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Was hast du unternommen?«
Zieten schloss die Tür, zog seinen Mantel aus und hängte ihn an den Garderobenhaken. Dann durchquerte er die Eingangshalle und ging auf Ulla zu, die an der Treppe stand. Sie atmete schwer.
»Ich habe den Staatsschutz kontaktiert«, log er.
Ulla blinzelte. Dann wurden ihre Augen groß und furchtsam. »Heißt das …«
»Das heißt zunächst einmal, dass wir uns nicht lächerlich machen, wenn deine Tochter nur aus einer Laune heraus irgendwohin gefahren ist, ohne uns zu informieren. Und es heißt, dass ich deine Sorgen trotzdem ernst nehme.«
»Warum gehst du dann nicht zur Polizei?«
»Weil es für Leute wie mich andere Abläufe gibt, Ulla. Die Stelle, an die ich mich gewandt habe, hat ganz andere Möglichkeiten als die Polizei. Ich habe den Fall genau geschildert, und man hat mich beruhigt. Wir sollen bis morgen früh abwarten. Noch besteht kein konkreter Anhaltspunkt, dass überhaupt irgendetwas Schlimmes passiert ist. Diese Leute haben jede Menge Erfahrung mit derartigen Situationen. Wir sind nicht irgendwer. Und ich kann dir sagen, wenn der Staatsschutz uns rät, abzuwarten, dann kannst du beruhigt sein.«
»Abwarten? Wie lange?«
»Ich sagte dir doch: bis morgen früh.«
Sie riss empört ihre Augen auf. »Ich rufe jetzt die Polizei an.«
»Ulla«, schrie er sie an. Sie blieb erschrocken stehen. »Die Polizei wartet bei Erwachsenen vier bis sechs Tage, bevor sie etwas unternimmt.«
Ulla Zieten kämpfte mit den Tränen. »Aber … wir können doch nicht einfach hier sitzen und nichts tun.«
Er ging zu ihr hin und nahm sie in den Arm. »Liebling, es gibt im Moment keinerlei Grund anzunehmen, dass Inga etwas zugestoßen ist. Sie ist eine junge Frau, die sich gern mal amüsiert. Vielleicht ist sie …«
»Hast du die Krankenhäuser angerufen?«
»All das geschieht gerade. Gründlich und diskret.«
Er redete fast eine Stunde auf sie ein. Mit viel Mühe gelang es ihm, sie zu beruhigen. Sie aß zwar fast nichts zu Abend, aber die zwei Gläser Wein, die sie trank, dämpften vor allem ihren Widerstand gegen seinen Vorschlag, doch besser eine Schlaftablette zu nehmen, um nicht die ganze Nacht wach zu liegen.
Als sie endlich schlief, ging er in sein Arbeitszimmer. Was konnte er nur tun? Warten? Aber worauf. Auf einen anonymen Anruf? Eine Forderung? Er starrte auf das Telefon.
Es war fast Mitternacht. Wenn Inga sich bis morgen früh nicht gemeldet hatte, würde Ulla durchdrehen. Das stand fest. Seine kleine Notlüge war sicher richtig gewesen. Aber morgen? Was dann? Und wie lange konnte er selbst diese Ungewissheit ertragen? Wo zum Teufel steckte sie nur? Beim Gedanken an seine Tochter wurde ihm allmählich selbst bang. Mit jeder Stunde, die verging, schrumpfte die Zahl der möglichen Erklärungen für ihre Abwesenheit zu der entsetzlichen Gewissheit zusammen, dass ihr tatsächlich etwas zugestoßen war.
Um halb vier Uhr morgens klingelte plötzlich das Telefon. Zietens Herz schlug bis zum Hals, als er den Hörer abnahm.
»Zieten«, sagte er so bestimmt er konnte.
»Hast du etwas von Inga gehört?«
Jochen Friesers Stimme klang völlig anders als sonst.
