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Ein leises Klappern weckte sie. Im ersten Augenblick hatte sie keine Ahnung, wo sie sich befand. Ihre Wange ruhte auf etwas Hartem. Sie hob den Kopf und blickte sich um. Der Mann stand keine vier Meter von ihr entfernt mit dem Rücken zu ihr. Es war dunkel. Er benutzte eine Taschenlampe, deren Lichtstrahl eine Stelle an der Tür ausleuchtete, an der er sich zu schaffen machte. Elin hielt den Atem an und ließ ihren Kopf ganz langsam wieder auf die Treppenstufe zurücksinken. Der Mann würde sie entdecken, sobald jemand das Treppenlicht anschaltete. Und warum hatte er das nicht getan? Taschenlampe, dachte sie. Es dauerte noch einige Augenblicke, bis ihr schläfriger Verstand den einzig logischen Schluss zog: dass gerade jemand versuchte, in die Wohnung dieses Bullen einzubrechen.
Ein leises Klicken ertönte, und die Tür sprang auf. Ein Lichtstreifen erhellte für einen kurzen Augenblick das Gesicht des Mannes. Er sah völlig unscheinbar aus. Mittelgroß. Zwischen vierzig und fünfzig, schätzte Elin. Kurzes dunkles Haar. Keinerlei auffällige Gesichtsmerkmale. Noch ein Bulle? Der Mann schob sich vorsichtig durch den Spalt, und die Tür fiel wieder ins Schloss. Elin stand sofort auf und schlich eine Treppe abwärts. Sie lehnte sich gegen die Wand und atmete tief durch. Dann machte sie plötzlich kehrt und stieg wieder hinauf. Als sie an der Stelle angekommen war, wo sie eben noch gelegen hatte, blieb sie stehen und lauschte. Aus der Wohnung kamen Geräusche. Vorhänge wurden auf- oder zugezogen, Schubladen geöffnet. Eine Schranktür quietschte. Plötzlich wurde es still. Sie wartete angespannt. Minutenlang war gar nichts zu hören, dann Schritte. Die Tür öffnete sich. Elin zog den Kopf zurück. Der Aufzug setzte sich in Bewegung. Dann vernahm sie das Piepen von Handywahltasten.
»Er ist es. Ganz sicher.«
Elin hielt den Atem an.
»Er hat Akten über Sie. Auch über Hilger und Billroth … Ja. Ich habe meine Kamera unten im Wagen. Ich melde mich.«
Die Fahrstuhltür öffnete und schloss sich wieder. Elin wartete ein paar Augenblicke. Dann sprang sie mit drei Sätzen die Treppe hinauf. Die Tür war nur angelehnt. Wie viel Zeit hatte sie? Eine Minute. Zwei? Sie huschte in die Wohnung hinein. Wer war der Mann? Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Hilger? Billroth?
Sie lauschte in den Hausflur hinaus. Das Geräusch des Fahrstuhls würde sie warnen. Ein paar Minuten hatte sie. Ihr Blick irrte durch das Wohnzimmer. Nichts deutete darauf hin, dass es eben durchsucht worden war. Erst alle Zimmer, dachte sie. Wenn dann noch Zeit ist, vielleicht eine Schublade. Sie ging in die Küche, dann den Flur entlang in den hinteren Teil der kleinen Wohnung. Rechter Hand war das Schlafzimmer. Das Bett war nicht gemacht. Ein Kleiderberg lag auf einem Rattanstuhl. Hinter ihr war noch ein Zimmer. Erst lauschte sie. Kein Fahrstuhl. Sie ging hinein und sah die Akten sofort. Zieten. Billroth. Hilger. BIG. Sie bekam kaum noch Luft vor Aufregung. Da stand ein Schreibtisch. Ein Bett. Ein Schrank. Ein Gästezimmer, dachte sie. Aber verlassen. Sie öffnete rasch den Schrank. Ein dunkler Mantel hing darin, sonst nichts. Sie zog den ersten Ordner mit der Aufschrift »Hilger« aus dem Regal und blätterte darin. War das die Ermittlungsakte zum Tod ihres Bruders? Warum stand die hier? Sie lauschte angestrengt in die Stille. Kein Fahrstuhl. Aber was war das? Sie hörte plötzlich Schritte. Ganz nah auf der Treppe. So lautlos sie konnte, schob sie die Akte an ihren Platz zurück. Jetzt war jemand an der Tür. Sie spürte es. Sie kam hier nicht mehr raus.
