstraße entlang, ein gut sichtbarer dunkelgrüner Kasten im bereits wieder schwächer werdenden Schneetreiben. Er kam neben den zwei Streifenwagen zum Stehen. Trotz des schlechten Wetters hatte sich eine kleine Traube von Schaulustigen gebildet, die immer wieder neugierig zu ihnen heraufschauten.

»Kriegen noch Genickstarre da unten«, brummte Brenner ungehalten. »Worauf warten die bloß? Leuchtreklame, oder was?«

Zollangers Handy klingelte.

»Ja?«

»Frieser hier. Wie siehts aus?«

»Wir sind bald fertig, haben aber nicht viel«, sagte Zollanger. »Der Notruf kam aus einer Telefonzelle Siegfried-/Ecke Bornitzstraße. Männliche Stimme.«

»Anonymer Anruf also.«

»Ja. Das Gebäude wird demnächst abgerissen. Angeblich treiben sich oft Obdachlose darin herum, die manchmal auch hier übernachten. Wir haben jede Menge Müll gefunden, der vielleicht etwas hergibt. So, wie das Ding zurechtgemacht ist, sollte es wohl auch gefunden werden.«

»Haben Sie die Telefonzelle untersucht?«

»Auf dem Hörer sind die Fingerabdrücke von halb Lichtenberg. Ein Kondom lag auch in der Kabine. Gebraucht. Haben wir sichergestellt.«

»Na prima«, bemerkte Frieser. »Wir sollten in dieser Stadt dazu übergehen, es als sonderbar zu vermerken, wenn keine gebrauchten Kondome herumliegen. Sonst irgendwelche Auffälligkeiten?«

»Nein. Abgesehen von einem weiblichen Torso, in den jemand einen Gewindestab hineingerammt hat, um einen Ziegenkopf darauf aufzuspießen, ist hier nichts auffällig.«

Der Staatsanwalt verstummte für einen Augenblick. »Ich frage ja nur«, sagte er dann. »Hat Weyrich sich schon geäußert? Irgendwelche ersten Erkenntnisse, die uns helfen können?«

»Er vermutet, dass das Opfer in gefrorenem Zustand zerlegt wurde. Genaueres will er aber erst sagen, wenn er die Leiche im Institut untersucht hat. Der Wagen vom Institut ist gerade gekommen. Weyrich sitzt unten im Mordbus und trinkt Kaffee. Wollen Sie mit ihm sprechen, bevor er in die Invalidenstraße fährt?«

»Nein. Wir sehen uns ja nachher sowieso alle dort. Wann fahren Sie los?«

»Innerhalb der nächsten halben Stunde, hoffe ich. Ein paar Leute sind noch unterwegs und befragen die Anwohner, ob irgendjemand etwas gesehen hat. Sobald der Torso weg ist, brechen wir auf.«

»Also noch keinerlei Anhaltspunkt für eine Ermittlungsrichtung?«

»Wie ich schon sagte. Außer einem weiblichen Rumpf mit einem Ziegenkopf haben wir nicht viel.«

Brenner drehte die Augen zum Himmel, verbiss sich aber einen Kommentar. Staatsanwälte.

»Was sagen wir der Presse, falls jemand nachfragt?«, fragte Zollanger und lauschte in sein Handy nach einer Antwort. Es dauerte einige Sekunden, bis Frieser sich äußerte.

»Erst einmal gar nichts. Wir warten auf Weyrichs Bericht. Bisher wissen wir überhaupt nicht, womit wir es zu tun haben. Bis später.«

»Wo er recht hat, hat er recht«, sagte Zollanger.

Sie kehrten in den achten Stock zurück. Hinter sich hörten sie bereits die Schritte der Leute aus der Gerichtsmedizin. Das Ding lag noch immer an der gleichen Stelle. Zollanger ging langsam darauf zu.

