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Was liest du denn da noch so spät?«, fragte Udo Brenner.

Sina sah von ihrem Schreibtisch auf. »Du bist noch hier?«, sagte sie überrascht. »Ich dachte, ich bin heute die Letzte.«

Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Es war halb zehn. Wirklich keine Zeit, noch im Büro zu sitzen. An einem Freitagabend. Aber sie hatte sich festgelesen.

»Einen Bericht über Pendler und Streuner«, sagte sie. »Können wir wahrscheinlich nicht verwenden. Ich meine, wenn es überhaupt eine Serie wird.«

Udo Brenner stand noch immer im Türrahmen. Er hatte seinen Mantel an, Schal und Wollmütze in der rechten Hand.

»Aber du weißt ja, dass ich dieses akademische Zeug mag«, fuhr sie fort. »Kongresse und so.«

Er nickte. »Ja. Du hast schon merkwürdige Interessen. Und was sind bitte Pendler und Streuner?«

Sie streckte sich ein wenig. »Willst du das wirklich wissen? Dann komm wenigstens rein. Oder stehst du gern in Türrahmen herum? Thomas ist bestimmt schon im Sportstudio.«

»Also?«, fragte er, nachdem er Sina gegenüber an Krawcziks Schreibtisch Platz genommen hatte. »Was sagen uns die Gelehrten?«

»Sie stellen fest, dass es Leute gibt, die plötzlich anfangen, andere Menschen umzubringen. Erst einen, dann noch einen, dann immer mehr.«

»So. Das habe ich auch schon gemerkt.«

»Ein Professor aus England behauptet nun, dass sie sich in zwei Gruppen einordnen lassen. Der Pendler verlässt sein gewöhnliches Lebensumfeld, um seine Taten zu begehen. Er fährt irgendwo hin, um zu morden. Manchmal in einen anderen Landkreis oder eine andere Stadt.

»Geschäftsreise also.«

»Von mir aus. Der Streuner ist anders. Er schlägt mal hier, mal da zu, aber fast immer in relativ geringer Entfernung zu seinem Wohnort oder Lebensmittelpunkt.«

»Aha. Und inwiefern kann uns diese Erkenntnis helfen?«

»Es ist ein Faktor, wenn man die Tatorte zueinander ins Verhältnis setzt. Es entstehen unterschiedliche Muster.«

Brenner schob die Unterlippe vor, was ihm, wie Sina fand, nicht gut stand. Glücklicherweise sprach er gleich weiter.

»Dazu muss man aber wissen, welche Taten vom gleichen Täter begangen wurden.«

»Klar. Irgendetwas muss man immer wissen. Sonst kann man nicht anfangen zu analysieren.«

Er stand auf, ging um den Tisch herum, blieb neben ihr stehen und betrachtete die Aufsätze, die vor ihr lagen.

»Darf ich mal sehen?«, fragte er.

»Klar. Bitte.«

»Zur Abgrenzung defensiver, offensiver, nekrophiler und inszenatorischer Leichenzerstückelung«, las er. »Leichenschändung als Protesthaltung. Criminal mutilation of the human body in Sweden. Mannomann, Sina. Also wenn du mich fragst, dann ist ja genau das die Scheiße mit der Wissenschaft. Nachher ist man immer schlauer.«

Sina lächelte gequält. Sie hätte längst nach Hause gehen sollen. Aber Hendrik war übers Wochenende zu seinen Eltern gefahren. Zu Hause war niemand. Und außerdem beschäftigte sie der Tag noch. Freitagabend hin oder her.

»Udo, ist irgendetwas?«

Er griff nach dem nächsten Dokument, einem Bericht, aus dem ziemlich viele gelbe Haftnotizen herausschauten.

»Vorläufiger Abschlussbericht der Sonderkommission ›Torso‹. Hannover, 14. August 1979.Was ist denn das?«, fragte er. »Klingt ja ganz vertraut.«

Sina überlegte. Sie kannte Udo. Er kam nie direkt zur Sache. Irgendetwas schien ihm quer zu sitzen.

