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Die Stille im kleinen Sitzungsraum des Verwaltungsgebäudes in der Klosterstraße war mit Händen greifbar. Die Anwesenden starrten fassungslos auf die Aufnahmen, die Jochen Friesers Laptop im Fünf-Sekunden-Takt auf die große Leinwand am Ende des Raumes projizierte. Britta Jungblut schloss mehrfach schockiert die Augen. Zietens Miene war eisig. Die drei Staatssekretäre neben Britta Jungblut wirkten wie erstarrt. Als die Projektionen zwischen den Torsi und den Detailaufnahmen des Lorenzetti-Gemäldes zu alternieren begannen, steckten zwei der Staatssekretäre die Köpfe zusammen und begannen, sich leise flüsternd zu unterhalten. Doch als die Großaufnahme des Schädels von Torso III auf der Leinwand erstrahlte, verstummte das Gespräch wieder. Frieser befand, dass er die Problematik ausreichend veranschaulicht hatte, und stoppte das Programm.
»Die Pressekonferenz ist morgen früh um zehn Uhr«, begann er. »Wir haben also nicht mehr sehr viel Zeit. Sie kennen jetzt die Fakten. Also. Was soll ich der Presse sagen?«
Britta Jungblut meldete sich als Erste zu Wort.
»Was ist denn bisher bekannt geworden? Haben wir überhaupt eine Chance, diese Sache klein zu halten?«
Frieser hatte darüber lange genug nachgedacht, um gleich antworten zu können: »Bis auf den tragischen Ausgang ist der Fall Zollanger eine innere Angelegenheit. Die Torso-Funde sind bis jetzt nicht an die Presse gelangt. Die Entführung von Frau Zieten ist bisher auch nicht an die Öffentlichkeit gekommen, und die Familie hat ein berechtigtes Interesse daran, dass das auch so bleibt. Allein der Vorfall in Reinickendorf hat sehr viel Presseaufmerksamkeit erregt. Zwei Todesopfer. Eine schwer verwundete Tatverdächtigte und ein ebenfalls tatverdächtiger Asylant, beide als asozial einzustufen. Der ganze Ablauf wirft sehr viele Fragen auf. Hauptkommissar Zollanger hat sein Ende sicher nicht so geplant. Aber seine ganze Aktion war offenbar darauf angelegt, auf komplizierte politische Vorgänge hinzuweisen, über die Herr Zieten Ihnen gleich noch Genaueres sagen wird. Nach dem Stand unserer Ermittlungen wusste er sehr wohl, dass ihm ein privater Ermittler auf den Fersen war. Wie ich berichtet habe, hat Herr Zollanger in seiner Garage mehrmals geschossen. Wir wissen nicht, auf wen. Aber wir vermuten, dass ihn die gleiche Person verfolgte, die ihn später in Reinickendorf erneut aufgespürt hat. Dort jedoch trug Herr Zollanger seine Dienstwaffe nicht mehr bei sich. Sie ist auch nirgendwo in diesem Keller gefunden worden. Es ist also durchaus denkbar, dass Herr Zollanger seinen Tod bewusst einkalkuliert hat. Als den ultimativen symbolischen Akt sozusagen. Die Psychologin, die ihn behandelt hat, unterstützt diese Hypothese.«
Einer der Staatssekretäre schüttelte skeptisch den Kopf.
»Ist so etwas wirklich vorstellbar?«
Zieten kam Frieser zuvor. »Bis vor kurzem war unvorstellbar, dass ein paar Fanatiker vier Flugzeuge entführen und damit Kamikaze-Angriffe auf amerikanische Städte fliegen. Die Symbolwirkung solcher scheinbar sinnlosen Aktionen kann man gar nicht überschätzen. Und hier ist es ebenso oder könnte sich so auswirken.«
Der Vergleich wirkte ein wenig weit hergeholt, aber Zieten legte sofort nach.