»Nein«, antwortete er. »Aber nett, dass du morgens um halb vier an mich denkst.«
»Hör zu, Hajo«, fuhr Frieser nach einer kurzen Pause fort. »Ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten. Ich bin bei einem Einsatz in Charlottenburg. Kurfürstendamm 71.«
»Was ist da passiert, Jochen? Das ist eines unserer Büros.«
»Ich weiß. Das heißt, ich habe es gerade eben erst von einem deiner Mitarbeiter erfahren.«
»Was für Mitarbeiter?«
»Uwe Marquardt und Günther Sedlazek. Sie werden gerade befragt.«
»Das sind die Geschäftsführer der BIG.«
»Ja. Bei ihnen stehe ich gerade.« Frieser senkte die Stimme. »Hör mir gut zu, Hajo: Hier sind vor einer Stunde Leichenteile gefunden worden. Es ist seit letztem Freitag schon der dritte Vorfall dieser Art. Wir arbeiten unter Hochdruck daran. Irgendein Irrer. Das heißt, bisher wissen wir überhaupt nichts …«
»Leichenteile! O Gott, Jochen, es ist doch nicht Inga«, unterbrach er ihn.
»Nein, nein, es ist nicht Inga. Das steht fest. Es ist irgendeine Unbekannte. Wir haben andere Körperteile dieser Frau schon vor ein paar Tagen in Lichtenberg und Tempelhof gefunden. Aber einen Zusammenhang gibt es offenbar doch.«
Zieten wollte etwas sagen, aber er war dazu nicht mehr in der Lage.
»Die Körperteile wurde gegen zwei Uhr entdeckt. Der Sicherheitsdienst hat die Geschäftsführer alarmiert, und die haben dann die Polizei verständigt. Da ich für den Fall zuständig bin, hat die Mordkommission mich natürlich gleich informiert, und ich bin sofort hergekommen. Das Problem ist Folgendes, Hajo: Einer deiner beiden Geschäftsführer, ich glaube, Marquardt, hat vorhin an seinem Wagen eine ähnliche Botschaft gefunden, wie du sie mir gestern Abend gezeigt hast. Es ist genauso ein komischer, altertümlicher Druck. Diesmal ist eine Frau darauf abgebildet, die eine abgeschlagene Hand und einen Kopf in den Händen trägt. Und es steht ein lateinischer Spruch darüber.«
»Wir müssen uns sofort sehen«, sagte Zieten erregt.
»Nein, Hajo. Ich kann jetzt hier nicht weg. Unmöglich. Hier ist die Hölle los. Es wimmelt von Polizei und Spurensicherung. Allein die Tatsache, dass ich dich überhaupt anrufe, ist schon ziemlich unorthodox. Aber nach unserem Gespräch gestern wollte ich nicht warten. Und ich brauche so schnell wie möglich die beiden Zeichnungen, die du mir gestern gezeigt hast. Kann ich einen Boten vorbeischicken?«
Zieten rieb sich die Schläfen. Er war es gewöhnt, komplexe Situationen zu beurteilen, aber diese überforderte ihn. Was in drei Teufels Namen spielte sich hier bloß ab?
»Jochen, warte. Was heißt das? Du kannst mich da auf keinen Fall mit hineinziehen. Sind wir uns da einig? Ich habe es dir doch erklärt.«
»Hajo, ich bitte dich. Wie es aussieht, stehen sowohl du als auch Herr Marquardt und vielleicht sogar deine eigene Tochter im Fadenkreuz eines vermutlich geisteskranken Leichenschänders. Die Mordkommission wird mit dir sprechen wollen …«
»Jochen, warte. Das kannst du nicht machen.«
Es wurde kurz still. »Was kann ich nicht machen?«
Zieten stand auf und ging nervös einige Schritte hin und her. Leichenteile? Kryptische Drohbotschaften? Woran erinnerte ihn das? An einen Bluff? Zietens Instinkt war erwacht. Spielte da nicht jemand ein schmutziges Spiel mit ihm? Wurde er manipuliert? Ein Szenario ging ihm plötzlich durch den Kopf. Inga konnte überall sein. Mit einem originellen Trick konnte man ein junges Mädchen leicht für ein oder zwei Tage »entführen«, wenn der »Entführer« nur gut genug aussah.
