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Er war diese Strecke schon länger nicht mehr gefahren. Das Ostkreuz lag bereits hinter ihm, und die Bahn nahm Kurs auf die Außenbezirke von Berlin. Verfallene Industrieanlagen säumten die Strecke, manchmal dekoriert mit hoffnungsvollen Entwürfen von Büro-Lofts und Einkaufspassagen. Zwei Stationen später waren diese Chimären verschwunden, und es blieb bei verlassenen Fabrikhöfen mit eingeworfenen Scheiben und zerfressenen Fassaden.

Er fuhr bis Hirschgarten. Der anschließende Fußweg ins Allende-Viertel dauerte etwa fünfzehn Minuten. Eine Ladenzeile, die das letzte Mal, als er hier vorbeigekommen war, noch zwei Geschäfte beherbergt hatte, war inzwischen aufgegeben worden, ein Schaufenster war mit Brettern vernagelt. Ein anderes kündete davon, dass eine westdeutsche Supermarktkette hier demnächst eine Zweigstelle eröffnen würde. Invasion der Ossi-Snatcher hatte jemand auf die Scheibe gesprüht. Auf einem leeren Feld gegenüber spielten ein paar Jungs im Grundschulalter Fußball. Ein missglückter Pass beförderte den Ball vor Zollangers Füße. SPARKASSE stand auf dem Ball. Die beiden S hatte ebenfalls ein Sprayer bearbeitet und durch SS-Runen ersetzt. Zollanger trat den Ball zurück und setzte seinen Weg fort.

Er betrat eine Pizzeria, wählte einen Fensterplatz und bestellte, ohne die Karte anzuschauen, eine Pizza Napoli und eine große Cola. Er war der einzige Gast. Er holte sein Handy aus der Jackentasche und aktivierte es. Den PIN-Code der neuen Karte musste er erst auf einem Zettel nachschauen, den er in seinem Geldbeutel verwahrt hatte. Als das Gerät einsatzbereit war, wählte er eine Nummer, die er von einem anderen Zettel ablas. Aber der Anschluss funktionierte nicht. Teilnehmer nicht erreichbar, lautete die Botschaft der Computerstimme. Als nächstes wählte er Elins Nummer. Die funktionierte immerhin. Aber sie antwortete nicht. Als der Anrufbeantworter ansprang, drückte er das Gespräch weg und legte das Handy missmutig neben sich.

Er musste eine Entscheidung treffen. Er war hier herausgefahren, weil es der unwahrscheinlichste Ort war, der ihm in den Sinn gekommen war. Hier würde ihn vorerst niemand suchen, und er konnte überlegen, was er tun sollte. Aber hatte er überhaupt eine Wahl? Konnte er jetzt noch zurück?

Ozols hieß also der Mann, der ihm aufgelauert hatte. Merkwürdiger Name. Und geschickt hatte ihn dieser Zieten. Nicht Marquardt oder Sedlazek. Nein. Die graue Eminenz selbst war hinter ihm her. Wie war der Mann nur so plötzlich auf ihn gekommen? Zollanger betrachtete kurz sein Spiegelbild im Fenster. Nun, es war ohnehin gleichgültig. Jetzt hatten sie das Band, das er in der Tasche gehabt hatte. Und es war eine Frage von Stunden, bis Frieser es ausgewertet haben würde und die ganze Meute auf ihn losließ.

Die Pizza kam. Zollanger nahm die Hände vom Tisch, um dem Teller Platz zu machen. Er aß einige Stücke und versuchte, den Gedankenstrom in seinem Kopf zu stoppen. Dann ließ er sein Besteck sinken und blickte ratlos vor sich hin. Was hatte er getan! Er war erledigt. Er stellte sich Sina und Udo vor. Schauten sie sich vielleicht gerade jetzt die Videoaufnahmen aus der Garage an? Waren die Mietwagendaten aus Hamburg mittlerweile eingegangen? Es war gar keine Frage von Stunden mehr. Alles war längst geschehen. Die Beweislast war erdrückend. Frieser konnte gar nicht anders, als den ganzen Apparat gegen ihn in Gang zu setzen. Und seine Kollegen? Was würden sie über ihn denken? Sina und Udo würden vielleicht noch zweifeln und versuchen, zu ihm zu halten. Zunächst. Die anderen nicht. Vor allem Krawczik würde sich bestätigt sehen. Der Gedanke amüsierte ihn ein wenig.

Der arme Krawczik. Diese tragische Figur, die stets recht hatte und doch immer falsch lag. Ach, im Grunde war es ihm gleichgültig, was seine Kollegen von ihm dachten. Mit Ausnahme von Sina und Udo.

Er ließ die Pizza halb gegessen stehen, trank sein Glas aus, bezahlte und verließ das Lokal. Ein leichter Regen hatte eingesetzt. Die Hochhäuser des Allende-Viertels saßen wie Stümpfe in der Landschaft. Was tat er hier? Er rechnete und stellte fest, dass er seit vier Monaten nicht mehr hier gewesen war. Vier Monate. Zeiträume machten ihm neuerdings immer größere Schwierigkeiten. Er hatte schon lange nicht mehr das Gefühl, sich in der Zeit zu bewegen. Vielmehr kam es ihm vor, als sei er darauf aufgespießt, auf ein paar Tage und Stunden des Jahres 1989. Die Wende. Die Zeitenwende. Das suggerierte ein Vorher und ein Nachher. Aber für ihn war es das nicht. Es war ein verfluchtes Kontinuum, eine Zeitschleife in Form eines immer größer werdenden Fragezeichens.

