21

Elin bemerkte nicht, dass sie beobachtet wurde. Sie war erschöpft von der langen Fahrt ins Märkische Viertel. Die Sozialstation, zu der sie unterwegs war, lag nur noch fünf Fahrradminuten entfernt. Seit ihrer Ankunft in Berlin kam sie dreimal die Woche hierher, denn außer Jojo und Daniel, den beiden Sozialarbeitern aus der »Kiezoase«, kannte sie niemanden in der Stadt. Diese Welt war ihr vertraut. Straßenkinder. Obdachlose. Jugendliche aus zerrütteten Verhältnissen. Sie arbeitete meistens in der Suppenküche, half aber auch manchmal dem Arzt, der montags und donnerstags vorbeikam, um Obdachlose gegen die Schleppe zu behandeln.

Das Bild ähnelte dem, das sie aus Hamburg kannte. Armut und Elend sahen überall gleich aus. Nur tauchten immer mehr Familien mit Kindern in der Schlange vor der Essensausgabe auf. Und nicht nur Migrantenfamilien. Eine dieser Familien kannte Elin gut. Das heißt, sie kannte die sechs Kinder, die es seit geraumer Zeit vorzogen, in den weitverzweigten Heizungskellern des Märkischen Viertels zu wohnen und sich in der Sozialstation mit dem Nötigsten zu versorgen, anstatt sich »zu Hause« aufzuhalten. Mirat, der große Bruder der fünf anderen, hatte keine andere Möglichkeit gesehen, seine Geschwister vor seinem gewalttätigen Vater in Sicherheit zu bringen. Die Alternative wäre gewesen, den Vater im Schlaf totzuschlagen. Aber Mirat war intelligent genug zu wissen, dass er den Behörden keinen Grund liefern durfte, ihn nach Bosnien zurückzuschicken. So hatte Jojo Elin die Situation jedenfalls geschildert. Es war ja auch gleichgültig. Die Verhältnisse, aus denen die Leute kamen, die hier angespült wurden, waren sowieso nicht zu ändern. Sie waren aus dem System herausgefallen oder gar nicht erst Teil davon geworden. Wie sie selbst ja auch. Sinnlos, darüber zu reden. Man musste sich arrangieren. Zur Not in einem Heizungskeller.

Elin sah nicht, dass Mirat vor dem LIDL-Geschäft herumstand und bettelte. Stattdessen sah sie, dass vier Gestalten vor ihr auf dem Fahrradweg standen und keinerlei Anstalten machten, zur Seite zu treten. Sie klingelte und schaute erst dann richtig hin, wer da stand. Und dann war es zu spät. Sie bremste. Die vier Jugendlichen hatten sich wie ein Mann umgedreht und kamen nun auf sie zu.

»Hast’en Problem, Fotze?«

Die vier waren kaum zu unterscheiden, und ihre Aufmachung ließ wenig Deutungsspielraum zu. Kahl rasierte Schädel, schwarze Lederjacken, Consdaple-Kapuzenpullis, Doc-Martens-Springerstiefel. Elins Atem ging ohnehin schnell, doch als die vier sich um sie aufgebaut hatten, dachte sie, sie würde gleich ersticken. Sie hatte gehofft, ein paar Sekunden Zeit zu haben, sich eine Strategie auszudenken, aber das war ein Irrtum.

»Hab dich was gefragt, Fotze.«

»Nein. Kein Problem. Kann ich bitte weiterfahren.«

»Weiterfahren. Die Fotze will weiterfahren.«

Nur der Anführer sprach. Die anderen drei grinsten bisher nur.

»Für Fotzen gibt’s hier Wegzoll. Fünfzig Euro.«

Das fanden die anderen drei offenbar witzig. Jedenfalls lachten sie meckernd.

Elin schaute den Anführer an. Dann traf sie eine Entscheidung.