Eines war sicher: Wenn über die Phoenix-Vorlage jetzt etwas durchsickerte, gäbe es einen politischen Flächenbrand. Es wäre die Kernschmelze. Alle Beteiligten wussten das. Zieten ging die Kandidaten im Geiste rasch nacheinander durch. War einer der sieben von gestern morgen ein Zündler? Nein. Er kannte ihre Interessenlage sehr genau. Ihr politisches Schicksal war auf Gedeih und Verderb mit dieser ganzen Sache verwoben. Und sein eigenes erst recht.
»Jochen, ich brauche Zeit. Du darfst die Polizei noch nicht über diesen Zusammenhang informieren. Verstehst du? Es steht zu viel auf dem Spiel.«
»Auf dem Spiel? Wovon redest du? Es geht unter anderem um deine Tochter!«
»Ja. Ich weiß. Und nimm das bitte als Maß meiner Einschätzung der Gefährlichkeit der Situation. Es geht um sehr viel. Wenn ihr …«, er korrigierte sich, »wenn wir einen Fehler machen, gibt es eine Katastrophe.«
Jochen Frieser fand keine Worte. Zieten spürte, dass der Staatsanwalt um Fassung rang.
»Verstehe ich dich richtig«, sagte er kühl. »Du willst, dass ich Ermittlungen …«
»Ich will, dass du genau abwägst, Jochen. Dass du mit mir überlegst, bevor du handelst. Vor allem will ich, dass du nichts überstürzt. Du hast eben gesagt, ihr hättet in den letzten Tagen drei solcher Vorfälle gehabt?«
»Ja«, antwortete Frieser ungeduldig. »Drei Frankensteinfiguren. Körperteile von Tieren und Menschen, zu grotesken Gebilden zusammengeschnürt.«
»Wo?«
Frieser zögerte. Aber dann nannte er die Fundorte.
»Also geht es tatsächlich gegen uns«, sagte Zieten.
»Das musst du mir jetzt aber bitte erklären«, erwiderte Frieser.
»Siegfried- und Borsigstraße. Das sind Fonds-Objekte von uns. Die Platte in Lichtenberg und das alte Umspannwerk sind beide in einem Fonds-Portfolio der BIG. Leider. Wegen solcher Engagements ist die Gesellschaft ja seit Herbst in Konkurs. Die BIG hat eine Menge Geld in den Sand gesetzt. Wie viel Geld, weiß glücklicherweise niemand.«
»Aha. Und was hat das mit dir zu tun?«
»Die BIG ist zu hundert Prozent über uns finanziert worden, Jochen. Sie war nie selbständig, sondern ein Investitionsgrab der Treubau-Gesellschaft und damit der VKG. Bei der BIG ist sehr viel schiefgelaufen, so dass wir demnächst eine kostspielige Korrektur durchführen müssen.«
»Kostspielig für wen?«
Zieten zögerte.
»Für das Land. Jochen, ich habe von ganz oben den Auftrag, diesen Schlamassel so geräuschlos wie möglich zu beseitigen. Das ist möglich, aber nur, wenn das Abgeordnetenhaus nicht zu früh davon erfährt. Die Abstimmung soll im Februar oder März stattfinden. Kern der ganzen Rettungsaktion ist ein Antrag zu Änderung der Eigentümerverhältnisse im Konzern. Ich habe dir ja schon gesagt, wie die Vorlage intern heißt.«
»Ganz oben wird also kräftig gemauschelt …«
»Habe ich ganz oben gesagt?«, unterbrach ihn Zieten. »Ich wollte natürlich ganz oben sagen, wenn du verstehst, was ich meine.«
Frieser erwiderte nichts. Zieten spürte, dass der Staatsanwalt langsam unsicher wurde.
»Je weniger du darüber weißt, desto besser. Mein Verdacht ist, dass mir jemand Angst machen will. Vielleicht irre ich mich, aber bevor dieser Verdacht nicht ausgeräumt ist, kann ich keine Polizisten brauchen, die überall herumstochern und mehr Schaden anrichten, als sie nützen. Diese Botschaften und diese Kadaver, ausgerechnet in Objekten der BIG – das ist doch nicht normal. In welche Richtung ermitteln denn deine Leute bisher?«
»Sexualdelikt«, gab Frieser preis – in einem Tonfall, der nicht verhehlte, was er davon hielt.