Langsam wich sie zurück. Jemand stand im Flur. Sie hörte jemanden atmen. Plötzlich ertönte auch noch das klackernde Geräusch des Fahrstuhls. Elin glitt in den Schrank hinein und schloss lautlos von innen die Tür.
Einige Momente lange geschah nichts. Dann hörte sie plötzlich die Stimme Zollangers:
»Was machen Sie in meiner Wohnung?«
»Kommen Sie herein und machen Sie die Tür zu«, antwortete eine andere Stimme.
Elin hielt den Atem an. Der Einbrecher war zu Fuß heraufgekommen! Und der Kommissar war ihm direkt in die Arme gelaufen.
»Was wollen Sie?«
»Mit Ihnen reden. Los. Hier entlang.«
Die Schritte kamen näher. Als der Mann wieder sprach, stand er offenbar direkt vor ihrer Schranktür.
»Es kommt jetzt gleich jemand, der sich gerne mit Ihnen unterhalten möchte.«
Elin ging in die Knie, kauerte auf dem Boden. Ein leises Knarren ließ sie erstarren. Einige Sekunden lang herrschte völlige Stille.
Plötzlich wurde die Schranktür aufgerissen. Elin schrie. Der Lauf einer Pistole war auf sie gerichtet. Im nächsten Moment flog der Kopf des Mannes mit einem krachenden Geräusch nach hinten. Der Kommissar trat erneut zu und kickte dem röchelnden Mann die Waffe aus der Hand. Dann hob er sie auf und hieb ihm damit mit voller Wucht ins Genick. Es gab einen dumpfen Schlag. Der Mann krachte zu Boden und rührte sich nicht mehr.
Elin saß mit weit aufgerissenen Augen da und starrte auf das wutverzerrte Gesicht des Kommissars.
»Was zum Teufel machen Sie hier?«, fauchte er. Mit einer schnellen Bewegung steckte er die Waffe ein und zerrte sie aus dem Schrank. Sie wäre fast über den Mann gestolpert, der davor auf dem Boden lag. Zollanger schubste sie grob gegen die Wand. »Was machen Sie hier, verdammt noch mal?«, brüllte er sie an. »Wie sind Sie hier hereingekommen?«
Sie erklärte ihm stammelnd, was passiert war, dass sie auf ihn gewartet hatte, eingenickt war und so Zeugin des Einbruchs wurde. »Der Mann hat telefoniert … er sprach von Akten meines Bruders … da wollte ich nachsehen.«
Sie sah, dass Zollangers Schläfen pochten. Er schaute gehetzt um sich. Der Mann auf dem Boden stöhnte. Er hat den Eindringling niedergeschlagen, dachte sie. Gleich würde er ihm Handschellen anlegen und die Polizei rufen. Das wäre das Normale. Aber dieser Bulle war offenbar nicht normal.
»Gehen Sie ins Wohnzimmer und warten Sie dort«, zischte er sie an.
Sie tat wie befohlen. Sie sah noch, dass der Bulle den Bewusstlosen umdrehte und damit begann, dessen Kleidung zu durchsuchen. Sie bewegte sich wie in Trance. Was geschah hier?
Keine zwei Minuten später kam Zollanger mit zwei Taschen wieder zum Vorschein.
»Los, Sie müssen mir helfen. Holen Sie den kleinen Rollkoffer, der noch hinten steht. Schnell. Der schläft nicht ewig.«
»Aber … Sie müssen die Polizei rufen«, sagte sie stotternd.
