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Er war nach der Besprechung noch einmal ins Büro zurückgekehrt. Roland Draeger und Thomas Krawczik hatten sich mit dem Sicherheitspersonal des Trieb-Werks unterhalten. Offenbar war es in den frühen Morgenstunden nicht schwierig, ohne Kontrolle in den Club hineinzukommen. Ein Gast mit Gepäck würde nicht besonders auffallen. Es kamen viele Touristen zum Chill-out. Das Trieb-Werk lag nicht weit weg vom Flughafen Tempelhof und war für manche die letzte Clubstation vor dem Abflug. Viele kamen mit Taschen oder kleinen Koffern, vor allem bei Themennächten und Ledertreffen. Man musste ja die ganzen »Utensilien« irgendwie transportieren.

»Was denn für Utensilien?«, hatte Zollanger wissen wollen.

»Masken«, sagte Krawczik. »Schnallen. Cremes. Erotikzeug.«

 

Zollanger fuhr gegen sieben nach Hause. Seine Wohnung in der Bartningallee lag im achten Stock eines Hansaviertel-Neubaus. Sie hatte nichts Besonderes zu bieten. Neben einem Wohnzimmer verfügte sie über zwei Schlafzimmer, eine Cockpit-Küche und ein kleines, fensterloses Bad. Das Treppenhaus war kahl und roch entweder nach Putzmittel (montags) oder nach Essen (den Rest der Woche). Der Fahrstuhlkorb war so eng, dass man Gefahr lief, den Nasenwind von Mitreisenden zu spüren, weshalb Zollanger die acht Treppen nicht selten zu Fuß ging.

Nach seiner letzten Trennung hatte er keine Lust gehabt, sich wochenlang Wohnungen anzuschauen. Bei dieser hatte ihn die Aussicht überzeugt. Der Balkon, den man sowohl von der Cockpit-Küche als auch vom Wohnzimmer aus betreten konnte, war zwar zu schmal, um draußen sitzen zu können. Aber wenn man hinaustrat, sah man in fast alle Himmelsrichtungen auf die Baumkronen des Tiergartens hinab. Nur in südlicher Richtung verstellte der Totempfahl der Reichsgründung ein wenig die Sicht. Aber wenn die Sonne schien, glänzte die goldene Else und blinkten Bismarcks vergoldete Beutekanonen von Sedan.

Er warf seinen Mantel auf das Sofa, zog seine Schuhe aus, holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank und trank die Dose im Stehen in einem Zug halb leer. Sein Blick fiel auf den Couchtisch und einen braunen DIN-A4-Umschlag. Er setzte sich auf die Couch und trank weiter. Der Polizeipräsident zu Berlin stand auf dem Absender. Arbeitsmedizinischer Dienst. Er schob den Umschlag mit den Zehen zur Seite. Der Bericht lag darunter, genauso, wie er ihn gestern hingeworfen hatte. Psychologisches Gutachten. Patient: Martin Zollanger, Hauptkommissar.Er schloss die Augen. Es war der einzige Ratschlag dieser Psychotussi, den er sich zu Herzen genommen hatte: Schließen Sie die Augen und konzentrieren Sie sich einfach nur auf Ihren Atem. Zählen Sie langsam bis hundert. Wenn Sie es richtig machen, dann vergessen Sie das Zählen irgendwann.So weit hatte er es zwar noch nie geschafft. Er kam immer bei vollem Bewusstsein bei hundert an. Aber die Übung gefiel ihm trotzdem.

Er trank noch einen Schluck und begann zu lesen. Die achtseitige Stellungnahme enthielt nicht viele Überraschungen. Zu ihrer Entschuldigung musste man sagen, dass diese Psychologen ja auch nicht viel besser dran waren als Leute wie er. Sie mussten jede Menge widersprüchlicher Fakten und Informationslücken zu einer überzeugenden Geschichte zusammenkleben. Und dann war die große Frage zu entscheiden: War Hauptkommissar Martin Zollanger nach seinem Ausraster noch für den Polizeidienst geeignet? Konnte irgendjemand erklären, warum ein sonst besonnener und stets überlegt handelnder Kollege plötzlich bei einem Einsatz die Nerven verlor? Ja, was sollte Frau Doktor da schon anderes schreiben, als dass ehemalige Ost-Bullen ein Autoritätsproblem haben?

Herr Zollanger wirkt kontrolliert und besonnen. Er behauptet einzusehen, dass sein Verhalten inakzeptabel war, aber es erscheint zweifelhaft, dass eine wirkliche Einsicht in die Falschheit seiner Handlungsweise gegeben ist. Herr Zollanger steht der Therapiesituation zutiefst misstrauisch gegenüber.

