28
Irgendwann stellte Hans-Joachim Zieten fest, dass er überhaupt nicht wusste, wohin er fuhr. Seine Frau hatte schon zweimal auf seinem Handy angerufen, aber er hatte nicht geantwortet. Er wusste, dass sie schreckliche Angst hatte. Er kannte seine Frau und wollte gar nicht wissen, welche Horrorszenarien sich in ihrer Phantasie gerade abspielten.
Vor allem hatte er keine klare Vorstellung davon, was er jetzt tun sollte. Diskretion war jetzt erst einmal das Wichtigste. Überreaktionen waren nie gut. Natürlich musste er zur Polizei gehen. Mit diesem Vorsatz hatte er seinen Wagen gestartet. Aber dann hatte er gezögert. Sollte er nicht lieber noch ein paar Stunden abwarten? Vielleicht tauchte Inga wieder auf, und es gab eine ganz einfache Erklärung für die Situation? Würde man ihn überhaupt ernst nehmen? Aber sosehr er sich auch bemühte, Ruhe zu bewahren, die beiden merkwürdigen Nachrichten auf dem Beifahrersitz ließen ihn frösteln. Vor allem die zweite Botschaft lähmte ihn. Mein Leben ist der Tod. Und dazu das Sinnbild des Phoenix. Ausgerechnet heute. Konnte das Zufall sein? Vor knapp zwei Stunden hatte er in einer heiklen und vertraulichen Unterredung seine Strategie erläutert. Und jetzt das.
Zieten schluckte. Er hatte gar keine Wahl. Er musste sofort etwas unternehmen. Aber was? Die Phoenix-Vorlage war streng geheim, denn sie war illegal. Niemand durfte davon erfahren. Von den lateinischen Botschaften wusste außer ihm bisher niemand. Er konnte sie verschwinden lassen. Aber wie sollte er dann seine Sorge begründen, dass seiner Tochter etwas zugestoßen sein könnte? Sie war nicht in ihrer Wohnung, und ihr Auto stand unverschlossen in der Garage. Außerdem hatte sie ihr Handy nicht dabei. Die Polizei würde ihn auslachen. Die Botschaften also doch vorlegen, ohne sich dazu zu äußern? Nur eine oder alle beide? Undenkbar.
Je länger er darüber nachdachte, desto wütender und verzweifelter wurde er. Nur sehr wenige Leute wussten von dem Papier. War vorstellbar, dass einer von ihnen ihn unter Druck setzen wollte? Mit derartigen Mitteln? Zieten schob den Gedanken sofort wieder beiseite. Aber der Verdacht kehrte immer wieder zurück, hartnäckig wie eine Schmeißfliege. Wollte man ihn erpressen? Mit Mafiamethoden? Hatte jemand, der seine Vorschläge nicht mochte, sich das ausgedacht? Nein, Ullas Hysterie hatte ihn angesteckt. So etwas gab es doch hier nicht. Und warum denn er? Warum seine Tochter? Was hatte er denn letztlich mit der Sache zu tun? Er führte ja nur aus, was irgendwo weit über seinem Kopf beschlossen worden war. Zugegeben, er stellte die Instrumente zur Verfügung. Aber die Entscheidungen trafen andere. Leute, die sehr gut geschützt waren. Jedenfalls besser als er!
Er fuhr rechts heran und schaltete den Motor aus. Es regnete leicht, und nach wenigen Augenblicken verschwamm die Straße hinter Schlieren auf seiner Windschutzscheibe. Sein Handy klingelte erneut. Schon wieder Ulla. Er drückte den Anruf weg, öffnete sein Adressbuch und scrollte durch die Einträge. Als er den gesuchten Namen gefunden hatte, markierte er ihn und drückte auf die Ruftaste.
»Hier Frieser.«
»Hallo, Jochen. Hier ist Hajo.«
»Hajo, na so eine Überraschung. Dass du dich einmal meldest. Wie geht es dir? Was verschafft mir die Ehre?«
»Bist du gerade sehr beschäftigt? Ich bräuchte deinen Rat.«
»Ich höre.«
»Nein. Nicht am Telefon. Können wir uns kurz sehen … in, sagen wir, fünfzehn Minuten?«
Zieten spürte, dass Frieser zögerte. Aber nur kurz.
