52

Sie saß ratlos auf der Treppe, bis es sieben Uhr schlug. Es war kalt. Außerdem bekam sie allmählich Hunger. Sie dachte sehnsüchtig an den Rest Linsensuppe, der in Erics Kühlschrank stand.

Sie schlich die vier Treppen hinunter und verharrte auf dem Treppenabsatz über Erics Wohnung. Sie wartete einige Minuten. Als sie nichts hörte, ging sie ein paar Stufen abwärts und musterte misstrauisch die Tür. Nichts Verdächtiges. Rasch zog sie den Schlüssel hervor, steckte ihn so geräuschlos wie möglich ins Schloss, öffnete, huschte hinein, schloss die Tür wieder und lehnte sich von innen dagegen.

Plötzlich spürte sie ein Vibrieren in ihrer Hosentasche. Sie zuckte nervös zusammen und zog das Handy heraus. Wo sind Sie? stand auf dem Display. Sie drückte die Botschaft weg, schaltete das Handy aus und steckte es wieder ein. Hatte dieser Bulle doch recht? Sollte sie nicht besser so schnell wie möglich von hier verschwinden?

Sie wagte nicht, das Licht einzuschalten, aber von draußen kam genügend Helligkeit ins Zimmer. Sie schlich in die Küche, öffnete den Kühlschrank, nahm den Topf mit dem Suppenrest und löffelte ihn kalt in sich hinein.

Die Mahlzeit bekam ihr nicht besonders gut. In der U-Bahn wurde ihr übel. Oder war es die Angst, die langsam heraufdämmernde Einsicht, dass sie wirklich in Gefahr sein konnte, die für das flaue Gefühl in ihrem Magen verantwortlich war? Das Bild dieses Kommissars, der ohne Warnung auf die beiden Verfolger in seiner Garage geschossen hatte, ließ ihr keine Ruhe. Berufskiller, hatte er gesagt. Auftragsmörder. Aber warum war der Bulle mit ihr geflohen, anstatt Verstärkung zu rufen? Er sei seit dreißig Minuten kein Polizist mehr, hatte er gesagt. War das sein Ernst? Sollte sie zur Polizei gehen? Oder aus Berlin verschwinden, wie er ihr geraten hatte?

Sie schaute sich misstrauisch um, zwei Plastiktüten mit ihren restlichen Habseligkeiten und Erics Festplatten zwischen die Beine geklemmt. Die U-Bahn war gut gefüllt. Niemand beachtete sie, aber ihr kam mittlerweile jedes Gesicht verdächtig vor. Nach der Haltestelle Leopoldplatz bereute sie es fast, sitzen geblieben zu sein. Sie vermied jeglichen Blickkontakt mit den Gestalten, die auf den anderen Sitzen herumhingen. Die meisten waren glücklicherweise ohnehin mit ihren Handys beschäftigt. An der Osloer Straße stieg sie um, fuhr bis Wittenau und ging den restlichen Weg zu Fuß. Immer wieder schaute sie sich ängstlich um, ob ihr jemand folgte. Aber ihr Verdacht war wohl unbegründet.

Als sie gegen acht Uhr die Kiezoase erreichte, war sie geschlossen. Sie ging um das Gebäude herum. Den Hintereingang schloss Jojo Jesus nie ab, damit der Kühlschrank nachts für Straßenkinder erreichbar blieb, die sich tagsüber hier nicht blicken ließen. Sie schaute durch die regennasse Fensterscheibe ins Innere. Der Kühlschrank stand offen. Noch immer kaputt. Sie ging zur Hintertür und rüttelte daran. Verschlossen. Heute ging offenbar alles schief.

Sollte sie warten? Hier war es zu kalt. Sie hob ihre Plastiktüte auf und setzte sich wieder in Richtung Vordereingang in Bewegung. Da sah sie die beiden Männer. Sie standen auf der anderen Straßenseite hinter einer Reihe geparkter Autos, unterhielten sich und schauten nicht zu ihr herüber. Aber Elin spürte sofort, dass sie dort nicht hinpassten. Sie wich zurück, ging wieder hinter die Station und begann zu rennen. Wohnblock D lag etwa zweihundert Meter entfernt. Sie sprang über eine niedrige Buchshecke, kauerte sich dahinter zusammen und schaute zurück. Es verging keine Minute, bis einer der beiden Männer am Hintereingang der Sozialstation auftauchte und sich suchend umsah. Sie kroch auf allen Vieren nach rechts weg bis zu einer Gruppe von Mülltonnen, die ihr erneut Deckung gaben. Von hier sah sie, dass der zweite Mann nun ebenfalls erschienen war und auf die Buchshecke zumarschierte.