Das war wohl leicht untertrieben.

Die subjektiv wahrgenommene Kapitulation der Polizei vor dem Verbrechen macht ehemaligen Volkspolizisten erheblich mehr zu schaffen als ihren Kollegen aus dem Westen.

Er versuchte, die Sätze vor sich auf dem Papier irgendwie mit der Situation in Verbindung zu bringen, auf die sie sich bezogen: mit dem blutüberströmten Vierzehnjährigen auf dem regennassen Gehsteig. Mit der schreienden Mutter, die die ausgeschlagenen Zähne ihres Kindes vom Boden aufsammelte, während Sanitäter versuchten, das vor Schmerzen zuckende Opfer zu versorgen. In geringer Entfernung die grinsenden Visagen der beiden festgenommenen Siebzehnjährigen, Intensivtäter mit einem Vorstrafenkonto von weit über dreißig Straftaten, die sich »den kleinen Wichser« vorgeknöpft hatten, weil der seine Turnschuhe behalten wollte.

Für ehemalige Volkspolizisten steht die Durchsetzung staatlicher Interessen vor dem Interessenschutz von Individuen.

Über dreißig Fälle von Raub, Diebstahl, Nötigung und Körperverletzung reichten also nicht aus, ein staatliches Interesse zu begründen, das es gestattete, das individuelle Interesse pathologischer Schläger und Menschenquäler zu beschneiden und sie aus dem Verkehr zu ziehen. Und darunter litten ostdeutsche Polizisten angeblich mehr als westdeutsche? Das war schon interessant. Aber warum sprach die Psychologin überhaupt von Polizisten? Hatte die Polizei denn kapituliert? Über dreißig Mal hatte sie eingegriffen, gehandelt, ermittelt, die Schuldigen gefasst und der Justiz übergeben. Wenn jemand kapituliert hatte, dann die Justiz.

Dabei war er nicht einmal im Dienst gewesen. Er saß zufällig mit im Wagen, als der Notruf kam. Und er hatte sich auch gar nicht einmischen wollen. Die Sache war längst erledigt, als sie eintrafen. Die beiden Schläger saßen im Streifenwagen und grinsten. Das war alles. Der übel zugerichtete Junge wurde abtransportiert. Der Computer spuckte das Vorstrafenregister der beiden Schläger aus. Die Mutter schrie immer noch. Einer der Schläger rief ihr zu, sie solle aufpassen, denn wenn sie so weiterschreien würde, könnte es sein, dass sie auch bald aus der Schnabeltasse frühstücken würde.

Und da hatte er zugeschlagen.

Die autoritären Grundmuster der früheren DDR-Polizei werden vermutlich eher unter- als überschätzt. Nicht nur die wiedervereinigungsbedingte Verlierermentalität kann zu enormer Frustration und Aggression führen. Auch fällt es vielen ehemaligen Volkspolizisten schwer, sich daran zu gewöhnen, dass eine Gesellschaft mit Kriminalität leben muss und kann.

Er erinnerte sich, dass seine Handknöchel schmerzten, dass er seine Arme nicht bewegen konnte, dass sie mit Blaulicht durch die Stadt gerast waren und dass der Schläger ihn mit grenzenlosem Erstaunen anstarrte, während Zollangers Handabdruck sich allmählich rot auf seiner Backe abzeichnete. Jemand schrie Zollanger immer wieder an, aber er verstand nichts. Dann hielt der Bus in einem Hof, er wurde aufgefordert auszusteigen und in ein Gebäude abgeführt. Der Polizeiwagen fuhr weiter.

Wer seinen Beruf durch die Anzahl der Jahre definiert, die er Leute wegsperren kann, wird in der modernen Polizeiarbeit wenig Erfolgserlebnisse haben. Viele ehemalige Volkspolizisten haben Schwierigkeiten im Umgang mit Komplexität und Mehrdeutigkeit.

Zollanger warf die Dokumente vor sich auf den Couchtisch und erhob sich. Udo hatte recht gehabt. Er hätte das Gutachten gar nicht erst lesen sollen. Es war vernichtend ausgefallen. Aber was ihn kränkte, war gar nicht das harsche Urteil über ihn.

Das Unerträgliche daran war etwas ganz anderes. Er kam in diesen Zeilen gar nicht vor. Ja, das Gutachten attestierte ihm nicht einmal, ein Täter zu sein. Mein Gott. Er hatte zugeschlagen. Er. Ein Polizist! Reichte das nicht? War nicht wenigstens dies ein Beweis, dass er existierte? Dass er einen freien Willen besaß, entschieden hatte, das persönlich Richtige, aber gesellschaftlich Falsche zu tun – Selbstjustiz üben zu wollen bei vollem Risiko bezüglich der Konsequenzen?

