37
Der Hauseingang lag keine zehn Meter von dem Geldautomaten entfernt, an dem Eric am Tag seines Todes seine letzte Abhebung durchgeführt hatte. Der Name stand deutlich lesbar auf dem vorletzten Klingelschild. Elin klingelte im zweiten Stock. Eine Stimme fragte, wer da sei. Sie gab an, Post einwerfen zu wollen, und wurde mit dem Summen des Türöffners belohnt. Zwei Minuten später stand sie vor einer Wohnungstür im vierten Obergeschoss. Sie legte den Kopf an das Holz und lauschte. Ein Radio lief. Sie musterte das mit Kugelschreiber geschriebene Namensschild: P. Albogast. Dann drückte sie auf den Knopf. Einige Sekunden vergingen. Das Radio wurde leiser. Schritte auf Holzfußboden näherten sich. Dann ein Klappern hinter der Tür.
»Ja. Wer ist da?«
Elin klopfte.
Erneutes Klappern, der Hörer der Wechselsprechanlage wurde aufgelegt. Die Tür öffnete sich einen Spalt. Keine Kette.
»Ja?«
»Frau Albogast?«
»Ja.«
»Ich bin Elin. Erics Schwester.«
Wieder vergingen mehrere Sekunden. Dann trat die Frau zur Seite und öffnete die Tür.
»Bitte.«
Elin betrat den Flur, nahm links eine unaufgeräumte Küche wahr und betrat den ersten Raum, der vom Flur abzweigte. Pia deutete auf ein dunkelrotes Sofa hinter einem Glastisch. Elin setzte sich. Die Frau war ein paar Jahre älter als sie selbst, aber wohl noch keine dreißig. Erics Typ. Mittellange blonde Haare. Pony. Gut sichtbare Oberweite. Schmale Hüften. Ein attraktives, aber zugleich durchschnittliches Gesicht.
»Willst du etwas trinken?«
»Nein, danke.«
Pia verließ den Raum. Das Radio verstummte. Sie kam mit einem weißen Becher zurück.
»Ich habe dich in Erics Handy gefunden«, erklärte Elin.
Pia nickte. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Du bist hier, um seine Sachen zu holen?«
»Er hat noch Sachen bei dir?«
»Nein«, sagte sie und lächelte über das Missverständnis. »Bei ihm, meine ich.«
»Du kennst seine Wohnung?«
»Ich … nein, er hat sie ja erst im Frühjahr gekauft. Wir waren nur kurz zusammen, vor zwei Jahren.«
Aber habt viel telefoniert, dachte Elin stumm.
Einen Moment lang sagte niemand etwas. Elin wünschte sich, Gedanken lesen zu können.
»Aber ihr wart befreundet, oder?«
»Wir waren Arbeitskollegen. Befreundet nicht, nein.«
»Dann habe ich ihn wohl damals falsch verstanden«, sagte Elin. »Ich dachte, ihr wärt befreundet. Du und Jürgen und Jens.«
»Hat er von uns erzählt?«
Elin nickte stumm.
Pia setzte sich und stellte ihren Becher auf dem Glastisch ab. Eine feine Staubschicht lag darauf.
»Klar, mit Jürgen und Jens hatte er immer zu tun. Durch die Arbeit. Aber wir … du weißt schon, wie so etwas läuft. Eric und ich, das war nur so ein Strohfeuer.«
Sie schwieg wieder und fügte dann hinzu: »Ich bin mit Jürgen zusammen. Seit eineinhalb Jahren. Eric und ich hatten fast keinen Kontakt mehr. Nur bei der Arbeit natürlich. Bis er wegging.«
»Jürgen und Jens waren seine Kollegen?«
»Ja und nein. Eric hatte mit dem Geschäftlichen ja gar nichts zu tun. Er war der Techniker, der Computermann. Er hatte keine Investmentbereiche so wie Jürgen oder Jens.«
»Die BIG ist pleite, nicht wahr?«
Pia nickte.
»Und ihr? Seid ihr alle arbeitslos?«
»Ich schon.«
»Und die andern?«
»Jens ist in den USA und macht einen MBA.«
»Und Jürgen?«
»Arbeitet für Marquardt. In einer anderen Firma.«
»Warum ist Eric im Frühjahr ausgestiegen? Weiß du etwas darüber?«
Pia schüttelte den Kopf und schaute betreten vor sich hin. Plötzlich hatte sie Tränen in den Augen.
»Ich … ich kann mir vorstellen, wie es in dir aussieht«, stammelte sie mit belegter Stimme. »Es tut mir so leid. Warum hat er das nur getan?«
»Die Polizei sagt, dass er Schulden hatte. Weil er sich selbständig machen wollte.«
Pia schneuzte sich. »Ach ja, davon hat er oft geredet. Internet und so.«
»Deshalb ist er gegangen?«
»Ich habe keine Ahnung. Niemand wollte, dass er geht. Wir brauchten ihn doch. Er kannte alles in- und auswendig.«
Aus dem Nebenzimmer kam ein Geräusch. Pia stand auf. »Entschuldige. Ich habe ein Fenster offen.«
Als sie zurückkam, wirkte sie ernst. Elin hatte versucht, sich darüber klarzuwerden, wie diese Frau auf einen Frontalangriff reagieren würde. Aber sie war zu keinem Schluss gekommen.
