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Sind Sie bereit?«
Niemand antwortete, denn es war eine rhetorische Frage. Dr. Weyrich stand zwischen zwei Edelstahltischen. Der Torso lag zu seiner Linken. Auf dem anderen Tisch befanden sich der Ziegenkopf und das Lamm.
Zollanger, Udo Brenner und Sina Haas standen am Fußende des Tisches, auf dem der Torso aufgebahrt war, Staatsanwalt Frieser an dessen Längsseite. Weyrichs sachliche, monotone Stimme verlieh dem Vorgang etwas Geschäftsmäßiges, als betrachte man keine bestialisch zugerichtete Frauenleiche, sondern ein interessantes anthropologisches Fundstück. Zollanger vernahm mit Erleichterung, dass die Frau erst nach dem Eintreten des Todes zerlegt worden war. Der Todeszeitpunkt war völlig ungewiss. Die Leiche war eingefroren worden, was eine Todeszeitbestimmung so gut wie unmöglich machte.
»Kann man die Zeiträume nicht schätzen?«, wollte Frieser wissen.
»Recht sicher ist, dass der Körper zwischen achtundvierzig und zweiundsiebzig Stunden nach Todeseintritt eingefroren wurde.« Weyrich deutete auf einen Bereich in der Nähe des Blinddarms. Die ansonsten weißliche Haut schimmerte hier grünlich wie angefaultes Fleisch. Dann wies der Mediziner auf eine Stelle an der Schulter, wo sich unter der Haut violette Verästelungen abzeichneten. Es sah fast aus, als sei die Frau dort tätowiert gewesen.
»Hier sehen wir Grünfäule und durchschlagende Venennetze, was die Zeitschätzung bestätigt. Auf dem Arm setzen sie sich übrigens fort, was uns die Zuordnung des Armes zu diesem Rumpf erleichtert. Die Leiche wurde zwei oder drei Tage nach Todeseintritt eingefroren und dann zerlegt. Aber wie lange das her ist, kann ich nicht feststellen.«
»Und sie ist mit Sicherheit ertrunken?«, fragte Sina Haas.
»Ja. Der Lungenbefund ist eindeutig. Und wie Sie alle wissen, ist der Nachweis von Fremdverschulden bei dieser Todesart so gut wie unmöglich. Weder am Hals noch im Brust- oder Bauchbereich sind Verletzungen zu erkennen. Da der Kopf entfernt wurde, erübrigt sich die Suche nach Würgemalen. Der Rumpf weist weder Schürfwunden noch Blutergüsse oder Prellungen auf. Die junge Frau ist hellhäutig. Von Körperbau und Knochenstruktur ist sie Europäerin. Genauer kann ich ihre Herkunft nicht bestimmen. Nach der Knochentabelle war sie recht groß, zirka einen Meter siebzig bis fünfundsiebzig. Ich habe nur eine einzige Auffälligkeit zu berichten: eine etwa einen Zentimeter lange, subkutan vernähte Narbe auf dem Rücken.«
»Und was sagt uns das?«, fragte Udo Brenner.
»Die Dame war vermutlich besser krankenversichert als Sie.«
Brenner runzelte die Stirn. »Was meinen Sie denn damit?«, fragte Staatsanwalt Frieser.
»Wahrscheinlich wurde hier vor geraumer Zeit ein Muttermal entfernt. Bei Kassenpatienten sieht das danach meistens so aus.« Er krempelte den Ärmel seines weißen Kittels hoch und schob auch den Pulliärmel darunter ein Stück zurück. Mitten auf Weyrichs Unterarm prangte eine rosafarbene, wulstig aufgeworfene Narbe.
»Nur zum Vergleich.« Er wuchtete den Torso ein Stück hoch und deutete auf eine Stelle auf Höhe der Taille. Die Polizisten mussten näherkommen, um die flache, schmale Narbe überhaupt sehen zu können.
»Kassenärzte dürfen gegenwärtig noch 29,46 Euro für eine genähte Wunde abrechnen«, sagte Weyrich. »Da wird natürlich nur geflickt. Diese subkutane Näherei hier dauert dreimal so lang. Das macht man in Deutschland nur bei Privatpatienten. Die Dame stammt also entweder aus einem Land, wo die Gesundheitsversorgung besser ist als hier. Oder sie war gut versichert und hatte genügend Geld für eine ordentliche Naht. Das ist alles, was ich damit sagen wollte.«
Brenner atmete hörbar aus. Sina Haas trank einen Schluck Wasser. Weyrich fuhr mit seinen Ausführungen fort. Frieser machte sich schweigend Notizen.
