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Elin hatte fasziniert zugehört und irgendwann aufgehört zu essen. Jetzt ertappte sie sich dabei, dass sie im Zimmer herumschaute, als biete es Anhaltspunkte oder Hinweise auf seinen ehemaligen Bewohner. Dreißig Jahre hatte Georg Zollanger hier verbracht, still, zurückgezogen. Und dann solch ein gewalttätiges Ende?
»Nachdem Sie mich an jenem Sonntagmorgen abgepasst hatten«, fuhr Zollanger fort, »war mir klar, dass Sie in das gleiche Wespennest hineinstoßen würden wie Ihr Bruder. Sie würden über kurz oder lang auffallen mit Ihren Nachforschungen. Außerdem war mir klargeworden, was diese Leichenteile zu bedeuten hatten. Am nächsten Tag ging ich in die Bibliothek. Ich lieh mir zwei Kunstbände über das Lorenzetti-Gemälde aus und fand meine Ahnung bestätigt. Die Parallelen waren überdeutlich. Aber was sollte ich tun? Dass Georg inzwischen sogar so weit gegangen war, Zietens Tochter zu entführen, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht.«
»Und wenn Sie es gewusst hätten?« unterbrach Elin. »Was hätten Sie getan?«
Zollanger zuckte ratlos mit den Schultern. »Ich hätte sofort den Staatsanwalt informiert. Dass Georg eine Frau ermordet hatte, um einen Körper zu haben, schien mir undenkbar. Die Leichenteile, die wir bisher gefunden hatten, stammten mit Sicherheit von einer Leiche, die er sich irgendwo besorgt hatte. Aber nach dieser Entführung hätte ich annehmen müssen, dass Georg wirklich durchgedreht war. Und er tat ja auch alles, um die Bedrohung echt aussehen zu lassen. Seltsamerweise wurde die Entführung nirgendwo gemeldet.«
Zollanger trank einen Schluck Wasser, musterte kurz sein Glas wie einen verdächtigen Gegenstand und stellte es wieder hin. »Das muss man sich einmal vorstellen!«, rief er erregt. »Zieten wusste seit Montagnachmittag, dass seine Tochter vermutlich entführt worden war. Aber er zögerte. Die Angst vor der Enthüllung seiner Machenschaften war offenbar größer als die Sorge um seine Tochter. Oder sagte ihm sein sechster Sinn, dass diese Drohung nur inszeniert war, dass man ihn unter Druck setzen wollte, aber nicht Ernst machen würde? Wie dem auch sei. Georg hatte Zietens Tochter in Sippenhaft genommen. Und ich frage mich, was ich erstaunlicher finden soll: Zietens Kaltblütigkeit oder seine Intelligenz. Denn das wirklich Bemerkenswerte war, dass er binnen weniger Stunden herausfand, dass nach allen Indizien, die Georg vorsätzlich gelegt hatte, niemand anderes als ich für die Torsi und die Entführung verantwortlich sein konnte.«
»Aber … wie kann er das entdeckt haben?«, fragte Elin verwundert. »Sie waren doch selbst gerade erst auf diesen Zusammenhang gestoßen.«
»Georg hat Zieten Drohbotschaften geschickt«, erklärte Zollanger. »Sie waren ebenso kryptisch wie die Torsi, Embleme mit lateinischen Inschriften. Er hatte ein gutes Dutzend davon vorbereitet. Ich habe noch einige, die er nicht verwendet hat, bei seinen Sachen gefunden.«
»Und wozu das alles?«
Zollanger setzte eine ratlose Miene auf. »Ich kann Ihnen Georgs Verhalten auch nicht ganz erklären. Er wollte Zieten reizen, ihm Angst machen. Und er tat dies natürlich aus seiner Vorstellungswelt heraus. Er wollte mit Zieten nicht verhandeln. Daher diese absolute Sprache. Kein Wenn und Aber. Keine Relativierung. Du sollst nicht töten. Du sollst nicht stehlen. Punkt. Als wir die Ermittlungen aufnahmen, wussten wir nichts von diesen Botschaften und hatten daher keinerlei Hinweis darauf, was für eine Symbolsprache den Leichenteilen zugrunde liegen könnte. Ja, wir wussten noch nicht einmal, ob es überhaupt eine gab. Und als ich zu ahnen begann, dass Georg hinter den Vorfällen steckte, behielt ich es für mich. Zieten muss über Frieser umfassenden Zugriff auf unsere Ermittlungen gehabt haben. Daher konnte er die Zeichen schneller lesen als meine Leute. Am Dienstag, wie Sie ja wissen, stand plötzlich dieser Killer in meiner Wohnung. Geschickt von Zieten, der ja schon auf dem Weg war. Ich wusste inzwischen, dass an dem ganzen Torso-Fall etwas oberfaul war und dass die Staatsanwaltschaft mit verdeckten Karten spielte. Aber dass Zieten so schnell …«
Elin schüttelte verständnislos den Kopf. »Die Staatsanwaltschaft? Das verstehe ich nicht.«
Zollanger hob entschuldigend die Hände.