»Ich will nicht unhöflich sein, Elin, aber ich habe noch ziemlich viel zu tun heute. Es tut mir wie gesagt furchtbar leid. Ich habe deinen Bruder sehr gemocht.«
Elin stand auf.
»Ja. Ich weiß.«
Sie ging ein paar Schritte auf den Flur zu. Dann drehte sie sich wieder um.
»Deshalb hast du ihn ja wahrscheinlich angerufen, bevor er sich aufgehängt hat.«
Pia Albogast antwortete nicht. Sie stand wie angewurzelt da, den Kopf leicht gesenkt, und starrte sie an.
»Er war hier«, fuhr Elin ruhig fort. »An dem Abend, als er sich umgebracht hat, ist er bei dir gewesen, nicht wahr?«
Pia Albogast wich ein wenig zurück. Dann schloss sie die Augen, schüttelte kurz den Kopf und sagte: »Es muss furchtbar für dich sein. Aber was, bitte, sollen diese Fragen? Eric war nicht hier. Seit über zwei Jahren nicht. Und ich habe ihn nicht angerufen. Wie kommst du überhaupt darauf?«
»Ich habe seine Handys. Du hast ihn mehrmals angerufen am 29. September. Du und Jürgen und Jens. Und noch ein paar andere, mit denen Eric offenbar nicht mehr reden wollte. Das Handy war schon seit Wochen stillgelegt. Offenbar hatte er keine Lust auf Konversation mit euch. Aber ihr wolltet etwas von ihm, nicht wahr? Und er hat hier unten Geld abgehoben. Am Abend seines Todes. Um 19:27 Uhr. Da ist er hier gewesen, oder vielleicht nicht?«
Pia öffnete und schloss ihren Mund, brachte aber kein Wort heraus.
Elin drehte sich um, ging zur Wohnungstür, öffnete sie und trat in den Hausflur hinaus. Sie war bereits zwei Stufen nach unten gegangen, als Pia Albogast aus ihrer Schockstarre erwachte. Plötzlich stand sie dort oben, das Gesicht feuerrot.
»Was … was zum Teufel willst du damit sagen? He … wo willst du hin? Bleib stehen. Erkläre dich.«
Elin antwortete nicht. Ab jetzt bekäme sie ohnehin nur noch Lügen zu hören. Zeitverschwendung. Als sie acht Stufen weitergegangen war, hörte sie die Tür knallen. Sie blieb stehen. Wartete. Dann machte sie kehrt und schlich die Treppe wieder hinauf. Sie brauchte das Ohr gar nicht an die Tür zu legen. Verstehen konnte sie nichts, aber die Stimmen waren deutlich vernehmbar. Die von Pia. Und eine zweite, männliche.
Sie verließ das Haus und stieg auf ihr Fahrrad. Sie musste diesen Kommissar sprechen. Als sie zwanzig Minuten später die Bartningallee erreicht hatte, war das Wetter genauso schlecht wie am Sonntag, als sie auch schon hier gestanden hatte. Sie klingelte mehrmals, aber es erfolgte keine Reaktion. Nach einer Stunde spürte sie die Kälte. Sie spazierte auf und ab und begann sich zu fragen, ob es keine andere Möglichkeit gab, mit diesem Mann in Kontakt zu kommen. Als eine ältere Frau das Gebäude verließ, schaffte sie es noch rechtzeitig und schlüpfte zur Tür hinein. Sie fuhr mit dem Fahrstuhl in den achten Stock und klingelte an Zollangers Wohnung. Vergeblich lauschte sie einige Sekunden in die Stille hinter der Wohnungstür hinein, ging dann eine halbe Treppe abwärts und setzte sich auf die Stufen. Das Treppenlicht erlosch. Die plötzliche Wärme nach den Stunden draußen in der Kälte ließ eine bleischwere Müdigkeit in ihr aufkommen. Sie versuchte, all das, was sie die letzten Tage über gesammelt hatte, irgendwie zu ordnen. In jeder Richtung gab es Unklarheiten, nichts, woran man sich halten konnte. Eric hatte massenhaft Firmendaten gesammelt, die ihm so wichtig gewesen waren, dass er sie aufwendig versteckt und geschützt hatte. Auf seinem Konto waren große Beträge eingegangen, die er nicht benutzt hatte, um seine Schulden zu bezahlen. Warum? Wieso hatte er seine alten Handys stillgelegt? Warum log Pia? Was hatte Eric am Tag seines Todes von ihr gewollt? Sie hatte versucht, ihn anzurufen, auf einem seiner stillgelegten Handys, deren SIM-Karte in München bei Alexandra versteckt gewesen war.
Elin drückte auf den Lichtschalter und holte ihre Unterlagen hervor. Sie musste alles logisch aufschreiben für diesen Bullen, ihm eine Geschichte erzählen, eine Geschichte von Eric, der monatelang vor einer unbestimmten Gefahr auf der Flucht war. Sie begann ihre Notizen zu ordnen. Mehrmals machte sie das Licht wieder an. Dann wurde ihr Kopf von neuem schwer. Vielleicht sollte sie fünf Minuten schlafen, dachte sie. Nur fünf Minuten. Sie legte den Kopf auf die Arme. Es roch nach Bohnerwachs. Das registrierte sie noch. Dann schlief sie ein.