»Ich bin noch im Büro«, sagte Frieser. »Wo bist du?«
»Nicht weit weg. Ich komme in die Turmstraße und hole dich ab.«
»Okay. Komm lieber zum Seiteneingang Wilsnacker. Da ist immer Platz. Bis gleich.«
Zieten brauchte knapp zwanzig Minuten, und als er an der verabredeten Stelle eintraf, stand Jochen Frieser schon neben der Drehtür. Zieten fuhr an die Bordsteinkante und öffnete die Beifahrertür.
»Komm. Steig ein.«
Jochen Frieser nahm Platz und schloss die Tür. »Schön, dich zu sehen«, sagte er. »Wohin gehen wir? Sollen wir was essen?«
»Nein«, sagte Zieten. »Tut mir leid.« Er fuhr ein paar Meter weiter, entdeckte eine Parklücke, lenkte den Wagen hinein und schaltete den Motor aus. Frieser sah ihn verwundert an. Zieten kam ohne Umschweife zur Sache.
»Jochen, ich habe sehr wenig Zeit und ein Riesenproblem.«
Frieser musterte Zieten kurz. Dann sagte er nur: »Wofür hat man Freunde, nicht wahr? Also. Was ist? Schieß los.«
»Angenommen, ich ginge zur Polizei und meldete meine Tochter als vermisst? Was würde da passieren?«
Frieser zuckte zusammen. »Machst du Witze, Hajo? Ist Inga etwas passiert?«
»Ich weiß es noch nicht, Jochen. Aber das war nicht meine Frage. Was passiert, wenn ich zur Polizei gehe?«
»Wenn so jemand wie du mit so einem Verdacht zur Polizei geht, dann springt natürlich sofort der ganze Apparat an. Das heißt, vorausgesetzt, es gibt begründete Verdachtsmomente.«
»Was heißt das – der Apparat springt an? Was passiert im Einzelnen?«
»Normalerweise passiert bei Vermisstenmeldungen von Erwachsenen erst einmal gar nichts. Die Betroffenen tauchen in den meisten Fällen nach ein paar Tagen von selbst wieder auf. Der Verdacht, dass eine Straftat vorliegt, muss sich erst einmal erhärten. Bei Personen des öffentlichen Lebens ist das anders. Das Landeskriminalamt würde recht schnell sicher sein wollen, dass kein begründeter Verdacht vorliegt. Aber warum um Gottes willen fragst du mich das? Was ist denn bloß los?«
Zieten war blass geworden. Landeskriminalamt. Das Wort löste nun doch massive Ängste in ihm aus, die er bisher verdrängt hatte. Wie konnte er überhaupt hier sitzen? Warum hatte er nicht längst Alarm geschlagen, selbst auf die Gefahr hin, dass seine heiklen Geschäfte offenbar wurden?
»Es ist in aller Kürze so, Jochen: Ich arbeite zurzeit an einer ziemlich umstrittenen Sache. Es geht um viel Geld. Sehr viel Geld. Die Sache ist auch politisch extrem heikel, und je nachdem, wie geschickt oder tölpelhaft das Ganze gehandhabt wird, kann es sich auch auf die nächsten Wahlen auswirken. Ich habe heute Nachmittag einigen Beteiligten einen Lösungsvorschlag gemacht. Das Dossier ist streng vertraulich. Wir nennen es intern nur Phoenix-Vorlage. Während der Sitzung, wie gesagt, es ist gerade mal ein paar Stunden her, da rief mich plötzlich Ulla an. Sie war besorgt, weil Inga eine Verabredung mit ihr hatte platzen lassen und nicht erreichbar war. Also wollte ich nach der Sitzung zu Ingas Wohnung. Als ich losfuhr, steckte dieser Zettel an meinem Wagen. Ich dachte mir nichts dabei, traf Ulla in Ingas Wohnung, aber von Inga keine Spur. Ihr Handy lag in der Küche. Ihr Auto stand unverschlossen in der Garage. Im Kofferraum lag das hier. Seit gestern Abend hat niemand etwas von ihr gehört. Also, was soll ich tun?«
Jochen Frieser betrachtete die beiden Botschaften. Zieten wartete, aber Frieser ließ sich Zeit mit einer Antwort.