»Verzeihen Sie«, sagte er und erklärte dann: »Als Sie mich an diesem Sonntag im Dezember abgepasst haben, hatten wir zwei der Torsi gefunden. Am darauffolgenden Dienstag früh gegen zwei Uhr wurde der dritte Fund gemeldet. In den Geschäftsräumen von einer von Zietens Firmen. Diesmal hatte mein Bruder sehr deutliche Spuren hinterlassen. Eine Videokamera in der Tiefgarage des Gebäudes hatte sowohl seinen Wagen als auch ihn selbst gefilmt. Jetzt sah ich, warum er meinen Führerschein gebraucht hatte. Er hatte den Wagen mit Sicherheit unter meinem Namen gemietet. Georg schaute sogar kurz in die Überwachungskamera. Nach der Auswertung des Videobandes wäre ich sofort als Hauptverdächtiger festgenommen worden. Jetzt hatte ich wirklich keine Wahl mehr. Ich musste Staatsanwalt Frieser alles erzählen. Ich konnte unmöglich für die Straftaten meines Bruders geradestehen. Außerdem wurde er mir wirklich unheimlich. Er hatte eine absurde Idee, die ich unter dem Eindruck von Lorenzettis Wandgemälde auf der Rückfahrt von Siena leichtfertig geäußert hatte, tatsächlich realisiert. Was man eben manchmal so dahersagt …«
»Ihr Bruder hat Sie beim Wort genommen.«
Zollanger nickte. »Nicht nur mich. Das war ja das Verrückte an ihm. Georg nahm die ganze Welt beim Wort.«
Eine Weile sprach keiner der beiden. Der Heizofen rauschte.