»Es gibt Parallelen«, sagte sie, »War aber ein ganz anderer Fall.«

»Erzähl doch mal.«

Er legte die Dokumente wieder hin und kehrte auf seinen Platz zurück.

»Im September 1975 wurde in den Fanggittern eines Kraftwerks bei Hannover eine weibliche Leiche angeschwemmt«, sagte Sina. »Kopf, Hals sowie beide Arme fehlten. Die Bauchdecke war durch mehrere Schnitte geöffnet worden. Die Todesursache konnte nicht nachgewiesen werden.«

»Schon toll«, sagte Udo. »Wofür bezahlen wir diese Leichenschnippler eigentlich?«

»Die Frau war dreißig bis fünfunddreißig Jahre alt. Knapp fünf Monate später, im Januar 1976, fand man den nächsten Torso. Die linke Hälfte an einer Ausfallstraße, die rechte etwa hundert Meter entfernt am Fuß einer Böschung. Es war wieder einer weibliche Leiche. Identität nicht feststellbar. Das Opfer war Anfang zwanzig. Im Juni wurden wieder Körperteile an der ersten Fundstelle entdeckt. Zwei Unterarme mit Hand, zwei Oberarme, zwei Unterschenkel und ein Fuß.«

»Na prächtig.«

»Diesmal stammten die Körperteile von einem Mann. Um die vierzig, eins achtzig groß. Mehr war nicht herauszufinden. Die Polizei tappte völlig im Dunkeln. Handelte es sich um Gewaltopfer? War der Täter ein Mörder oder nur ein Leichenschänder? War das Ganze ein Jux?«

»Ein Jux?!«

»Ja. So stand es damals in der Zeitung. Die Leichenteilfunde zogen sich über den ganzen Sommer. Im Juni fand man den linken Unterarm eines Mannes auf einer Wiese. Im Juli entdeckte eine Spaziergängerin in einem Waldstück den Unterleib einer Frau, der dort weniger als vierundzwanzig Stunden zuvor abgelegt worden war. Willst du noch mehr hören?«

»Nein, du kannst es auch zusammenfassen.«

Sina blätterte ans Ende der Studie, wo sie sich ein paar Notizen gemacht hatte.

»In einem Zeitraum von etwa zwei Jahren fand man fünfzehn Teile von fünf verschiedenen Leichen. Der Täter hatte sie alle in einem Umkreis von nur etwa zwei Kilometern unweit der Polizeidirektion in einem großstädtischen Gebiet abgelegt. Nach zwei Jahren war noch immer keine einzige Leiche identifiziert. Noch nicht einmal die Todesursache der Opfer war bekannt. Das änderte sich erst mit dem letzten Fall. Am 17. Dezember 1977 stolperte ein Jogger neben der Landstraße von Hannover nach Wunstorf über einen weiblichen Torso. Kopf, Arme und Beine fehlten. Das Opfer war eine dreißig- oder vierzigjährige Frau. Bei der Obduktion fand man einen Brustkorbdurchschuss, Einschüsse am Rücken rechts auf Höhe des achten Brustwirbelkörpers und in Höhe des Lendenwirbelkörpers. Wer die Frau war, konnte allerdings auch diesmal nicht ermittelt werden. Danach war erst einmal Schluss.«

Sina klappte die Studie wieder zu.

»Und?«, fragte Brenner. »Wer war’s? Ein Streuner oder ein Pendler?«

»Keine Ahnung«, sagte Sina und ignorierte die Anspielung. »In den letzten fünfundzwanzig Jahren hat es niemand herausgefunden.«

»Was? Fünf Leichen und kein Täter? Und keine Sau vermisst einen dieser Toten?«

»Sieht so aus.«

»Gefühlskalte Gesellschaft, dieser goldene Westen, nicht wahr?«

Wieso fing er denn jetzt damit an? Wollte er den Ossi-Wessi-Walzer mit ihr tanzen? Das war doch sonst nicht seine Art. Brenner war Berliner. West-Berliner. Mit knapper Not mit Papa und Mama über den Zaun gesprungen, als die Mauer hochgezogen wurde. Diese Leute ritten auf dem Thema üblicherweise nicht herum.