Er stand an der Straßenecke und schaute wieder zu den Wohnblockstümpfen hinüber. Dann ging er auf einen davon zu. Er klingelte. Die Wohnung lag im vierten Stock. Eine ältere Frau öffnete und schaute ihn überrascht an.

»Martin. Du liebe Zeit.«

»Hallo, Sonia. Ich war in der Nähe. Bist du beschäftigt?«

»Machst du Witze?« Sie trat zur Seite. »Du siehst schlecht aus«, sagte sie. »Und alt. Sehe ich auch so aus?«

»Ja«, sagte er. »Sicher. Wo ist Frank?«

Sie machte eine fahrige Handbewegung. Zollanger versuchte erst gar nicht, die Geste zu deuten. Es war ihm schnuppe, wo sein Nachfolger an Sonias Seite war.

»Willst du einen Kaffee?«

»Ja. Gern.«

Als sie mit den zwei Tassen erschien, wusste er wie immer nicht, was er sagen sollte. Er kam seit Jahren bisweilen hier vorbei. Sie plauderten eine Stunde über nichtssagende Dinge. Dann ging er wieder. Vielleicht, weil sie immer noch hofften zu erfahren, was damals eigentlich passiert war.

Er musterte sie. Sie war wirklich gealtert. Ihre Haare waren schon lange grau. Aber die Haut hatte sichtlich nachgelassen. Vor allem am Hals. Er sah das. Wenn er jedoch ehrlich war, dann sah er nur ihre lebendigen, immer ein wenig spöttischen Augen. Und darin die bezaubernde junge Frau, die er vor sechsunddreißig Jahren geheiratet und zwölf Jahre später wieder verlassen hatte. Oder sie ihn. Darüber waren sie sich bis heute nicht einig.

»Nicht bei der Arbeit heute?«, fragte sie. »Kein Mord und Totschlag in der Stadt?«

»Ziemlich ruhig.«

»Hier draußen auch. Was machst du so? Reisepläne über Weihnachten?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ihr?«

»Hiddensee.«

Er stellte die Tasse ab.

»Du hast Glück, dass ich hier bin«, sagte sie. »Ich wollte heute eigentlich nach Mitte fahren. Aber das Wetter.«

Er nickte. So verliefen diese Gespräche. Manchmal, wenn er Sonia besuchte oder sie spontan bei ihm auftauchte, hatte er das Gefühl, dass sie zusammenkamen, um etwas zu betrauern. Eine Trennung, von der keiner so recht wusste, warum sie überhaupt geschehen war. Ein Kind, das nie existiert hatte. Oder vielleicht einfach alles. Die Zeit eben, die verging, ohne dass irgendjemand wirklich begriff, wozu und wofür. Er sprach das nicht aus. Er wusste nicht, ob Sonia ähnlich empfand. Aber er vermutete es.

»Vielleicht fahre ich doch ein paar Tage weg«, sagte er, als er wieder aufbrach.

»Wieder zu deinem Bruder nach Italien wie im Frühjahr? Wie geht es Georg eigentlich?«

»Ich … ich weiß es nicht«, antwortete er nach einer kurzen Pause. »Ich habe länger nichts von ihm gehört.«

»Mach das. Fahr zu ihm. Letztes Mal hat es dir gutgetan. Schickst du mir eine Karte?«

Er versprach es. Dann ging er.

Als er wieder am S-Bahnhof stand, fühlte er sich leer und wie erschlagen. Er ließ drei Züge vorbeifahren. Dann stieg er ein.

Die Taschen und der Rollkoffer mit dem Material aus seiner Wohnung lagen sicher im Kofferraum seines Wagens im Parkhaus am Ostbahnhof. Für sich selbst hatte er jetzt klare Pläne. Er hatte die Situation in den letzten Stunden gründlich analysiert und seine Optionen durchdacht. Auch wenn er es nicht wahrhaben wollte: Die Situation war unabänderlich. Es gab nur einen Faktor, mit dem er absolut nicht klarkam: Elin. Sie machte ihm Sorgen. Hatte sie begriffen, wie gefährdet sie war? Oder hätte er ihr mehr erzählen, reinen Wein einschenken sollen?

Er holte das neu gekaufte Handy heraus, legte seine alte SIM-Karte ein und wählte erneut die Nummer, die er vorhin zu kontaktieren versucht hatte. Jetzt gab es ein Freizeichen. Und dann meldete sich eine männliche Stimme.

»Martin?«, sagte die Stimme.

»Wo bist du?«, fragte der Kommissar.

»Warum?«

»Es ist einiges passiert. Wir müssen reden. Wo bist du?«

Anstatt einer Antwort hörte er nur den Atem des anderen. Der Mann schnaufte schwer, als habe er sich gerade körperlich sehr angestrengt.

»Hast du es dir überlegt?«, fragte die Stimme.

»Ja«, sagte Zollanger. »Aber wir müssen reden. Alles ist komplizierter geworden. Wir müssen uns treffen.«

Wieder erfolgte eine lange Pause.

»Wo?«, fragte die Stimme.

Zollanger überlegte. Sollte er es riskieren, in die Stadt zurückzufahren?

»Also?, fragte die Stimme ungeduldig.

»Am Ostbahnhof« erwiderte Zollanger. »In einer Stunde.«