»Was ist mit den Schnittstellen?«, fragte Zollanger, um von der, wie er fand, unergiebigen Narbe wegzukommen. »Sie sind sicher, dass mit einer Trennscheibe gearbeitet wurde?«
»Ja. Die Leiche wurde in gefrorenem Zustand zerlegt. Die Schnittstellen sind äußerst glatt. Wir haben minimale Anhaftungen von Siliciumcarbid im Hautgewebe gefunden. Das ist ein typischer Bestandteil von kunstharzgebundenen Trennscheiben.«
»Die haben also Arme, Kopf und Beine einfach mit einem Trennschleifer weggeflext?«, fasste Zollanger die Information ungläubig zusammen.
Weyrich nickte. »Würde ich auch so machen. Ist der einfachste und billigste Weg. Einen Trennschleifer bekommen Sie in jedem Baumarkt ab fünfzig Euro.«
»Und die Gewindestange für den Ziegenkopf gleich noch dazu«, sagte Udo Brenner. »Ich schlage also vor, dass wir von allen Baumärkten der Umgebung die Kassendaten der letzten vierzehn Tage anfordern.«
»Gute Idee«, sagte Sina ohne jegliche Überzeugung in der Stimme. »Und wir hoffen, dass unser Sägemann kein Bargeld dabeihatte.«
»… und kein Hobbyheimwerker ist«, fügte Frieser hinzu.
»… und sich das Ding nicht einfach ausgeliehen hat«, ergänzte Zollanger.
Brenner schaute genervt in die Runde. »Dann eben nicht.«
»Der Torso gibt also nicht besonders viel her«, sagte Frieser ungeduldig. »Kein Sexualmord? Keine Vergewaltigung?«
»Nein. Nichts dergleichen. Die Frau hatte vor ihrem Tod keinen Geschlechtsverkehr.«
»Und wir wissen nicht einmal, ob sie ermordet wurde.«
»Nein. Zwei bis drei Tage nach ihrem Tod wurde sie eingefroren und irgendwann danach zerlegt. Das ist sicher. Sonst nicht viel.«
»War sie komplett aufgetaut, als wir sie gefunden haben?«, wollte Sina wissen.
»Nein. Bei der inneren Besichtigung sind wir auf Bereiche gestoßen, die noch gefroren waren.«
Zollanger schaute überrascht auf. »Können Sie uns ein ungefähres zeitliches Szenario geben? Ich meine, vom Kühlhaus bis zum Auffinden der Leiche in Lichtenberg?«
»Das ist schwierig. Die Außentemperatur lag gestern Nacht bei sieben Grad im Stadtgebiet und vier Grad im Umland. Der Torso wurde vermutlich in einem Behältnis transportiert. Vielleicht in einem unbeheizten Kofferraum. Oder auf dem Rücksitz eines beheizten Wagens. Das wissen wir aber alles nicht. Daher kann man unmöglich präzise Rückschlüsse auf zeitliche Abläufe vor dem Auffinden ziehen.«
»Heißt das, dass die Frau auch schon vor drei Monaten oder drei Jahren gestorben sein kann?«
»Ja. Theoretisch schon.«
»Und die Gewindestange. Kann die uns nicht helfen?« Alle schauten zu Udo Brenner. »Die Stange ist doch recht tief in den Torso hineingerammt worden.«
»Ja«, warf Weyrich ein. »Genau gesagt: 77,8 Zentimeter.«
»Eben«, fuhr Udo fort. »Das muss erfolgt sein, als der Körper noch nicht gefroren war, sonst hätte man eine Bohrung vornehmen müssen. Sind an der Stange irgendwelche Oxidationsspuren?«
»Nein. Aber wir haben auch keine metallurgische Prüfung durchgeführt.«
»Und? Kann mir jemand sagen, ob gefrorene Gewindestangen rosten?«, fragte Udo.
Niemand antwortete. Nach einer kurzen Pause sagte Weyrich: »Selbst wenn Sie das untersuchen, was ziemlich aufwendig ist, dürfte Ihnen das keine verwertbaren Zeithorizonte geben.«
»Na herrlich«, entfuhr es Frieser. »Keine Tatzeit. Kein Tatort. Keine Opferidentität. Was können Sie uns denn zu dem Ziegenkopf sagen, Dr. Weyrich?«
Der Mediziner wandte sich dem anderen Stahltisch und den darauf liegenden Körperteilen tierischen Ursprungs zu.
»Es ist ein Jungtier. Acht bis neun Monate alt. Und es handelt sich um eine Zuchtziege. Die Art ist erst in den neunziger Jahren in der Nähe von Kassel entwickelt worden.«
»Entwickelt?«, fragte Udo Brenner.
»Ja. 1995 gab es in Witzenhausen ein Projekt der Universität Kassel. Man wollte eine neue Ziegenrasse für die Landschaftspflege züchten. Dazu kreuzte man erst eine Fleischziege mit einer Milchziege und die darauffolgende Generation mit den extrem robusten Kaschmirziegen. Heraus kam das hier.«
Die Anwesenden starrten den Ziegenkopf ratlos an. Es war immer das Gleiche, dachte Zollanger. Informationen in tausend Richtungen. Aber keine klaren Anhaltspunkte.
