15

Sollte sie einfach klingeln? Sie schaute an der Hausfassade Bartningallee 11 hinauf. Hinter ihr rasselte eine S-Bahn Richtung Lehrter Bahnhof vorbei. Danach wurde es sofort wieder still. Die Straße war voll mit geparkten Autos, aber menschenleer. Die sonst allgegenwärtigen Köter mit ihren Herrchen oder Frauchen im Schlepptau hatten ihren Morgenschiss anscheinend bereits erledigt. Die Luft roch merkwürdig. Es dauerte eine Weile, bis Elin klarwurde, was ihr daran seltsam vorkam. Der Kohlegestank fehlte.

Sie ging um das Haus herum. Er wohnte irgendwo da oben. Laut Klingelschild im achten Stock. Lebte er allein? Hatte er eine Frau? Eine Freundin? Familie? Nein, sie konnte nicht einfach klingeln. Sie würde warten. Sie schaute sich nach einer Parkbank um, sah jedoch keine. Die einzige Sitzgelegenheit, die sie ausmachen konnte, war ein dunkelgrüner Behälter, der zusammenhanglos zwischen zwei neu angepflanzten Birken herumstand. Streugut war darauf zu lesen. Die Oberfläche war trocken. Sie streifte ihren Rucksack ab und setzte sich.

Den Eingang von Nummer 11 hatte man von hier gut im Blick. Sie wartete. Sie hatte keine Ahnung, wie Hauptkommissar Zollanger aussah. Aber gewiss nicht so wie die Figuren, die innerhalb der ersten Stunden das Wohnhaus verließen. Der erste Kandidat, der eventuell in Frage kam, war ein Mann, der gegen halb zwölf in der Tür erschien. Er trug dunkelblaue Cordhosen und feste Schuhe, einen beigefarbenen Wollpullover und einen dunkelgrünen Parka mit einer Menge Taschen. Er war nicht sehr groß, vielleicht einen Meter siebzig. Sein Gesicht konnte sie aus der Entfernung nicht gut erkennen. Er trug zu seinem schwarzen Schal eine entsprechende Mütze, und so konnte sie nicht sehen, ob er noch Haare hatte oder eine Glatze. Auf jeden Fall musste er schon etwas älter sein. In jeder Hand trug er eine Tüte, ging auf die Tonnen neben der Einfahrt zu und versenkte die eine in dem blauen, die andere in dem schwarzen Behälter. Dann band er sich den Schal fester um, zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch und ging weiter.

Elin rutschte von der Streusandkiste herunter und folgte ihm in einigem Abstand. Als sie sah, dass der Mann auf einen Pfad abbog, der in den Park hinter dem Haus führte, beschleunigte sie ihren Schritt und schloss langsam zu ihm auf. Es bereitete ihr keine Mühe. Der Mann ging nicht schnell. Offenbar hatte er ein Problem mit dem linken Bein. Als sie näher herangekommen war, sah sie ein paar graue Haarbüschel unter seiner schwarzen Mütze herausragen. Sie verlangsamte ihren Schritt und blieb dann stehen. Nein. Das war wohl nicht ihr Mann, sondern irgendein Rentner. Der Mann blieb plötzlich stehen und drehte sich nach ihr um. Als sie sein Gesicht sah, ging sie auf ihn zu. So alt war er auch wieder nicht. Aber wie ein Polizist sah der Mann nicht aus, dachte sie.

Die Situation war zu weit gediehen. Der Mann hatte offenbar gespürt, dass sie ihm gefolgt war. Sie musste etwas sagen, sonst hätte es merkwürdig gewirkt.

»Herr Zollanger?«, sagte sie.

Er blinzelte nur.

Elin war drei Meter von ihm entfernt stehen geblieben. Sie schaute ihn stumm an. Der Mann war offenbar ebenso verblüfft wie sie. Er hielt den Kopf merkwürdig schief, als habe er etwas gehört und nicht richtig verstanden.

»Ah«, sagte er nach einer kurzen Pause. »Sie sind Elin Hilger.«

Sie zuckte mit den Schultern. Sie wusste plötzlich nicht mehr, was sie erwidern sollte.

»Ich gehe gerade frühstücken. Kommen Sie mit?«

Er hatte gar nicht auf eine Antwort gewartet, sondern war einfach weitergegangen. Und sie war ihm gefolgt. Zollanger strebte auf einen Flachbau zu, hinter dessen großen Fensterscheiben ein Bistro zu sehen war. »Akademie der Künste« stand in großen Lettern auf dem Vordach.

Zollanger setzte sich an einen Tisch am Fenster und lud Elin mit einer Geste ein, ihm gegenüber Platz zu nehmen. Dann bestellte er zweimal Milchkaffee.

»Ich trinke keinen Kaffee«, sagte sie.

»Tee?«

Sie nickte.