»Ich bin die Polizei. Und ich sage: Wir gehen jetzt. Los.«
Elin gehorchte. Sie kehrte in den Raum zurück. Das Aktenregal war leer. Sie griff nach dem kleinen Rollkoffer, der neben dem Bewusstlosen stand. Der Mann stöhnte und zuckte leicht mit den Beinen.
»Los!«, hörte sie Zollangers Stimme. »Schnell.«
Sie zwängte sich neben Zollanger in den Fahrstuhl, der für so viel Gepäck nicht ausgelegt war. Für ein paar unerträgliche Sekunden ging die Tür noch einmal auf, bevor sie sich endgültig schloss und der Lift sich in Bewegung setzte. Elin sah, dass der Kommissar seine Pistole gezogen hatte. Die Anzeige zählte die Stockwerke ab. Ohne Unterbrechung erreichten sie das Niveau –2. Als die Tür sich öffnete, war niemand da. Zollanger ließ seine Waffe sinken, steckte sie ein, griff nach den beiden Taschen und ging zu seinem Wagen. Elin folgte ihm. Er warf die Gepäckstücke in den Kofferraum und schlug die Klappe zu. Als sie im Wagen saßen, sagte er:
»Wo wohnen Sie?«
Aber Elin kam nicht mehr dazu, zu antworten. Die Eisentür zur Treppe flog plötzlich auf, und zwei Männer stürmten in die Garage. Zollanger startete sofort den Motor, legte den ersten Gang ein, drehte hoch und raste mit quietschenden Reifen auf die beiden zu. Die Männer sprangen zur Seite. Zollanger streifte einen der beiden mit dem Seitenspiegel. Der Mann stürzte mit einem Schrei zu Boden. Zollanger drückte auf einen Knopf und fuhr auf das Rolltor der Ausfahrt zu, das sich nur langsam in Bewegung setzte. Elin schaute angstvoll nach hinten. Der zweite Mann rannte hinter ihnen her. Hatte er womöglich auch eine Waffe? Sie zog den Kopf ein und kauerte neben Zollanger, der in den Rückspiegel schaute. Plötzlich bremste er scharf. Er griff nach der Waffe des Einbrechers, stieg aus, stellte sich breitbeinig hin und feuerte zweimal in Richtung des Mannes. Der sprang zur Seite und suchte hinter einem Pfeiler Deckung. Zollanger stieg wieder ein. Das Rolltor war endlich oben angekommen. Er legte den Gang ein und raste die Auffahrt hinauf.
»Also. Wo können wir in Ruhe reden?«, fragte er noch einmal.
Elin war kreidebleich geworden. Ihr Atem ging flatternd, und sie spürte Schweißperlen auf der Stirn.
»Mein Rucksack«, stammelte sie. »Mein Rucksack ist noch dort oben.«
»Was ist da drin?«
»Alles. Alle Unterlagen von meinem Bruder, die ich gefunden habe.«
Zollanger schaute konzentriert auf die Straße.
»Was ist mit Ihren Personaldokumenten? Die sind viel gefährlicher. Sind die auch in Ihrem Rucksack?«
Elin spürte Würgereiz. Sie nickte.
Zollanger sagte nichts. Stattdessen fuhr er plötzlich mit seiner Hand in die Tasche seines Jacketts. Aber da war nichts. Er schlug mit der Faust auf das Lenkrad. Dann schaute er wieder Elin an und schüttelte nur den Kopf.
»Jetzt haben sie uns also alle beide.«
»Was meinen Sie damit?«
»Nachher«, rief er gereizt. »Wohin also?«
»Wiclefstraße«, flüsterte Elin. Das war doch alles nicht wahr? Aber der Geruch von verbranntem Pulver, der ihr in die Nase stieg, belehrte sie eines Besseren.
»Wiclefstraße 12.«