»Meine Damen und Herren, ich fürchte, Sie begreifen die Tragweite der Situation noch immer nicht. Meinen Sie, ich habe im Nervenkrieg um die Entführung meiner Tochter so lange stillgehalten, weil ich mich vor irgendwelchen Klatschgeschichten gefürchtet hätte? Ich hatte Ihre Interessen im Auge, die Zukunft dieser ganzen Stadt. Sie alle standen oder stehen im Fadenkreuz dieses Mannes. Wenn Sie morgen der Presse auch nur den kleinsten Hinweis auf die wahren Motive dieses Hauptkommissars geben, so werden Sie eine öffentliche Debatte in Gang setzen, die Sie allesamt unter sich begraben wird. Das kann ich Ihnen garantieren.«
Britta Jungblut nickte ernst. »Können Sie bitte deutlicher werden, Herr Zieten? Meine Kollegen sind nicht so gut informiert.«
»Ja, das kann ich. Sie alle, vielleicht nicht Sie persönlich, aber Ihre Parteien, haben vor sechs Jahren beschlossen, dass diese Stadt nach vierzig Jahren Teilung und Schattendasein einen gewaltigen Sprung nach vorne machen soll. Sie haben unter anderem mich um Rat gefragt, wie so etwas finanziell zu bewerkstelligen sei. Wir sind hier unter uns, also darf ich Klartext sprechen. Wer da zur Bank kam und Milliarden wollte, war ein zerlumpter Habenichts. Ihre Stadt hätte einer realistischen Kreditprüfung niemals standgehalten. Und das wurde Ihnen damals auch gesagt. Aber Sie wollten das nicht einsehen. Also haben Sie Druck ausgeübt, massiven Druck auf allen Ebenen. Und Sie haben durchscheinen lassen, dass Sie auch bereit seien, verfassungsrechtlich fünfe gerade sein zu lassen, wenn es nur gelänge, auf das große Parkett zu kommen. Der Preis war Ihnen egal. Das Risiko, zwei oder drei zukünftige Generationen finanziell zu ruinieren, erschien Ihnen nicht zu hoch.«
Zieten schaute in die Runde. Die Gesichter von Britta Jungbluts Amtskollegen wirkten plötzlich noch irritierter als nach dem Anblick der Tatortfotos. Frieser war verblüfft über die Richtung, die Zietens Argumentation eingeschlagen hatte. Aber bevor er lange darüber nachdenken konnte, fuhr Zieten schon fort:
»Natürlich darf man die Euphorie nicht vergessen, die damals allenthalben herrschte. Der Größenwahn war ja epidemisch, auf den Finanzmärkten allgemein, sogar bei den einfachen Menschen, die plötzlich Wertpapiere kauften wie die Verrückten, angesteckt vom allgemeinen Fieber. Die Gier war überall maßlos. Bis zum März vorletzten Jahres, dem Jahr des größten und übrigens bestverschwiegenen Börsencrashs der Geschichte. Ich will es kurz machen, meine Damen und Herren: Ihre Stadt ist bankrott. Sie haben durch Ihre Finanzpolitik eine Situation geschaffen, die Sie auf legalem Weg nicht mehr werden meistern können. Sie stehen wenige Schritte vor dem Abgrund, und Sie haben gar keine andere Wahl, als Ihre Bevölkerung auf Jahrzehnte hinaus schrittweise massiv zu enteignen.«
Einer der Staatssekretäre schnaubte aufgebracht, aber Zieten ließ ihn nicht zu Wort kommen.
»Ich werde mir Ihre Einwände gerne anhören. Aber lassen Sie mich bitte aussprechen. Diese Enteignung kann man klug einfädeln, und das habe ich im Auftrag der Beteiligten auch getan. Furchtbare Wahrheiten kann man durchaus so verpacken, dass das Opfer stillhält. Man muss ihm nur klarmachen, dass jeglicher Widerstand den Schmerz steigert. Und dafür ist die Zeitfrage von zentraler Bedeutung. Sie müssen verhindern, dass irgendetwas von diesen Vorgängen zu früh an die Öffentlichkeit gelangt. Verstehen Sie das?«
»Ihre Vorwürfe sind unerträglich«, stieß Staatssekretär Weber entrüstet aus.
»Vorwürfe? Ich mache Ihnen doch keine Vorwürfe, meine Herren. Sie haben doch nur getan, was der Wähler von Ihnen gefordert hat. Und ich führe es aus. Wir sind die armen Schweine, die den Kopf hinhalten müssen für eine Gesellschaft, die uns mit ihren maßlosen Ansprüchen vor sich hertreibt. Wir tun Dinge, für die keiner von uns wirklich die Verantwortung übernehmen kann, sollten sie einmal schiefgehen. Aber man zwingt uns dazu. Und wir tun es. Aus Pflicht. Im Namen von Sicherheit und Wohlstand nehmen wir Risiken in Kauf, die jenseits jeglicher Verhältnismäßigkeit liegen. Wir müssen es tun, weil uns die Volksmeute andernfalls zerreißt. Das ist die traurige Wahrheit. Sie sind sowohl Täter als auch Opfer, genauso wie ich.«
Der Protest, der sich auch auf den Gesichtern der anderen angedeutet hatte, fiel zunächst wieder in sich zusammen.