»Bitte Tee für die Dame.«

»Ich frühstücke sonntags immer hier«, sagte er. »Kennen Sie die Akademie der Künste? Es gibt immer ein italienisches Frühstücksbüffet.«

»Nein«, antwortete Elin. »Ich komme aus Hamburg. Und bitte, gehen Sie nur ans Büffet. Ich habe schon gefrühstückt.«

Sie blieb sitzen, während Zollanger sich bediente. Sie hatte keinen Hunger. Sie hatte zwei Stunden zuvor Müsli mit Apfelschnitzen gegessen. Also nippte sie nur an dem Tee, der dampfend vor ihr stand, und beobachtete den Kommissar.

»Es tut mir leid, dass Sie mich am Freitag verpasst haben«, sagte er, als er wieder am Tisch saß. »Ich halte meine Termine normalerweise ein. Aber es war nicht meine Schuld. Ein Einsatz. Verstehen Sie? Also, was kann ich für Sie tun? Es geht um Ihren Bruder, nicht wahr?«

Sie öffnete ihren Rucksack, holte eine blaue Plastikmappe heraus und legte sie auf den Tisch.

»Mein Bruder ist ermordet worden. Ich will, dass die Ermittlungen neu aufgenommen werden. Bin ich da bei Ihnen an der richtigen Adresse?«

Zollanger schnitt eine Mozzarellascheibe entzwei, legte ein Basilikumblatt darüber und träufelte ein wenig Olivenöl darauf.

»Das ist ein schwerwiegender Vorwurf, Frau Hilger.«

Sie schob ihm die blaue Plastikmappe hin. »Hier steht drin, was in Ihrem Protokoll alles fehlt. Und noch einiges mehr. Punkt für Punkt. Bitte lesen Sie es. Und dann sagen Sie mir, was ich tun kann.«

Er schaute kurz auf die Mappe, rührte sie aber nicht an.

»Können Sie mir ein Beispiel nennen, was fehlt?«

»Zum Beispiel eine plausible Erklärung dafür, wie mein Bruder mitten in der Nacht in den Tegeler Forst gekommen sein soll?«

»Mit einem Taxi. Oder mit dem Bus. Oder vielleicht auch zu Fuß. Vielleicht hat ihn jemand mitgenommen.«

»Es wurde kein Fahrschein bei ihm gefunden. Keine Geldbörse. Keine Schlüssel und keine Papiere. Finden Sie das normal?«

»Nein. Aber Selbstmord ist nie normal, Frau Hilger. Selbstmörder handeln unter schwerem seelischen Druck. Sie sind in keinem normalen Geisteszustand, wenn sie die Tat begehen.«

»So. Aber sie schleppen ein Kletterseil mit sich herum, schleichen nachts in ein abgelegenes Waldstück, immerhin fünfzehn Kilometer von ihrer Wohnung entfernt, stapeln in völliger Dunkelheit Holzstämme, die dort zufällig herumliegen, zu einer Rampe auf, knüpfen einen professionellen Henkersknoten …«

»… ich könnte Ihnen eine Menge Fälle nennen, wo noch sehr viel mehr Ungereimtheiten zusammengekommen sind und dennoch kein Fremdverschulden vorlag. Ihr Bruder war depressiv, Frau Hilger.«

»Wer sagt das?«

»Zwei Zeugen, die befragt wurden. Ich weiß ihre Namen nicht mehr, aber ich habe die Vernehmungen gelesen. Ich glaube, es waren Arbeitskollegen.«

Elin schaute angewidert zur Seite. Zollanger sprach weiter. »Ihre Familie hat nur einen zusammenfassenden Bericht bekommen. Die Ermittlungen waren erheblich umfangreicher, als Ihnen scheint.«

»Woher hatte er das Seil?«

»Das müsste ich nachlesen.«

»Hatte Eric schmutzige Hände?«

»Frau Hilger, ich habe die Akte nicht auswendig im Kopf. Aber es wird im Obduktionsprotokoll vermerkt sein.«

»Wo kann ich diese Akten einsehen?«

Ihr Herz klopfte. Ihre Stimme zitterte ein wenig. Sie spürte, dass der Mann das bemerkte. Er sprach ruhig weiter.

»Die Unterlagen liegen bei der Staatsanwaltschaft. Akteneinsicht bekämen Sie nur über einen Anwalt. Und auch nur dann, wenn ein begründeter Verdacht vorliegt. Es ist ein aufwendiger Vorgang. Die Akten müssen gesichtet werden. Manche Unterlagen müssten wegen der Datenschutzbestimmungen aussortiert werden. Was glauben Sie, wie oft Angehörige von Menschen, die sich das Leben genommen haben, zu uns kommen und behaupten, es sei nicht richtig ermittelt worden. Ich verstehe Sie. Sie haben eine geliebte Person verloren. Sie können nicht begreifen, was Ihr Bruder getan hat. Da haben wir sogar etwas gemeinsam. Ich habe meinen Bruder auch nie begriffen.«