»Das mag ja sein. Ich heiße aber Elin. Und du?«

Die drei lachten nicht mehr. Der Anführer verzog ein wenig überrascht das Gesicht. Elin versuchte, aus den Augenwinkeln die Situation auf der Straße zu erfassen. War jemand stehen geblieben? Kam ihr jemand zu Hilfe? Nein. Bis jetzt war offenbar niemandem aufgefallen, was sich hier anbahnte. Oder es wollte niemandem auffallen. Sie nahm all ihren Mut zusammen und schaute dem Anführer fest in die Augen. Der schlug einfach zu. Sie stürzte samt Fahrrad auf den Gehsteig.

»Lass mal, Hein. Ich kenn die. Ist aus der Kiezoase«, hörte sie eine Stimme.

»Auch das noch. So ’ne Sozialfotze.« Sie wandte den Kopf. Ein Stiefel traf mit voller Wucht ein paar Zentimeter neben ihrem Kopf die Speichen ihres Vorderrades und brach mehrere davon einfach heraus. Elin spürte Blut im Mund. Ihre ganze rechte Gesichtshälfte schien lichterloh zu brennen. Ein paar Meter entfernt entdeckte sie einen überfüllten Glascontainer. Es standen genügend Flaschen davor herum. Die beiden Sektflaschen könnte sie vielleicht erreichen.

»Lasst sie in Ruhe.«

Mirat? Wo kam der denn plötzlich her?

Sie richtete sich halb auf. Er stand direkt hinter den Skinheads. Eine gespannte Steinschleuder zielte auf den Kopf des Anführers.

»He. Mach keinen Quatsch, Alter«, sagte der, trat jedoch ein paar Schritte zurück. Die anderen drei folgten.

»Mehr Abstand«, fauchte Mirat.

Die vier rührten sich nicht. Mirat zielte auf die Flaschen neben dem Container und schoss. Die Wirkung war kolossal. Die Ladung durchschlug nicht nur die Flaschen und zerpulverte sie regelrecht. Mit einem lauten Knall riss sie auch noch ein faustgroßes Loch in den Container hinein. Mit einem raschen Griff in die Hosentasche lud Mirat seine Zwille erneut, spannte und zielte auf die Beine der Skins.

»Abgang. Ich zähle bis drei.«

Aber das war nicht nötig. Die Skins machten, dass sie wegkamen.

Mirat half Elin auf.

»Los. Schnell weg hier.«

Elin erhob sich und rieb sich mit dem Handrücken das Blut vom Mund ab.

 

»Hein ist ein Arschloch. Aber nicht wirklich gefährlich«, sagte Jojo, während er Elin Arnikasalbe auf die Backe schmierte.

»Schön«, erwiderte sie tonlos.

Mirat stand mit verschränkten Armen am Kühlschrank und schaute zu.

»Hat dich jemand schießen sehen?«, fragte Jojo.

Mirat zuckte mit den Schultern.

»Das ist dein Problem?«, fragte Elin. »Ob jemand Mirat gesehen hat? Ich denke, wer Mirat gesehen hat, hat auch diese vier Primaten gesehen, die mich grundlos angegriffen haben.«

»Kann sein. Aber Waffenbesitz ist kein Spaß. Du lässt die Schleuder hier, Mirat.«

Jojo schraubte die Tube zu, wischte seine Hände ab, warf seinen Kopf herum, um seinen Pferdeschwanz, der ihm über die Brust gefallen war, wieder auf den Rücken zu befördern, und stand auf.

»Los. Her damit.«

Mirat machte auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum.

»Also, dann erzähl du mir, was passiert ist«, sagte Jojo.

»Hab ich doch schon«, antwortete Elin trotzig. »Sie hatten einfach Lust auf Prügeln. Ich habe lediglich geklingelt, weil ich durch wollte. Sie standen auf dem Fahrradweg.«

»Konntest du nicht um sie herumfahren?«

Elin erhob sich nun ebenfalls.