Zieten war jetzt hellwach.
»Überleg doch mal«, sagte er. »Die Person, die hinter diesen Vorgängen und Botschaften steckt, verfügt offenbar über hochsensible Informationen, setzt sie aber auf eine sehr verschlüsselte und diskrete Weise ein. Niemand hat bisher irgendwelche Forderungen an mich gestellt. Falls jemand Inga entführt hat, um Druck auf mich auszuüben, warum nimmt dann niemand Kontakt mit mir auf?«
»Und? Was vermutest du?«
»Ich denke immer noch nach. Wer immer diese Aktionen durchführt, verfügt über Insiderwissen, kommuniziert dieses jedoch in Chiffren.«
»Ein Geisteskranker?«
»Oder ein sehr raffinierter Strippenzieher.«
Jochen Frieser begriff nicht, aber Zieten sprach schon weiter. »Die Frage ist: In welcher Richtung muss man so jemanden suchen … oder besser: Wer ist geeignet, so eine Suche durchzuführen, vor allem angesichts der heiklen Lage, die entsteht, falls diese Vorgänge bekannt werden?«
»Worauf willst du denn damit hinaus?«
»Wer ermittelt in dem Fall?«
»Die siebte Mordkommission. Hauptkommissar Zollanger.«
»Okay. Hör zu. Gib mir eine Stunde. Lass die Ermittlungen weiterlaufen wie bisher. Ich werde jetzt ein paar Telefonate führen. Du hast recht. Ich verlange zu viel von dir. Ich werde das auf einer höheren Ebene regeln. Du wirst von weiter oben Weisung bekommen, wie du zu verfahren hast, und brauchst dir später keine Vorwürfe zu machen, gegen Prinzipien verstoßen zu haben …«
»Moment, Moment«, unterbrach ihn Frieser. »Was soll denn das nun heißen? Du kannst doch nicht einfach hinter meinem Rücken meinen Vorgesetzten befehlen …«
»Befehlen? Wer redet denn von befehlen. Jochen, geht das denn nicht in deinen Kopf? Jemand muss in einer heiklen Situation eine schwerwiegende Entscheidung fällen. Das ist nicht Dienst nach Vorschrift.«
Frieser stockte. Er hörte Zietens unterschwelligen Vorwurf deutlich genug. Und da du dich nicht traust, werde ich mir die Genehmigung eben von ganz oben holen. Das wird dir dort bestimmt Beförderungspunkte einbringen. Prinzipienreiter sind immer gesucht.
Zietens Stimme wurde eindringlicher: »Unser Gespräch gestern Abend war vertraulich, Jochen. Niemand weiß davon. Keiner wird dir vorhalten können, du hättest einen Ermittlungszusammenhang ignoriert.«
»Was erwartest du von mir?«, fragte Frieser missmutig.
»Einblick in die Ermittlungsakten. Und zwölf Stunden Zeit.«
»Bist du wahnsinnig? Das kann ich nicht. Dass kann mich mein Amt kosten.«
»Jochen! Willst du immer in diesem Amt bleiben? Meinst du, mit Dienst nach Vorschrift kommst du in Positionen, wo die großen Entscheidungen fallen? Meine Tochter ist vermutlich in Lebensgefahr. Weißt du, was es mich kostet, nicht zur Polizei zu gehen und sie endlich als vermisst zu melden? Ulla ist außer sich. Und glaubst du vielleicht, ich fühle anders? Aber ich bin für sehr viel mehr verantwortlich, daher handle ich so. Wir sind in einer Ausnahmesituation.«
»Für wen brauchst du die Akten?«
»Für einen Profi, Jochen. Kein Mensch wird etwas erfahren. Wenn wir diese Sache bis morgen diskret bereinigen, wird dir das gehörig nützen, das kann ich dir garantieren. Und sag bitte Marquardt und Sedlazek, sie sollen mich sofort anrufen.«
Er legte auf. Als er sich umdrehte, stand seine Frau in der Tür und starrte ihn an.
»Du unternimmst nichts, hast du mich verstanden?«, sagte er mit gepresster Stimme. »Und kein Wort. Zu niemandem!«
Sie nickte stumm und wandte sich ab.