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Was machst du in Berlin?«

Elin antwortete nicht. Der Klang seiner Stimme. Das Unsichere, Unverbindliche und Passive daran … sie konnte es nur schwer ertragen. Sie wollte nicht mit ihrem Vater sprechen. Warum rief er sie hier an? Warum war sie ans Telefon gegangen? Woher wusste er überhaupt, dass sie in Erics Berliner Wohnung war?

»Was willst du, Papa?«

»Ich will mit dir reden, Elin. So kann es doch nicht weitergehen mit uns. Meine beiden Kinder …«

Die Stimme versagte ihm.

»Das fällt dir jetzt ein«, sagte sie kühl.

Edmund Hilger war nicht in der Lage, zu sprechen. Sie hörte ihn schniefen. Wut stieg in ihr hoch. Dieses Selbstmitleid. Diese klebrige, weiche, lasche Art von ihm. Wie sie das hasste, immer gehasst hatte. Warum ließ er sie nicht in Ruhe? Sie hatten sich nichts zu sagen. Dieser Egomane. Dieser schwanzgesteuerte Schönling mit seinem sinnlosen Geknipse und seinen Hochglanztussis. Was wollte er von ihr?

Sie legte auf, und sofort tat es ihr leid. Und dass es ihr leidtat, machte sie wütend. Genau deshalb änderten sich diese Menschen nie, dachte sie grimmig. Weil sie in ihrer Erbärmlichkeit Mitleid erregten. Selbst zu keinerlei Mitleid fähig, konnte man sie dennoch nur bedauern.

Sie hatte Jahre gebraucht, bis sie wirklich begriffen hatte, wie er ihre Mutter zugrunde gerichtet hatte. Ihre schwedische Tante hatte es ihr erzählt, als sie sechzehn war. In allen Einzelheiten. Die Lügen, die gebrochenen Versprechen. Elin lebte damals auf der Straße. Einmal war sie zu ihr nach Lund getrampt und hatte wochenlang bei ihr gewohnt. Irgendwann hatte ihre Tante ihr die Briefe gezeigt, die ihre Mutter ihr in den letzten zwei Ehejahren geschickt hatte. Da hieß der Krebs noch Migräne und Stoffwechselstörung. Elin hatte die Briefe gelesen und tagelang geheult. Ihre Mutter war seit sieben Jahren tot. Aber Elin konnte ihre Stimme hören, wenn sie diese Zeilen las, den schwedischen Singsang. »Seit dieser Woche weiß ich, wo er sich herumgetrieben hat, als Elin zur Welt kam. Mit wem. Es ist so banal. So billig. Warum also zerschneidet mir der Gedanke das Gedärm. Und was kann das arme Kind dafür?«

Diesen Satz hatte sie nie begriffen. Was hatte ihre Mutter damit gemeint? Es war ein wirrer Satz in einem wirren Brief. Ein Aufschrei gegen jemanden, der so viel Sensibilität hatte wie ein Kameraobjektiv. »Er kann nichts dafür.« Das stand auch irgendwo. Und vermutlich stimmte es. Edmund Hilger konnte man nicht ändern. Man konnte ihn nur meiden. Ihre bildschöne Mutter! Ihr Aussehen war ihr stärkster Trumpf gewesen. Sie hatte ihn gespielt. Und eine Arschkarte gestochen.

Elin stieß das Telefon zur Seite und brach auf.

Sie fuhr zu Hagen, fand ihn in seinem Kellerverschlag und zeigte ihm den Ausdruck der eingefrorenen Bildschirmseite. Er schüttelte nur den Kopf.

»Kapiert ihr junges Gemüse das nicht. Das Internet ist eine Sonde, eine Sonde in dein Hirn. Computer sind keine Maschinen. Es sind Tentakel, Sinnesorgane – des Feindes!«

»Was ist das für ein Fenster?«, fragte Elin kleinlaut.