»Als ich Staatsanwalt Frieser am Tatort aufsuchte«, fuhr Zollanger schließlich fort, »musste ich aber feststellen, dass ich offenbar nicht der Einzige war, der ein Geheimnis mit sich herumtrug. Frieser verhielt sich sonderbar. Auf Torso Nummer drei waren Haare von einer anderen Person gefunden worden. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt wie gesagt noch nichts von Inga Zietens Entführung. Aber Frieser muss darüber informiert gewesen sein, denn er verlangte plötzlich eine Haarprobe und verschwand sofort damit. Warum tat er das? Die einzig plausible Erklärung war, dass er einen Verdacht hatte, von wem die Haare stammten. Aber warum hielt er diese Information vor uns zurück? Ich blieb bei meinem Vorsatz, ihn aufzuklären. Aber sein Verhalten irritierte mich. Ich wollte erst verstehen, was Frieser umtrieb, bevor ich ihm reinen Wein einschenkte. Und je länger ich nachdachte, desto klarer wurde mir nur eines: Georgs Aktion hatte wirklich einen Nerv getroffen. Der Apparat reagierte. Tastend. Unsicher. Irgendjemand war offenbar sehr nervös geworden. Anders war Friesers Verhalten nicht zu erklären. Er sammelte Spuren. Aber für wen?«
»Und bevor Sie zu einem Schluss kamen, stand der Killer in Ihrer Wohnung.«
»Ja. Und dafür gibt es eben nur eine Erklärung: Zieten muss Zugriff auf die Ermittlungen gehabt haben. Was dann geschah, wissen Sie ja. Unsere Flucht. Mein Versuch, Sie zu bewegen, Berlin zu verlassen. Ich musste Georg finden, ihn stoppen. Schon deshalb konnte ich mich nicht lange mit Ihnen aufhalten. Ich hatte nicht viel Zeit. Frieser würde mich innerhalb der nächsten Stunden zur Fahndung ausschreiben. Ich musste Georg erreichen und irgendeine Lösung für diese verfahrene Situation finden. Und wie bedroht Sie selbst waren, haben Sie ja gesehen.«
Elin nickte. »Ja. Ich habe diese Leute völlig unterschätzt.«
»Nicht nur Sie. Wenn Sie nicht zufällig in meiner Wohnung gewesen wären …« Er stockte. Dann zuckte er mit den Schultern. »Na ja, die Sache wäre dann wohl sehr schnell zu Ende gewesen. Und wie ernst es denen war, haben Sie selbst erlebt. Die blieben an Ihnen dran, um mich zu finden. Und diese Rechnung ist ja auch fast aufgegangen.«
Seine Augen bekamen plötzlich einen furchtsamen Ausdruck.
»Sind Sie eigentlich sicher, dass Ihnen niemand gefolgt ist, Elin?«
»Hierher?«, fragte sie. »Wer hätte mir da schon folgen können?«
Zollanger griff erneut nach dem Glas Wasser und trank es leer. Wieder beruhigt fuhr er fort: »Georg und ich waren am Ostbahnhof, als Ihre Nachricht kam. Wir saßen im Wagen und redeten, stritten eigentlich. Wir hatten keinen klaren Plan. Wie sollten wir zu Ihnen durchkommen? Georg kam auf die Idee, sein Motorrad zu nehmen, mit dem er zwischen Müllrose und Berlin gependelt war, und in der Nähe der Sozialstation einen Polizeiwagen zu rammen. Das taten wir auch. Der Streifenwagen verfolgte uns, konnte uns aber natürlich nicht einholen. Ich sprang vor dem Wohnblock ab, Georg fuhr ein Stück weiter, stellte das Motorrad irgendwohin und kam von der anderen Seite. Fast wäre er dem Killer da schon in die Arme gelaufen. Aber er schlich an ihm vorbei. Wir trafen uns im Heizungskeller und machten uns auf die Suche nach Ihnen. Den Rest der Geschichte kennen Sie. Ich fand Sie, nahm Ihnen die Schleuder ab und versteckte mich in einer der Mauernischen. Georg lauerte weiter hinten. Der Plan war gewesen, den Mann zu überwältigen, sobald er an mir vorbei war. Aber er …«
Zollanger stockte. Seine Stimme war plötzlich belegt. Er räusperte sich und fuhr fort: »Als der erste Schuss fiel, bin ich aus der Nische herausgestürzt. Es war ja stockdunkel. Und dann ging alles so schnell. Beim nächsten Aufleuchten des Mündungsfeuers sah ich Georg mit ausgebreiteten Armen über Ihnen stehen. Ich spannte so schnell ich konnte die Schleuder, aber der Killer feuerte wie ein Verrückter auf Georg. Bei jedem Lichtblitz sah ich, wie die Kugeln Georg zerfetzten. Ich hätte sofort schießen müssen. Aber ich war zu langsam. Und wissen Sie, warum? Es war natürlich absurd, aber dieser Anblick … Georg, mit ausgebreiteten Armen über Ihnen, wie er diese tödlichen Kugeln empfing. Ich war wie gelähmt. Er opfert sich, durchfuhr es mich. Nicht für Sie. Für mich! Er warf die letzten paar Monate seines Lebens hin für mich. Für seinen feigen Schwächling von Bruder.«
Elin fröstelte. Zollangers Augen waren weit aufgerissen.