Aber nein. Er war nicht einmal ein Täter. Ebenso wenig wie die beiden Schläger Täter sein durften. Er war nur ein frustrierter Ossi. Und die beiden Schläger konnten vermutlich hundertmal vor Gericht erscheinen – man würde ihnen trotzdem niemals zugestehen, autonom und eigenverantwortlich böse gehandelt zu haben. Ja, vielleicht war das sogar einer der Gründe für ihre unendliche Kette von Brutalität und Gemeinheit: Das politisch korrekte Rechtssystem dieser Gesellschaft hatte sie so weit erniedrigt, dass es sogar verschmähte, sie zu bestrafen. Sie waren realitätslose Subjekte, Unterworfene im letzten Wortsinn, absolute Opfer. Sie konnten quälen und demnächst wahrscheinlich auch noch morden, so viel sie wollten: Sie würden nie das Adelsprädikat eines Täters bekommen, sondern nur die armselige Wartezimmeridentität eines Patienten. Selbst als Täter waren sie noch Opfer. Existenzlos. Eine Folge von Umständen.

Er schaute sich die Zwanzig-Uhr-Nachrichten an, blieb eine halbe Stunde vor der x-ten Dokumentation über das Attentat vom 11. September sitzen, aß eine Banane und schaltete den Fernseher aus, als eine Talkshow zum Thema »Pro und Contra Euroeinführung« begann. Wie viele Währungsunionen waren eigentlich in einem Leben zulässig, fragte er sich. Das Ende der Ostmark hatte seine Ersparnisse halbiert. Durch die Einführung des Euro war seine Kaufkraft nun noch einmal um mindestens ein Drittel gesunken. Aber immerhin hatte er mit Ersparnissen schon lange keine Probleme mehr.

Er stand auf, ging den Flur hinab, öffnete die Tür zum linken Schlafzimmer und legte den braunen Umschlag auf einem Ikea-Regal ab. Dabei ließ ihn die Ironie der Situation schmunzeln. Was hätte die Psychologin wohl erst in ihren Bericht geschrieben, wenn sie gewusst hätte, was alles auf diesen Regalen lag? Er ließ seinen Blick über die gut gefüllten Aktenordner schweifen. Dort, wo keine Ordner standen, stapelten sich Fotokopien und Zeitungsausschnitte. An der Wand, wo sich das Fenster befand, stand ein kleiner Schreibtisch. Daneben ein Gästebett und ein weißer, schmaler Kleiderschrank von einer noch billigeren Sorte als das Ikea-Regal. Zollanger ging auf den Schrank zu und öffnete ihn. Er war so gut wie leer. Nur ein einziges Kleidungsstück hing darin. Er holte es heraus, musterte den schwarzen Stoff, hielt sich den Umhang, der wie eine Richterrobe aussah, vor den Körper und betrachtete sich kurz im Spiegel, bevor er ihn wieder in den Schrank zurückhängte.

Er ging zum Schreibtisch. Papiere lagen kreuz und quer übereinander, bedeckt von einer feinen Staubschicht. Der Abreißkalender seiner Autowerkstatt war fast in den Spalt zwischen Tisch und Wand gerutscht und zeigte den 24. November an. Zollanger musterte den Tisch lange. Die Notiz von Tanja Wilkes kam ihm in den Sinn. Der Besuch des Mädchens. Er ging wieder zum Aktenregal und schaute in die zweitoberste Reihe. »Hilger« stand auf nicht weniger als vier Aktenordnern. Die Ordner darüber hießen anders. »Zieten« oder »BIG«. Der erste Ordner in der obersten Reihe war gelb und schmal. Beschriftet war er mit »Anton Billroth«. Zollanger legte den Finger in das mit einem Metallring verstärkte Loch, zog den Ordner heraus und öffnete ihn.

Auf der Innenseite des Aktendeckels klebte ein Foto. Anton Billroth stand darunter. 14. 3. 1943–7. 12. 2002. Zollanger betrachtete es eine Weile. Dann wanderte sein Blick zu dem handschriftlich verfassten Brief, der zuoberst abgeheftet war.

4. Dezember 2002

Lieber Martin. Dein Besuch heute hat mir gutgetan. Aber machen wir uns nichts vor. Sehr viele Besuche werde ich nicht mehr empfangen können. Du willst davon nichts hören, aber ich weiß sehr gut, wie es um mich steht. Sie werden übermorgen versuchen, die alten Leitungen um die Pumpe herum freizustemmen, und wenn das nicht klappt, dann ist es zu Ende. Ich habe eine realistische Einschätzung meiner Chancen, und wenn du diesen Brief bekommst, so bedeutet das, dass ich richtig gelegen habe mit meiner Ahnung.