Sie hatte keine Wahl. Zwischen ihrem Versteck und dem Kellereingang zu Block D lag ein großes Stück offenes Gelände. Hier zu warten war sinnlos. Die beiden würden sie finden. Und dann? Welchen Auftrag hatten sie? Sie hatte absolut keine Lust, das herauszufinden.

Sie rannte los. Sie meinte, in ihrem Rücken einen Ruf zu hören, aber durch ihr Keuchen war sie sich nicht sicher. Sie schaute sich nicht um. Natürlich hatten die beiden sie gesehen. Jede Sekunde zählte. Sie rannte über die Straße und von dort direkt zum Eingang von Block D. Dann schlug sie sich nach rechts und hielt auf die Treppe zu, die zu den Kellern hinabführte. Sie sprang die Stufen hinunter und trat gegen die Eisentür, wie Mirat es ihr vor ein paar Tagen vorgemacht hatte.

Die Tür sprang auf. Elin huschte hinein, schloss die Tür hinter sich und verschnaufte einige Sekunden. Völlige Dunkelheit umgab sie. Sie tastete den Türrahmen ab, erspürte den Lichtschalter und drückte auf die Taste. Mehrere Neonröhren begannen zu flackern und tauchten den Kellergang in kaltes Licht.

Sie prüfte die Tür. Ohne Schlüssel war sie nicht zu verriegeln. Die Abzweigung zur unteren Ebene befand sich am Ende des Kellerganges. Daran erinnerte sie sich noch. Und dort unten würde sie hoffentlich Mirat finden. Er musste ihr helfen. Sie ging ein paar Schritte den Gang entlang und musterte die Decke. Nach etwa zehn Metern fand sie, was sie gesucht hatte: Heizungsrohre. Sie zog ihr Handy aus der Hosentasche und schlug den Takt, den Mirat ihr vorgeführt hatte. Tata ta tata. Love Is In the Air. Dreimal. Viermal.

Sie schaute zurück zur Kellertür. War sie hier sicher? Oder war es genau umgekehrt, saß sie in der Falle? Wenn die Männer sie hier fänden! Sie schaute sich um. Aber der einzige Gegenstand, der als Waffe in Frage kam, war ein alter Besen, der neben der Kellertür an der Wand lehnte. Das Licht, durchfuhr es sie dann. Sie musste das Licht löschen. Sie rannte zur Tür, griff nach dem Besen und kehrte so schnell sie konnte zu der ersten Neonröhre zurück. Ein fester Schlag mit dem Besenstiel zertrümmerte die Röhre und ließ einen Teppich feiner weißer Glassplitter auf dem Zementboden zurück. Elin eilte weiter und zertrümmerte sämtliche Lichtquellen. Dann hielt sie wieder inne und wartete. War da jemand an der Tür? Sie starrte in die Dunkelheit, fühlte sich jedoch erst einmal wieder sicher. Sie schaltete das Handy ein. Das Licht des Handydisplays wirkte wie ein Scheinwerfer. Sie leuchtete ihre Umgebung ab. Die Abzweigung zum Untergeschoss lag nur noch ein paar Meter entfernt. Kein Lebenszeichen von Mirat.

Sie prüfte, ob das Handy Empfang hatte. Das Antennensymbol zeigte einen von fünf Balken. Die Nummer von Zollangers Textnachricht war noch gelistet. Sie rief die SMS-Funktion auf und schrieb rasch folgende Nachricht:

Wurde verfolgt. Zwei M. Bin in Reinkndrf im Keller v Hhaus hinter Sozstat Kiezoase. Block D! Bitte helfen! Schnell! Elin

Dreimal lehnte das es Handy mit einem quengelnden Piepston ab, die SMS zu senden. Erst nach dem vierten Versuch gelang es. Sie benützte das Handy weiter als Taschenlampe und ging auf die Abzweigung zu. Sie musste dort hinunter und Mirat finden. Und vielleicht auch … Sie hielt inne. War das nicht die Stelle? Sie leuchtete mit dem Handy die Heizungsrohre ab. Dort war die Vertiefung. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, griff mit der Hand in die Mauervertiefung hinein und bekam das Säckchen mit dem Zündkerzengranulat zu fassen. Dann griff sie tiefer in das Loch und umfasste den Griff der Steinschleuder. Im gleichen Augenblick hörte sie, dass jemand an der Eisentür rüttelte.