»Es handelt sich um eine sogenannte Witzenhäuser Landschaftspflegeziege. Hat überwiegend die robusten Gene der Kaschmirziege, aber dennoch ist die Milchleistung gut, und sie kann außerdem noch als Fleischziege genutzt werden.«
»Also eine Frankensteinziege«, sagte Zollanger.
»Oder die berühmte eierlegende Wollmilchsau«, legte Brenner nach.
»Wenn Sie so wollen«, würgte Weyrich die unwissenschaftlichen Kommentare kühl ab.
»Und wie kommt so ein Vieh nach Berlin?«, fragte Staatsanwalt Frieser.
»Ganz einfach. Entweder, Sie fahren nach Witzenhausen und kaufen sich eines. Oder Sie gehen hier im Umland auf die Wochenmärkte. Im Internet werden die Tiere auch angeboten. Nicht nur Witzenhäuser. Auch die anderen Rassen, die hier verbreitet sind.«
»Kostenpunkt?«
»Achtzig bis hundert Euro. Je nachdem.«
Zollanger ließ seinen Blick über die beiden Edelstahltische schweifen. Genforschung?, schoss es ihm durch den Kopf. War das eine Richtung, in die sich nachzudenken lohnte? Hatten sie es mit irgendwelchen radikalisierten Globalisierungsgegnern zu tun? Mit militanten Anti-Forschungs-Aktivisten? Was ihr mit den Tieren macht, das machen wir mit euch. Als er wieder aufschaute, kreuzte sein Blick den von Sina. Sie zog neugierig die Augenbrauen hoch. Aber er behielt seine Gedanken für sich. Es war viel zu früh für Spekulationen.
Dr. Weyrich trug die weiteren Untersuchungsergebnisse über den Ziegenkopf vor. Aber nichts davon schien irgendwelche Ermittlungsansätze zu enthalten. Es war eben nur ein Ziegenkopf, wenn auch von einer künstlich erzeugten Rasse.
»Kommen wir zum nächsten Objekt«, sagte Weyrich und fasste zusammen, was es zu dem menschlichen Arm zu sagen gab, der im Bauchraum des Lamms gefunden worden war. Sehr viel war es nicht. Er stammte zweifelsfrei vom Lichtenberger Torso. Er erleichterte die Eingrenzung der Altersbestimmung. Die Hand war feingliedrig, die Fingernägel gepflegt. Je länger Weyrich sprach, desto deutlicher wurde das Bild, das in den Köpfen der Zuhörenden entstand: eine junge Frau. Mitte bis Ende zwanzig. West- oder Mitteleuropäerin. Etwa einen Meter siebzig groß. Schlank. Frieser sprach als Erster eine klare Vermutung aus.
»Osteuropäische Prostituierte. Frauenhandel.«
Keiner widersprach. Aber kaum stand der Gedanke im Raum, schien er wenig überzeugend. Warum sollten Frauenhändler eines ihrer exekutierten Opfer derartig zur Schau stellen? Und warum gleich an zwei verschiedenen Orten? Zollangers Gedanken kreisten noch um diese Frage, als Weyrich bereits über Brandenburgische Schafrassen sprach. Zollangers Überlegungen wandten sich der Möglichkeit zu, dass sie es mit einer Abrechnungstat aus dem Milieu zu tun hatten. Das schockierend Brutale sprach dafür. Die Verhöhnung des Opfers über den Tod hinaus war dem oder den Tätern äußerst wichtig gewesen, so wichtig, dass dafür ein erhebliches Risiko in Kauf genommen worden war. Aber selbst wenn man die Brutalität des Milieus in Rechnung stellte … dieser Torso fügte sich einfach nicht in ein simples Schema.
»… Bentheimer Landschaf«, hörte er Weyrich sagen. »Stammt ursprünglich aus Niedersachsen.«
»Wie alt ist das Tier?«
»Zirka zehn Monate.«
»Todesursache?«
»Wir sind nicht sicher. Das Tier wurde ausgeweidet, daher haben wir keine Möglichkeit, die Organe zu untersuchen. Es kann an einer Krankheit gestorben sein. Oder es wurde vergiftet. Spuren von stumpfer oder scharfer Gewalt konnten wir nicht feststellen. Allerdings haben wir Punktblutungen in den Augenbindehäuten gefunden. Das spricht für Ersticken.«
»Ersticken«, wiederholte Udo Brenner tonlos. »Ein Schaf?«
»Ja«, antwortete Weyrich. »Das ist einfach. Per Plastiksack zum Beispiel. Dauert zehn Minuten.« Er schaute auf seine Armbanduhr. »Ich denke, es ist Zeit für eine kurze Pause, meinen Sie nicht auch?«