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Wir sind uns auf der CEBIT begegnet«, erzählte Alexandra. »Am 24. März.«
Elin schrieb sich das Datum auf. Die junge Frau schaute auf den Tisch und schnippte ihre Asche in den Aschenbecher. Sie saßen im ersten Stock des Schwarzen Cafés. Alexandra hatte den Treffpunkt vorgeschlagen. Ihr Hotel lag um die Ecke. Um zwölf hatte sie einen Termin bei der Vertretung der Europäischen Kommission, deren Büro nicht weit entfernt von hier lag. Sie hatten also knapp eine Stunde.
Elin hatte die junge Frau sofort erkannt. Sie sah genauso aus wie bei der Beerdigung vor sechs Wochen. Helle Haut, dunkle Augen, rabenschwarze Haare hinten hochgesteckt. Erics letzte Eroberung. Oder doch etwas mehr? Sie war Elin schon bei der Beerdigung aufgefallen, weil sie sich so markant vom Typ Jule und den üblichen Tussen unterschied, die Eric normalerweise angeschleppt hatte. Sie hatte sogar erwogen, sie anzusprechen. Aber Alexandra war noch vor dem Ende der Trauerfeier verschwunden. Im Kondolenzbuch hatte sie nur zwei Wörter hinterlassen. Warum? Alexandra.
»Du hast vermutlich unsere E-Mails gelesen, oder?«
»Ich musste herausfinden, wer Alexandra ist.«
»Dann weißt du ja alles.«
»Ich wollte deine Adresse«, sagte Elin. »Und ich weiß gar nichts. Nur eines: Eric hat sich nicht das Leben genommen.«
Alexandra schaute sie lange an, bevor sie etwas erwiderte.
»Wenn du recht hättest, müsstest du mit der Polizei sprechen und nicht mit mir.«
»Die Polizei sieht keinen Grund dafür, Fragen zu stellen. Deshalb stelle ich sie.«
Alexandra ergriff Elins Hand und entwand ihr sanft den Kugelschreiber.
»Ich weiß nicht, in was für Geschichten dein Bruder verwickelt war. Und ich will auch in nichts davon hineingezogen werden. Okay?«
Elin klappte ihren Notizblock zu. Alexandra gab ihr den Kugelschreiber zurück.
»Was für Geschichten?«, wollte Elin wissen.
Alexandra zog an ihrer Zigarette. Eric musste sehr verliebt gewesen sein, denn er hatte Raucher nicht leiden können. Oder rauchte sie erst neuerdings?
»Ihr wart euch sehr nah, nicht wahr?«, fragte Alexandra, wobei Elin die Skepsis in ihrem Blick nicht entging.
»Hast du Geschwister?«, fragte sie zurück.
Alexandra schüttelte den Kopf. »Leider nicht. Die Ehe meiner Eltern hielt gerade mal lange genug, um mich hervorzubringen.«
Elin hatte das Gefühl, dass gleich noch etwas folgen würde, und wartete.
»Mein Vater ist Grieche«, fuhr Alexandra schließlich fort, als sei damit alles gesagt.
»Meiner ist Deutscher«, sagte Elin. »Hat aber auch nichts genützt. Jedenfalls hat er meine Mutter ständig betrogen. Allerdings war ich schon unterwegs, als sie es gemerkt hat. Sie war übrigens Schwedin. Vielleicht liegt es ja daran. Mischehen taugen wohl nichts.«
»Du bist jünger als Eric?«
»Ja. Zweieinhalb Jahre.«
»Und deine Mutter?«
Gab es eine andere Möglichkeit, diese Frau zum Reden zu bringen? Elin überlegte nicht lange. Sie hatten nur diese knappe Stunde.
»Ist nicht mehr am Leben. Blutkrebs, sagen die Ärzte. Aber ich denke, es war mein Vater. Eric war elf. Ich war neun. Ja, man kann sagen, dass wir uns ziemlich nah waren.«
Alexandra biss sich auf die Lippen.
»Hat er dir nichts erzählt?«
»Nein.«
»Na ja, so viel Zeit hattet ihr ja auch nicht.«
Alexandra drückte ihre Zigarette aus.
»Was wollte Eric auf der CEBIT?«, fragte Elin.
»Er schaute sich irgendwelche Geräte an. Telefonanlagen, glaube ich.«
»Für seinen Internetladen?«
»Ja. Irgendsowas.«
»Und du?«
»Ich hatte einen Job. Als Hostess.«
»Und dann?«
»Na ja. Wir haben uns im Frühjahr ziemlich oft gesehen, hauptsächlich in München. Er kam manchmal für mehrere Tage.«
»Und du kamst nicht nach Berlin?«
»Nein.«
»Wolltest du nicht?«
»Es ergab sich nicht. Und Eric war lieber in München. Er hat seinen Job in Berlin gekündigt und wollte im Herbst loslegen mit seiner neuen Idee. Er hatte ziemlich viel Zeit. Ich auch.«
Eric hatte nie von Alexandra erzählt. Aber das entsprach nur einer unausgesprochenen Regel zwischen ihnen. In Erics Frauengeschichten tauchten gewisse Muster auf, die Elin an ihrem Vater hasste. Und Eric wollte sie nicht hassen. Auf keinen Fall. Deshalb hatte sie nie nach seinen Frauen gefragt.