Ich bin übrigens nicht zu bedauern. Es gibt weitaus schlimmere Todesarten als die, aus einer Narkose nicht mehr zu erwachen. Und wenn ich an die Vorgänge denke, von denen ich in den letzten Monaten manchmal ansatzweise gesprochen habe, solltest du mich ohnehin eher beglückwünschen. Ich habe immer nur Andeutungen gemacht. Und als du genauer nachgefragt hast, habe ich natürlich geschwiegen. Beruf verpflichtet, nicht wahr? Aber der Grund war ein ganz anderer. Ich hatte Angst, Martin.

Vor etwa sechs Monaten bekam ich Unterlagen zugespielt. Ich wusste nicht, wer der Informant war. Aber eines sah ich recht schnell: Wenn die Dokumente echt waren, lief der Informant durchaus Gefahr, demnächst bei euch ein Aktenzeichen zu bekommen.

Die Geldströme, die in den gehackten Dateien dokumentiert sind, widersprechen jeglicher wirtschaftlichen Logik. Dennoch fanden und finden sie statt. Ich habe natürlich versucht, sie zu verstehen. Irgendwann habe ich äußerst vorsichtig damit begonnen, ein paar der Personen zu durchleuchten, die mit der Sache zu tun haben. Das war äußerst heikel, denn es sind klingende Namen, hochstehende Persönlichkeiten, einflussreiche Leute aus den obersten Etagen. Drei Tage nach meinen ersten harmlosen Anfragen wurde mein Büro durchsucht. Der »Besucher« muss von innen gekommen sein, denn er hat so gut wie keine Spuren hinterlassen. Sie waren ganz offensichtlich hinter meiner Quelle her. Ich habe den Kontakt sofort abgebrochen. Alle Spuren zu ihm hatte ich vorsichtshalber schon zuvor verwischt. Dann habe ich lange nachgedacht. Was hatte ich in der Hand? Illegal erworbene Unterlagen von einem anonymen Hacker. Und wer war die Gegenseite? Mein oberster Dienstherr.

Erinnerst du dich noch an unser Gespräch während eines Spaziergangs am Wannsee vor fünf oder sechs Jahren? An Allerheiligen? Ich hatte dich damals gefragt, wie es eigentlich war, in einem totalitären Staat Polizist zu sein. Deine Antwort lautete nur: Warum WAR? Und dann haben wir lange gestritten, über Rechtsstaatlichkeit, über Moral und Politik, über parlamentarische Kontrolle. Ich musste in letzter Zeit oft an dieses Gespräch denken.

Du hast damals gesagt, du hättest einmal ernsthaft daran geglaubt, dass in einer wahrhaft sozialistischen Gesellschaft das Verbrechen irgendwann verschwunden sein würde. Mein Berufsethos lautete anders. Ich war immer davon überzeugt, dass jede Generation Homo sapiens unweigerlich einen Haufen Hurensöhne hervorbringt, und dass es die Aufgabe der Gesellschaft sein muss, dieses Wolfsrudel in Schach zu halten. Tja, mein Lieber. Wir haben uns beide geirrt. Anstatt der Verbrecher ist der Sozialismus verschwunden. Und das Wolfsrudel gewinnt jede Wahl.

Ich habe meinem Informanten dringend geraten, die Finger von der Sache zu lassen und nicht ein zweites Mal zu versuchen, Vorgänge aufzudecken, die man besser stillschweigend erträgt. Warum den Helden spielen? Für wen? Für die armen Schweine, die die obszöne Raffgier unserer »Elite« ausbaden müssen? Für das Volk, das diese Halunken auch noch wählt? Für die Generation Stöpsel in den Ohren, die gar nichts kapiert?

Er ist untergetaucht. Ich habe nichts mehr von ihm gehört. Aber ich mache mir Sorgen um ihn. Ich habe ihm deine private Mail-Adresse gegeben. Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel. Falls er sich bei dir meldet, dann hilf ihm bitte.

Er wird sagen, er heiße Anton …

Zollanger blätterte um. Die E-Mail, die dort ausgedruckt war, stammte vom 24. September 2003. Es war nur ein Satz:

Anton bittet dringend um Rückruf unter folgender Nummer …

Er blätterte weiter, überflog die Zeitungsausschnitte, die Kopien der Ermittlungsakten, die er sich im November in einem Anflug von schlechtem Gewissen gemacht hatte. Dann schaute er wieder die E-Mail an, das letzte Lebenszeichen, die Handynummer, die er nie angerufen hatte.