»Udo, was willst du?«

»Warum liest du so etwas überhaupt?«

»Um zu sehen, ob ich irgendwelche Anhaltspunkte finde.«

»Und?«

»Bisher sieht es nicht so aus. Die Aufklärungsrate bei dieser Art Gewalttat ist deprimierend niedrig.«

Brenner erwiderte nichts. Er lehnte sich zurück, schaute sie lange an und sagte dann: »Du warst doch heute mit Zolli essen, oder?«

»Ja. Kohlrouladen. War gar nicht schlecht.«

»Wie fandest du ihn?«

»Wieso?«

»Einfach so. Wie kam er dir vor?«

Sina wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihr war nichts aufgefallen. Zollanger war Zollanger. Ruhig, freundlich, kontrolliert. Man sah ihm nicht an, wie scharf er denken konnte. Ja, man sah ihm so gut wie gar nichts an.

»Was soll diese Frage, Udo?«

»Du weißt doch genau, dass etwas mit ihm ist.«

»Nein. Das weiß ich nicht.«

»Ich sage nur: Januar.«

»Das kann jedem mal passieren«, erwiderte sie. »Er war in Therapie. Sie haben ihn wieder eingesetzt. Also was soll das?«

Brenner ließ einen Augenblick verstreichen. Dann sagte er: »Ich mache mir Sorgen um ihn, Sina. Zolli hat keine Lust mehr. Das sieht man zehn Meilen gegen den Wind. Er hat die Schnauze voll. Und ich muss sagen, ich kann ihn verstehen.«

Sina erwiderte nichts. Sie spürte, dass sie sich verspannte, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen.

»Ich habe Angst, dass er noch einmal Mist macht, und dann wird es richtig schwierig für ihn, verstehst du, was ich meine?«

Sina schüttelte unwirsch den Kopf und hob abwehrend beide Hände.

»Kein weiteres Wort, Udo, okay? Erstens habe ich überhaupt nicht den Eindruck, dass Martin sich nicht im Griff hat. Und wenn es so wäre, dann ist es nicht unsere Aufgabe, hinter seinem Rücken darüber zu reden, oder?«

»Du kennst ihn nicht so lange wie ich«, entgegnete Brenner. »Irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Und … Mann, er hat noch zwei Jahre. Wenn er jetzt noch einmal Scheiße baut, kann es teuer für ihn werden. Meinst du nicht, wir könnten ihn ein bisschen im Auge behalten?«

»Und wie stellst du dir das vor? Udo, das ist doch absurd.«

Brenner faltete die Hände und stützte das Kinn auf.

»Deshalb rede ich ja mit dir. Du magst ihn. Das weiß ich. Und ich auch. Und das war’s dann auch schon. Findeisen, Brodt und Draeger mögen Zolli nicht besonders. Und Krawczik hasst ihn. Das weißt du so gut wie ich. Und wenn Krawczik eine Gelegenheit findet, sich auf Zollis Kosten eine Beförderung zu verdienen, dann wird er sie nutzen. Meinst du nicht? Oder willst du in zwei Jahren unter Thomas Krawczik arbeiten?«

Sina drehte die Augen zum Himmel. Wie sie solche Gespräche hasste! Udo Brenner sah sie lange an. Aber Sina schwieg.

»Denk wenigstens mal darüber nach«, sagte Brenner und erhob sich.

Sina zuckte mit den Schultern. Nein, unter Krawczik wollte sie nicht arbeiten. Aber unter Udo Brenner?