»Ein beschissenes Logfile ist das. Dein Bruder ist auf der Kackliste von irgendeinem Server. Sobald du mit seiner Maschine ins Netz gehst, meldet die sich automatisch dort an.«

»Wo dort?«

»Keine Ahnung. Die meisten Firmen kontrollieren, was ihre Angestellten im Internet treiben, welche Dateien sie aufmachen, was für Daten sie herunterladen, und so weiter. Ich sage doch, mit dieser Technik gibt es keine Geheimnisse mehr. Ohne das Theseus-Programm bist du nackter als nackt. Lass die Finger davon. Schmeiß diese Kiste auf den Müll …«

»Hagen, ich brauche diese Informationen. Wenn mich dieses Logfile gefunden hat, dann muss es doch auch möglich sein, den umgekehrten Weg zu gehen. Wer interessiert sich für den Computer von jemandem, der tot ist?«

»Keine Ahnung. Solche Programme laufen automatisch. Alles, was ich weiß, ist: Irgendwo steht ein Server, auf dem jetzt alles gespeichert ist, was du gestern auf dieser Maschine gemacht hast. Wer immer darauf Zugriff hat, kann diese Informationen haben. Wenn dich das nicht stört, dann ist es ja kein Problem.«

»Wo steht dieser Server?«

»Wo hat dein Bruder gearbeitet?«

»In einer Immobilienfirma in Charlottenburg.«

»Dann wird er vermutlich dort stehen. Das ist jedenfalls das Wahrscheinlichste.«

Hagen nahm Elins Ausdruck zur Hand und musterte die Zahlenkolonnen. »Hier«, sagte er und deutete dabei auf eine Stelle. »Hat dein Bruder noch alte Geschäfts-E-Mails in dieser Maschine?«

»Ja. Sicher. Tausende.«

»Mach mal eine auf.«

Elin schaltete den Computer ein, öffnete das E-Mail-Programm und klickte auf eine alte Nachricht mit dem Kürzel @BIG-gmbh.de im Absender. Hagen drückte auf eine Schaltfläche. Ein Fenster unter der Nachricht öffnete sich. Es sah so ähnlich aus wie das kleine Fenster, das sie gestern entdeckt hatte. Hagen fuhr mit der Maus über den Zahlensalat. Plötzlich hielt er inne und markierte eine Zeile mit Nummern und Buchstaben.

»Bingo. Siehst du. Das ist die Kennung. Gleicher Server.«

»Das heißt, die kontrollieren Eric noch immer?«

»Seine Computertätigkeit wird dort registriert. Das passiert automatisch. Kapierst du jetzt, warum du von dieser Kiste die Finger lassen solltest?«

Elin hockte sich auf Hagens Decke und starrte vor sich hin. »Hast du irgendwo ein altes Handy?«, fragte sie dann. Hagen schüttelte den Kopf. »Handy? Ich? Für wie bescheuert hältst du mich eigentlich. Geh zu Mirat. Der hat jede Menge von den Dingern.«

 

Sie fand Mirat wie üblich vor dem LIDL. Er gab ihr ein altes Nokia und begleitete sie auf einen verwahrlosten Spielplatz, auf dem sogar die Mülleimer demoliert waren. Es war kalt und nieselte, und so hockten sie sich in das Führerhäuschen einer Lokomotive, deren Kessel verkohlt, deren Dach aber dicht war.

Mirat legte die erste SIM-Karte ein. Elin nannte ihm den Code. Er funktionierte. Es dauerte etwa zwei Minuten. Das Gerät piepste zweimal. Dann noch einmal, dann erneut. Mirat drückte auf den Tasten herum.

»Reklame«, sagte er. »Von August. Wie lange war die Karte inaktiv?«

»Keine Ahnung«, sagte Elin. »Sind irgendwelche Namen gespeichert?«

»Ja. Jede Menge.«

Er reichte ihr das Handy. Sie scrollte sich durch den Bildschirm. Berhalter. Kulnik. Wagner. Sie zählte über vierzig Namen, von denen ihr kein einziger etwas sagte.

Sie fuhr den Laptop hoch, öffnete eine Excel-Datei, bat Mirat, ihr die Namen vorzulesen, und schrieb sie alle in eine Liste.