»Klar, Jojo. Ich hätte absteigen, unter dem Asphalt durchkriechen und auf der anderen Seite wieder hinaufsteigen sollen. Es war alles meine Schuld. Du entschuldigst mich. Ich muss Mirat etwas fragen. Ich bin gleich wieder da.«

Jojo Jesus. Der Mann war ein Phänomen. Gandhi von Reinickendorf. Ihm war auch noch nie etwas passiert. Er strahlte den Irrsinn aus, den er predigte. Bei ihm funktionierte das.

Mirat hatte sich nicht weit entfernt. Er stand im Hof und musterte Elins zertretenes Vorderrad.

»Das ist hin«, sagte er, als sie bei ihm ankam.

»Ja. Ich weiß.«

»Ich besorge dir ein neues, wenn du willst.«

»Okay. Aber etwas anderes brauche ich noch dringender.«

»Pfefferspray.«

»Nein. Ich brauche einen Berber, der sich mit Computern auskennt. Aber richtig.«

Mirat nickte. »Komm.«

Sie verließen den Hof, überquerten den Senftenberger Ring und gingen an der Rückseite eines der Hochhäuser entlang. Elin schaute an den eintönigen Fassaden hinauf und versuchte gleichzeitig, den pochenden Schmerz in ihrer rechten Backe zu ignorieren. Diese abgefuckten Wohnsilos. Vierzig Prozent Arbeitslosigkeit. Alkohol. In gewisser Hinsicht hatte das stumpfsinnige Arschloch, das sie verprügelt hatte, sogar recht. Sie war eine Sozialfotze. Sie, Jojo, Daniel. Alle waren genau das. Nützliche Idioten, die den Menschenmüll aus der Innenstadt heraushielten. Natürlich gab es nicht nur Typen wie Hein. Es gab auch Mirat. Aber der Vergleich war im Grunde unfair. Mirat würde hier nicht steckenbleiben. Sobald er Papiere bekäme, würde er einen Weg finden. Wenn er Papiere bekäme. Für Hein und seine Kumpel indessen bräuchte man vermutlich den kompletten Jahresetat der Sozialstation, um die ganze braune Scheiße herauszuholen, die in ihren Hirnen herumschwamm. Und das war noch eine unsichere Wette. Da konnte ihr keiner etwas erzählen. Sie war in einem Hamburger Villenviertel aufgewachsen und hatte hautnah erlebt, dass Scheiße im Hirn zu allem Übel gar kein Bildungs- oder Schichtenproblem war. Im Gegenteil. Und gegen die braune Scheiße in den Köpfen der Oberschicht half nicht einmal Pfefferspray.

Mirat steuerte auf eine Kellertreppe zu und öffnete die Eisentür. Die nächsten Minuten liefen sie durch ein Gewirr von Kellergängen. Plötzlich bog Mirat rechts ab. Eine schmale Treppe führte in ein noch tiefer gelegenes Stockwerk. Es wurde wärmer. Und dunkler. Mirat blieb stehen, griff in eine Mauernische und holte eine Taschenlampe heraus.

Der Lichtkegel beleuchtete einen schmalen Gang, an dessen Decke Heizungsrohre entlangliefen. Nach einigen Metern stießen sie auf die erste Wohnung. In einer kleinen Nische lag eine schwarze Isomatte auf der Erde, eine graue Filzdecke obenauf. Dahinter standen drei oder vier gefüllte und verschlossene LIDL-Plastiktüten und ein abgewetzter Rollkoffer, alles ordentlich aufgereiht. Mirat ging weiter. Offenbar war es die falsche Wohnung. Nach ein paar Schritten kamen sie am nächsten Lager vorbei. Jemand saß dort auf dem Boden und aß Ravioli aus der Dose. Mirat kniete sich hin und sprach mit der Person. Elin konnte nicht viel von dem Mann erkennen. Sein Gesicht war hinter einem struppigen Vollbart verborgen, und er schaute nicht auf, während Mirat auf ihn einsprach.