Als sie den Rumpf heute Morgen gefunden hatten, lehnte er an einem der Betonpfeiler des Plattenbaus. Jetzt lag er auf einer hellen Plastikplane. Die Schnittstellen, wo die Oberschenkel abgetrennt worden waren, konnte man gut erkennen. Ebenso, dass es sich um den Rumpf einer Frau handelte. Abgesehen von den entsetzlichen Wunden, wo die Gliedmaßen entfernt worden waren, wies der Rumpf keine sichtbaren Verletzungen auf. Weder am Geschlecht noch an den Brüsten waren Spuren von Gewaltanwendung zu sehen. Ein Umstand, den Zollanger mit Erleichterung zur Kenntnis nahm. Immerhin nicht das. Keine zerschnittenen Geschlechtsteile. Keine Anzeichen von Folter oder so etwas. Oder vielleicht doch? Oder noch etwas Schlimmeres?

Wie alt mochte die Frau gewesen sein? Zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig, hatte Weyrich spontan geschätzt. Und Weyrich hatte viel Erfahrung. Aber half ihnen das? Zollangers Blick wanderte über den Torso hinauf bis zu der Stelle, wo alle Logik und Erfahrung abrupt endeten. Weyrich hatte den Ziegenkopf, der anstelle des menschlichen Hauptes auf dem Hals saß, ein wenig nach oben geschoben, um die Befestigung sichtbar zu machen. Zollanger ging in die Hocke und blickte von unten in den Schädel des getöteten Tieres hinein. Er sah Wirbelknochen, einen Teil der Luftröhre, das Zungenbein und dazwischen eine grau schimmernde Gewindestange, die aus dem Schädel nach unten herauswuchs und tief in den Torso hineingerammt worden war. Eine banale Gewindestange, wie man sie in jedem Baumarkt kaufen konnte. Die Stoffbahnen, mit denen der Rumpf drapiert gewesen war, befanden sich bereits in Plastikbeuteln. Zollanger musterte die Beutel, die dunkelblaue Farbe des einen Tuches und die mattgoldene des anderen.

Zwei Männer mit einer Blechwanne erschienen auf dem Treppenabsatz. Zollanger erhob sich wieder und trat zur Seite. Von geräuschvollem Rascheln begleitet, wurde die Plastikplane über dem Ding zusammengefaltet. Die Männer wuchteten das Paket in die Blechwanne hinein.

Zollanger warf Brenner einen kurzen Blick zu. Der nickte nur. Er dachte wohl das Gleiche.

Rollkoffer?

Zollanger und Brenner folgten den Männern mit etwas Abstand nach unten. Als sie das Erdgeschoss erreichten, kam Sina Haas auf sie zu und reichte ihnen einen Becher dampfenden Kaffee.

»Danke, Sina. Nett von dir.«

»Keine Ursache, Chef. Ihr solltet schnell trinken, sonst gibt’s nur Schneewasser.«

Sina war der angenehmste Neuzugang des letzten Jahres, dachte Zollanger. Eine Frau so ganz nach seinem Geschmack. Charmant ohne jede Koketterie. Sie stammte aus Dresden, hatte ein paar Semester Psychologie studiert, das Studium jedoch aus Geldnot abgebrochen. Sie war ehrgeizig und dank ihrer psychologischen Kenntnisse äußerst kreativ bei der Fallanalyse. Sie hatte im Grunde nur zwei Fehler: Sie war etwa dreißig Jahre zu jung für ihn und außerdem fest liiert mit einem sympathischen und gutaussehenden Kinderpsychologen.

Zollangers Handy klingelte erneut.

»Ja.«

»Hier ist noch mal Frieser.«

»Was gibt’s?«

»Sind Sie noch in Lichtenberg?«

»Ja. Aber schon so gut wie weg. Wir sind auf dem Weg ins Büro.«

»Fahren Sie bitte sofort nach Tempelhof. Borsigzeile 44.«

»Herr Frieser. Wir haben vier Stunden Auswertungsangriff hinter uns.«

»Ja. Deshalb müssen Sie sofort hin. Es ist gerade noch so ein Ding gefunden worden.«

»Was?«

»Ja, es klingt jedenfalls so ähnlich. Ich wiederhole: Borsigzeile 44. Es ist ein Nachtclub namens Trieb-Werk.«

Udo Brenner und Sina Haas schauten Zollanger neugierig an.

»Was ist los?«, fragte Sina.

»Frieser. Wir haben noch so etwas. In Tempelhof.« Zollanger öffnete die Wagentür. »Udo. Sag Weyrich Bescheid. Er und seine Leute sollen gleich mitkommen.«