»Und wie war er? Deprimiert? Schwermütig?«
»Hast du deinen Bruder in dieser Zeit nicht gesehen?«
»Nur einmal. Ende August. Da war er für ein paar Tage in Hamburg.«
Alexandra trank einen Schluck von ihrer mittlerweile lauwarmen Schokolade.
»Eric war kein schwermütiger Typ. Ich habe ihn überhaupt nie bekümmert oder bedrückt gesehen. Aber ich habe ihn auch nie in seinem normalen Umfeld erlebt. Wir hatten immer nur Urlaub zusammen. Er kam nach München, wir gingen aus, unternahmen etwas in der Stadt oder in der Natur.«
»Und Pläne hattet ihr keine?«
»Na ja, ich hatte Aussicht auf einen Job in Brüssel. Und er hatte diese fixe Idee mit dem Internetladen in Berlin. Das war alles ungewiss und offen, aber irgendwie war uns das beiden recht.«
»Und dann?«
Alexandra schwieg einen Augenblick. Elin versuchte zu erraten, was in der Frau vor sich ging. War ihr das Gespräch unangenehm? Wühlte es Erinnerungen auf? Oder warum senkte sie jetzt die Stimme?
»Ich weiß nicht mehr genau, wann das war«, berichtete nun Alexandra, »aber irgendwann im Juni bekam Eric bei einem seiner Besuche in München ein ganze Menge Telefonanrufe und SMS. Er hatte ja immer mehrere Handys, auch so ein teures, mit dem man Daten versenden konnte. Ich weiß noch, dass er ein paar Tage lang laufend am Telefon hing. Und oft, wenn es klingelte, schaute er auf die Anzeige und nahm nicht ab.«
»Und inwiefern war das etwas Besonderes?«
»Na ja, es sah so aus, als ob er mit irgendjemandem ziemlich Ärger hatte.«
»Hast du ihn gefragt?«
»Ja.«
»Und?«
»Er sagte, sein alter Chef wolle noch ein paar Dinge von ihm erledigt bekommen, wozu er keine Lust hätte.«
»Das hat er wörtlich so gesagt?«
»Ja, mehr oder weniger.«
»Und dann?«
»Nichts. Als er das nächste Mal kam, hatte er ein neues, einfaches Handy und so eine Kartennummer. Er gab sie mir. Ich dachte mir damals nichts dabei. Er hatte seinen Job nicht mehr. Also hatte er die teuren Telefone zurückgegeben. Aber vor ein paar Tagen habe ich das hier gefunden.«
Sie zog einen braunen Umschlag aus ihrer Handtasche und schob ihn mit einer raschen Bewegung über den Tisch. Elin wollte danach greifen, aber Alexandra ließ ihre Hand noch darauf liegen.
»Ich will damit nichts zu tun haben, verstehst du?«, sagte sie. »Ich habe den Umschlag erst vor ein paar Tagen gefunden. Beim Packen. Ich habe keine Ahnung, warum er ihn bei mir versteckt hat.«
Elin wartete. Ihr Herz schlug schneller. Es war ein brauner, völlig gewöhnlicher wattierter DIN-A6-Umschlag. Bis auf ein Detail. Im Absenderfeld war ein Firmenaufdruck zu sehen. Elin konnte nur die erste Zeile lesen, aber das reichte ihr schon.
»Ohne diesen Umschlag würden wir beide nicht hier sitzen. Ich hätte dir gar nicht gesagt, dass ich nach Berlin komme. Und ich gebe ihn dir nur unter einer Bedingung: Du sagst niemandem, woher du ihn hast, okay?«
Elin nickte stumm. Alexandra zog langsam ihre Hand zurück. Elin nahm den Umschlag an sich.
Er war geöffnet und dann mit einem Klebestreifen wieder verschlossen worden.
»Er steckte zwischen meinen Büchern«, erklärte Alexandra. »Weiß der Himmel, warum er ihn dort deponiert hat.«
Elin riss den Klebestreifen ab und griff hinein. Zum Vorschein kam eine kleine Plastikhülle, in der drei SIM-Karten steckten. Sie starrte die kleinen Plastikchips ratlos an. Dann hob sie den Blick und fixierte Alexandra. Die war bereits aufgestanden.
»Ich bezahle unten«, sagte sie. »Alles Gute.«
Elin blieb sitzen. Nach einer Weile schob sie die Plastikhülle mit den Karten in den Umschlag zurück und verschloss ihn wieder. Den Firmenaufdruck im Absenderfeld kannte sie längst auswendig. Berlin Investment GmbH. BIG. Kurfürstendamm 76.
Erics alte Firma.