Dann erfasste sie die Gesprächsdaten, die noch auf der Karte waren. Als sie damit fertig war, nahm sie sich die zweite Karte vor. Aber sie funktionierte nicht. Stimmte der PIN nicht? Sie versuchte es noch zweimal. Dann kam die Meldung: gesperrt.

»Wahrscheinlich abgelaufen«, sagte Mirat. »Wie viele Handys hatte dein Bruder denn?«

»Vier oder fünf. Aber ich habe nur diese Karten.«

Bei der dritten Karte funktionierte der PIN wieder. Das Namensverzeichnis war umfangreicher. Aber es standen fast nur Vornamen darin. Cemal, Kalle, Peri, Pia …

Eine halbe Stunde später hatte sie alle Daten ausgelesen. Und eines war offensichtlich: Wer immer sie war, Erics Telefonkontakt zu dieser Pia war äußerst intensiv gewesen. Elin musste wieder an Hagen denken, wie recht der Mann doch hatte.

All diese Daten existierten natürlich auch bei den Telefongesellschaften. Vermutlich sogar gekoppelt mit den Informationen darüber, wo sich das Handy befand, als telefoniert wurde. Wie hatte Hagen das formuliert: eine Sonde des Feindes.

Plötzlich fiel ihr etwas auf. Nach dem 14. August war kein Gespräch mehr geführt worden. Aber die Karte verzeichnete noch eine Menge Anrufe, die Eric nicht angenommen hatte. Elin scrollte sie durch. Jürgen. Jens. Und immer wieder Pia. Auch am 29. September.

Mirat rauchte, während Elin sich immer tiefer in ihre Listen vergrub. Die erste Karte stammte mit Sicherheit aus seinem Geschäftshandy. Arbeitskollegen also. Albogast, Gruner, Kornheim …? Ratlosigkeit überkam sie. Was sollte dieses Herumstochern in Erics Leben ihr schon nützen? Sie konnte diese Leute doch nicht alle aufsuchen. Und seine abgelegten Freundinnen? Corinna. Saskia. Alexandra. Aha. Sie war also auch hier. In guter Gesellschaft.

Dann hatte sie eine Idee. Sie kopierte alle Namen und Nummern in eine einzige Datei und sortierte die Einträge nach den Nummern. Das war schon interessanter. Vier Nummern erschienen auf beiden Listen. Sie markierte sie und verschob sie auf ein separates Blatt. Drei Männer und eine Frau, Arbeitskollegen offenbar, mit denen Eric auch privat zu tun gehabt hatte.

Pia Albogast

Jürgen Garottin

Jens Bleiwald

Kurt Lothar

Sie spürte Mirats Blick auf sich ruhen.

»Was ist?«, fragte sie.

»Was ist mit dir?«, fragte er im Gegenzug.

»Wieso?«

»Weil du plötzlich rote Backen hast.«

»Ich muss in die Kiezoase.«

 

Der Aufenthaltsraum war verlassen. Jojo Jesus saß im Büro und telefonierte.

»Ja, der Kühlschrank ist kaputt …«, hörte sie ihn sagen. »Warum? Ja, das ist eine wirklich wichtige Frage. Bin ich vielleicht Kühlschrankingenieur?«

Er drehte sich zu ihnen um. Elin deutete auf den Computer in der Ecke. Jojo Jesus nickte.

»… drei Wochen. So, so. Und wo sollen wir bis dahin die Lebensmittel kühlen?«

Elin startete eine Adressabfrage und gab Pia Albogast ein. Ein Treffer.

Albogast, Pia – Kantstraße 54

Elin stutzte. Diese Adresse.

»Macht ihr das im Rathaus auch so mit euren Gaumenkitzlern? Petits Fours vom Balkon mit Taubenscheiße drauf?«, schimpfte Jojo Jesus ins Telefon.

Kantstraße 54. Das war das Haus neben der Sparkasse, wo Eric seine letzte digitale Spur hinterlassen hatte.

»Wo willst du hin?«, fragte Mirat.

»Geld abheben.«