»Es gibt keine List gegen den Zufall«, sagte er schließlich.
»Wie bitte?«
»Die Inschrift. Nullus Dolus Contra Casum.«
Zieten erwiderte nichts. Seine Miene verfinsterte sich. »Also ist es wohl so. Jemand will mich unter Druck setzen und hat Inga entführt.«
Frieser legte die beiden Botschaften auf dem Armaturenbrett ab. Dann schüttelte er skeptisch den Kopf.
»Ich weiß nicht«, überlegte er. »Was treibt Inga denn so zurzeit? Hast du mir nicht erzählt, dass sie permanent nur in Clubs herumhängt und sich amüsiert?«
»Ja. Schon. Hat ja wohl auch eine kleine Pause verdient nach dem Studium. Das Mädchen hat viel gearbeitet. Das Praktikum in Chicago war ziemlich hart.«
»Ist es dann merkwürdig, wenn sie eine Nacht nicht zu Hause ist?«
»Das habe ich Ulla ja auch gesagt. Aber das hier …?«
Frieser hielt die beiden Botschaften nebeneinander und betrachtete sie eingehend.
»Wie viele Leute wissen von dieser Phoenix-Sache?«
»Nicht viele. Ein Dutzend vielleicht.«
»Um wie viel Geld geht es denn?«
»Genau weiß das niemand. Im günstigsten Fall müssen wir fünf oder sechs Milliarden abschreiben. Im schlimmsten Fall dreißig bis vierzig.«
Frieser verzog ungläubig das Gesicht.
»Du meinst Millionen«, sagte er.
Zieten schüttelte den Kopf.
»Nein, Jochen. Du hast mich schon richtig verstanden.«
»Willst du mich auf den Arm nehmen? Das ist ja fast das gesamte Haushaltsvolumen der Stadt. Ich wusste ja, dass du ganz gut im Geschäft bist, aber solche Summen …?«
»Es ist doch nicht mein Geld, Jochen«, konterte Zieten scharf. Dann riss er sich zusammen und fügte hinzu: »Es ist überhaupt kein Geld, wie du und ich es benutzen, Jochen. Es ist etwas ganz anderes. Es sind komplexe Geschäfte zwischen großen Banken und der Regierung. Es ist Politik.«
Frieser atmete hörbar aus. Dann schüttelte er fassungslos den Kopf. Die Scheiben des Wagens waren längst beschlagen. Frieser fröstelte und rieb die Hände aneinander. Zieten startete den Motor und stellte die Klimaanlage durch mehrmaliges leichtes Tippen auf eine Stelle am Lenkrad ein. Frieser war noch immer sprachlos.
»Gibt es einen Weg, meine Tochter auf diskretem Weg zu suchen?«, fragte Zieten. »Wenigstens in den nächsten Stunden?«
Frieser winkte ab. »Hajo, es gibt nur zwei Möglichkeiten. Entweder, du hast mit deiner Vermutung recht, dann müssen sofort alle Mittel eingesetzt werden, Inga zu finden. Oder du siehst Gespenster. Das passiert übrigens oft, wenn man ein schlechtes Gewissen hat.«
Zieten warf ihm einen vernichtenden Blick zu.
»Ich habe mir nichts vorzuwerfen«, sagte er kurz. »Ich …«
»Lass nur, Hajo, das war nur ein Vorgeschmack darauf, was dich die Ermittler vom LKA als Erstes fragen werden. Das Erste, wonach die nämlich suchen würden, wäre gar nicht deine Tochter.«
»Sondern?«
»Ein Motiv.«
Zieten schwieg.
»Wenn du mich fragst«, fuhr Frieser fort, »warte bis morgen früh. Vielleicht taucht sie im Laufe des Abends wieder auf. Diese Dinger hier …«, er deutete auf die beiden Botschaften, »… ich meine, was soll das schon sein? Erpresserschreiben? Auf Lateinisch?«