»Lassen Sie mich Klartext reden«, hob Zieten wieder an. »Die Volkskreditgesellschaft VKG sitzt durch ihre Immobilientochter Treubau TBG auf faulen Krediten in Höhe von gegenwärtig fünf bis zehn Milliarden Euro. Da die Fonds, in denen diese Kredite schlummern, eine Laufzeit von fünfundzwanzig bis dreißig Jahren haben, können diese Verluste leicht auf dreißig Milliarden anwachsen.«
Die Staatssekretäre wurden blass. Weber reagierte genau wie Jochen Frieser zwei Wochen zuvor: »Entschuldigen Sie, Herr Zieten. Sie meinen doch wohl Millionen?«
»Nein, Herr Weber. Milliarden. Das Kreditrisiko ist größer als der gesamte Landeshaushalt. Daher sprach ich ja auch von einem Abgrund.«
»Aber … wie um alles in der Welt konnte das passieren?«
»Das jetzt aufzuklären ist ein Luxus, den wir uns nicht leisten können«, sagte Zieten. »Sie müssen dem Eisberg ausweichen. Danach können wir die Logbücher studieren. Die VKG ist ein Zusammenschluss von öffentlichen und privaten Banken. Wenn die VKG zusammenbricht, haftet das Land. Das war damals die Voraussetzung dafür, dass die VKG international überhaupt ins Rennen gehen konnte. Diese Konstruktion ist natürlich verfassungswidrig. Solange sie erfolgreich war, und das war sie ja die letzten Jahre, hat niemand Fragen gestellt. Das wird sich sehr schnell ändern, wenn das nächste Jahresergebnis veröffentlicht wird.«
Zieten spürte, dass seine Zuhörer ihm nicht wirklich folgen konnten.
»Der Zug entgleist auf jeden Fall diesen Sommer«, wechselte er zu einem Bild. »Sie müssen entscheiden, ob Sie ihn auf den leeren Feldern vor der Stadt stoppen oder ihn ungebremst ins Zentrum hineinrasen lassen. Um den Zug auf dem leeren Feld zu stoppen, müssen Sie die Stadtbewohner jedoch zwingen, bildhaft gesprochen, ihr gesamtes Hab und Gut dort auszuschütten. Wenn Sie das zu früh fordern, wird man Ihnen entweder nicht glauben, oder man wird versuchen, sich davor in Sicherheit zu bringen. Wenn Sie zu lange warten, ist es zu spät. Sie müssen diesen Rettungswall aufschütten. Der richtige Zeitpunkt ist dabei alles. Nur dann wird der Überlebensreflex die gewünschte Reaktion zum richtigen Zeitpunkt auslösen.«
Die Diskussion, die sich nun entspann, dauerte fast drei Stunden. Da niemand im Saal letztgültige Entscheidungsbefugnisse hatte, wurden die Gespräche öfter unterbrochen, da per Telefon Weisungen eingeholt werden mussten. Jochen Frieser saß die meiste Zeit stumm da und versuchte, aus den immer komplizierter werdenden Diskussionen zwischen Zieten und den Staatssekretären herauszufiltern, welche Strategie er sich für die Pressekonferenz am nächsten Tag überlegen sollte. Die Journalisten würden ihn mit Fragen nur so löchern. Und er hatte auf keine einzige Frage eine klare Antwort. Frieser konnte regelrecht spüren, wie über ihren Köpfen hektisch nach einer Lösung gesucht wurde. Aber selbst dort oben schien man heillos zerstritten zu sein, wie man mit der Sache nun weiter umgehen sollte. Die Staatssekretäre gingen laufend hinaus, um zu telefonieren. Und Frieser wollte gar nicht wissen, welche Gespräche sonst noch geführt wurden, während sie hier saßen und darauf warteten, klare Anweisungen zu bekommen.
Schließlich war es so weit. Kurz vor einundzwanzig Uhr wurde er selbst ans Telefon gerufen. Der Oberstaatsanwalt war in der Leitung und erklärte ihm, was er zu tun hatte. Frieser machte sich so gut er konnte Notizen, obwohl ihm die Hand zitterte. Glaubten die wirklich, dass sie damit durchkommen würden? Zollanger ein geisteskranker Einzeltäter? Der unbekannte Tote ein privater Ermittler? Und das Mädchen? Mit dem Mädchen würde man reden müssen. Fürs Erste sei sie zufällig am Tatort gewesen, genauso wie der bosnische Asylantenjunge. Da beide unter Mordverdacht stünden, brauche er zu ihnen keine Angaben zu machen. Später werde man sehen, wie mit ihnen zu verfahren sei. Die ganze Strategie war so solide wie ein Haufen Mikadostäbe. Und er steckte mittendrin.
»Ich kann das nicht für Sie machen, Frieser. Wir dürfen das jetzt nicht zu hoch hängen. Also: Bleiben Sie vage und kochen Sie das Ganze herunter auf den gemütskranken Hauptkommissar.«