»Er ist im Block D«, sagte Mirat, als er wieder aufgestanden war. »Wir müssen oben rum.«

Sie gingen den gleichen Weg zurück, den sie gekommen waren, überquerten das Rasenstück zwischen den beiden Gebäuden und stiegen neben dem Haupteingang von Block D eine Treppe hinab bis zu einer Eisentür.

Mirat rüttelte an der Klinke, aber nichts rührte sich. Elin schaute ihn erwartungsvoll an. Mirat grinste nur.

»Pass auf!« Dann machte er einen Schritt rückwärts und trat mit voller Wucht ein paar Zentimeter unterhalb des Schlosses gegen das Metall. Die Tür sprang auf.

»Ist verbogen«, erklärte er. »Komm.«

Wieder ging es zunächst durch Kellergänge. Dann erreichten sie erneut eine unscheinbare Abzweigung, hinter der sechs Stufen auf eine tiefer liegende Ebene führten.

»Warte«, sagte er plötzlich. Er griff wieder über sich. Sein rechter Arm verschwand fast vollständig in einem unscheinbaren Loch hinter einem der Heizungsrohre. Als seine Hand wieder zum Vorschein kam, lag ein kleiner Stoffsack darin.

»Hier«, sagte er und gab ihn ihr.

»Was soll ich damit?« fragte sie.

Statt einer Antwort angelte Mirat noch einen Gegenstand aus dem Versteck hervor.

»Hier. Das brauchst du auch.«

Sie erkannte es erst, als er mit der Taschenlampe darauf leuchtete: eine Steinschleuder.

»In dem Sack ist die Munition«, sagte er. »Zündkerzenschrot. Durchschlägt alles. Du kannst dort oben nicht ohne Waffe herumlaufen. Hier. Nimm.«

Sie öffnete das Säckchen und ließ ein wenig von dem scharfkantigen Granulat aus zerstampften Zündkerzen in ihre Handfläche rollen. Dann schüttete sie es zurück, verschnürte das Säckchen und legte es samt Schleuder in die Mauernische.

»Danke«, sagte sie. »Aber ich lasse das lieber hier. Falls ich es mal brauchen sollte, weiß ich ja, wo ich es finde.«

Mirat zuckte mit den Schultern und ging weiter.

»Wer war der Typ, den du nach dem Berber gefragt hast?«, fragte Elin, als sie die Stufen hinabgingen.

»Nelson.«

»Und? Wer ist Nelson?«

»Keine Ahnung. War mal Anwalt oder so was.«

»Also auch ein Berber?«

»Hm. Er hilft mir mit den Ämtern.«

Elin prägte sich den Namen ein. Es war beruhigend zu wissen, dass es unter den Obdachlosen Fachleute gab. Immer wieder erstaunlich, wie viele Falltüren ins Nichts der Wohlfahrtsstaat Deutschland bereithielt. Sogar für die, die eigentlich alles richtig gemacht hatten. Einen Anwalt und einen Computermann hatten sie hier also. Vielleicht fand sie auch noch einen ehemaligen Polizisten, der ihr einen Tipp geben konnte, wie man diesen Zollanger unter Druck setzen könnte. Der Mann wusste irgendetwas über Erics Fall. Das hatte sie genau gespürt. Und sie würde es herausfinden.

»Wie viele Leute wohnen hier unten?«, erkundigte sie sich.

»Das weiß keiner. Manche kommen, andere gehen. Es gibt dreißig oder vierzig Nischen. Manchmal sind alle voll. Manchmal nur ein paar.«

»Und du und deine Geschwister? Wo seid ihr?«

»Tut mir leid. Das sage ich nicht. Aber wenn du mich mal brauchst und nicht weißt, wo ich bin, dann mach einfach das hier.«

Er hob den Arm und schlug mit der Taschenlampe gegen eins der Heizungsrohre.

»Love is in the air«, sagte er grinsend.

»Was?«

»Der Rhythmus. Tata ta tata. Das ist meiner.«

»Ah. Ist es noch weit? Wie heißt der Computerberber überhaupt?«

»Hagen.«