Er unterbrach sich. Elin wartete. Der Satz war dem Mann offenbar so herausgerutscht. Aber was ging sie das Privatleben dieses Polizisten an? Sie schüttelte unwirsch den Kopf und wollte etwas erwidern, aber er kam ihr zuvor:

»Die Zweifel, die Sie haben, werden die Polizeiakten nicht vollständig ausräumen können. Denn eine Erklärung für den Tod Ihres Bruders haben wir ja in der Tat nicht. Aber es ist auch nicht unsere Aufgabe, das Sterben von Menschen zu erklären. Wir ermitteln Straftaten. Und wir können nur sagen: Es gab keinerlei Anzeichen für Fremdverschulden.«

Elin öffnete ihre blaue Mappe, holte die Fotos heraus, die sie gestern Morgen im Wald gemacht hatte, und legte eines davon vor Zollanger hin. Er schaute kurz darauf, aß jedoch weiter.

»Was sehen Sie hier?«, fragte sie.

»Einen Ast mit einer Druckstelle.«

»So sah der Ast aus, an dem das Seil gehangen hat.« Sie legte ein zweites Foto auf das erste. »Und so sah er aus, nachdem ich nachgestellt habe, was in Ihrem Protokoll steht. Und das hier …«, sie legte das dritte Foto über das zweite, »… ist eine Aufnahme von der gleichen Stelle, nachdem ich einen Mann von zirka fünfundsiebzig Kilogramm Körpergewicht an einem über den Ast geworfenen Seil hochgezogen habe.«

Zollanger legte seine Gabel ab und betrachtete die Fotos. Dann legte er sie wieder hin, nahm seine Gabel wieder zur Hand, steckte das Stück Rührei, das sich noch darauf befand, in den Mund und kaute bedächtig.

Elin wartete. Zollanger kaute und schluckte, griff nach seiner Kaffeetasse, trank einen Schluck, griff dann nach seiner Serviette und tupfte sich den Mund ab.

»Wenn ich mich richtig erinnere, dann war Ihr Bruder vor seinem Tod seit fünf Monaten arbeitslos. Er hat im vergangenen Sommer versucht, mit einem türkischen Partner einen Internettelefonladen aufzumachen. Die technische Anlage dafür hat er bestellt und erhalten, aber nicht bezahlt. Es lief ein Beitreibungsverfahren gegen ihn. Ich glaube, es ging um dreißigtausend Euro. Seine Wohnung war verwahrlost. Die Geschäftsräume, die er angemietet hatte, waren in halbrenoviertem Zustand und nach Aussage des Vermieters seit Wochen verlassen. Sowohl mit seiner Geschäftsraummiete als auch mit seinen Kreditraten war er mehrere Monate im Rückstand.«

Elin deutete auf die Fotos.

»Was hat das hiermit zu tun?«

»Spuren ohne Kontext sagen nichts aus. Wir wissen nicht genau, wie Ihr Bruder sich erhängt hat. Was im Protokoll steht, ist eine Hypothese aufgrund der Faktenlage. Ihre Rekonstruktion beweist vielleicht, dass diese Annahme ungenau oder sogar falsch gewesen sein kann. Aber sie beweist nicht, dass Ihre Annahme stimmt. Ihr Bruder kann alles mögliche mit diesem Seil veranstaltet haben. Hat er es über den Ast geworfen und dann erst mehrfach daran gezogen, um zu schauen, ob der Ast auch hält? Ist es ihm beim Versuch, es zu befestigen, vielleicht mehrfach abgerutscht? Wir wissen das alles nicht. Aber wir wissen, dass Ihr Bruder große finanzielle Probleme hatte, keiner festen Arbeit nachging, unter recht verwahrlosten Umständen lebte …«

»Eric hatte Angst«, unterbrach ihn Elin mit gepresster Stimme.

»Vor wem?«

»Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass er sich kaum noch nach Berlin traute. Er war fast den ganzen Sommer über in Hamburg und sonstwo. Aber nicht in Berlin.«

»Typisch für Leute, die Schulden haben.«

»Eric hatte Geld.«

»Wo? Auf seinem Konto waren fast fünftausend Euro Miese.«

»Das wissen Sie also alles«, stieß Elin erregt hervor. »Aber in Wirklichkeit wissen Sie überhaupt nichts.«

Sie raffte ihre Fotos zusammen, steckte sie in die Mappe, griff nach ihrem Rucksack und ihrer Lederjacke und stand auf. Zollanger rührte sich nicht, sondern schaute sie nur an.

»Wissen Sie, Frau Hilger. Im Grunde dürfte ich gar nicht mit Ihnen reden.«

Elin atmete tief durch. War der Mann vielleicht noch stolz auf seinen beschissenen Beruf?

»Warum tun Sie’s dann?«

Zollangers linkes Augenlid zuckte kurz. Aber er erwiderte nichts.