»Natürlich habe ich mir das nur eingebildet. Georg ist diesem gewissenlosen Mörder einfach ein paar Sekunden zu früh vor die Pistole gelaufen. Wir haben die Sache völlig idiotisch angepackt.«
Er starrte wütend vor sich hin. Die Kerzen auf dem Tisch flackerten ein wenig. Seine Züge lösten sich allmählich wieder, und er wirkte nur noch unendlich traurig.
»Obwohl ich es besser weiß … manchmal frage ich mich, ob er sich das nicht alles von Anfang an so vorgestellt hat. Dass ich irgendwann hier sitze, in seiner verdammten Mönchszelle. Ist das alles nicht total verrückt?«
Elin wusste nicht, was sie erwidern sollte. Zollanger tat ihr leid. Sie schaute ihn an und versuchte sich vorzustellen, wie seine innere Bilanz aussah. Wie es sich anfühlte, einen Bruder zu verlieren, wusste sie. Aber so? Sie war versucht, ihn über Georg auszufragen. Aber sagte dieser Ort nicht alles? Sie verstand diesen Menschen sofort, ohne ihm jemals begegnet zu sein.
Zollangers Niedergeschlagenheit schien grenzenlos. Sein Gesicht wirkte eingefallen. Elin wollte etwas Aufmunterndes sagen, irgendetwas, das die düstere Stimmung der letzten Minuten aufhellen würde. Aber es dauerte eine Weile, bis ihr etwas einfiel.
»Ihre Kollegin hat mich aufgesucht«, unterbrach sie endlich die Gesprächspause.
»Was?«, stammelte Zollanger ungläubig. »Sina?«
Elin nickte. »Sie hat mich ausgefragt. Über Sie. Über uns.«
Zollanger schaute sie völlig konsterniert an. Aber das leichte Lächeln, das allmählich von seinen Zügen Besitz nahm, machte sie jetzt froh.
Die wenigen Fragen, die sie noch hatte, konnte sie sich nun selbst beantworten. Zollanger hatte sie beschworen zu schweigen, damit es zu einem Prozess kommen würde, der ihm als Bühne für seine Enthüllungen dienen konnte. Und das hatte funktioniert. Er war aus Berlin verschwunden, hatte die Ereignisse aus sicherem Abstand verfolgt, seine Zeugenaussage gefilmt und sich dem Orden seines Bruders anvertraut. Und die hatten ihn aufgenommen. Den Mörder des Mörders eines ihrer Ordensmitglieder. Den Bruder eines Bruders. Rechnete man hier so? Oder gab es andere Gründe? War der Schutz vielleicht auch nur befristet?
»Was werden Sie jetzt tun?«, fragte sie nach einer Weile.
»Ich?« Er lachte leise. »Was kann ich schon tun? Ich kann froh sein, dass man mich versteckt. Dass man mir ein Bett und Verpflegung anbietet. Aber Sie, Elin? Was ist mit Ihnen? Sie sind frei. Sie sind jung. Was sind Ihre Pläne?«
Sie zuckte mit den Schultern. Dann sagte sie: »Nach allem, was ich begriffen habe, braucht man wohl zwei Dinge, um in dieser Scheißwelt etwas zu verändern.«
»Und? Was wäre das?«, wollte er wissen. »Pinsel und Farbe?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Haut und Knochen?«, versuchte er es ein zweites Mal. Sie verneinte erneut.
»Kunst oder irgendwelche Symbole verändern gar nichts«, sagte sie trotzig. »Man braucht eine Steinschleuder. Und eine Banklehre.«