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Zwei Stunden bevor die Verhandlung gegen Elin Hilger vor dem Landgericht begann, war in den Nachrichtenredaktionen der wichtigsten Zeitungen und Sendeanstalten der Stadt folgendes Fax eingegangen:

Sehr geehrte Damen und Herren,

 

hiermit teile ich Ihnen mit, dass sich im Kofferraum eines dunkelgrünen Pkw der Marke Ford, gegenwärtiger Standort: Parkhaus Berlin Ostbahnhof, Zufahrt Stralauer Platz, Stellplatz Nummer 84, umfangreiches Aktenmaterial zu den Hintergründen des unmittelbar bevorstehenden Konkurses der VKG-Volkskreditgesellschaft und ihrer Teilbanken befindet. Ich erteile Ihnen die Genehmigung, den Kofferraum des Wagens gewaltsam zu öffnen, die Akten zu entnehmen und journalistisch auszuwerten. Da die in den Akten enthaltenen Informationen teilweise illegal beschafft wurden und nicht gerichtsverwertbar sind, stelle ich Ihnen anheim, die von mir markierten Schlüsseldokumente unkommentiert zu veröffentlichen und das Material nach Auswertung und Sichtung an den Haushaltsausschuss des Abgeordnetenhauses weiterzuleiten.

Hintergrund:

Die VKG ist ein auf verfassungswidrigem Wege entstandener Verbund von öffentlichen und privaten Banken und Finanzgesellschaften. Der Konzern steht kurz vor dem Zusammenbruch und wird einen finanziellen Schaden von bisher nie dagewesener Höhe nach sich ziehen, der aufgrund seiner öffentlich-privaten Natur von der Gesamtheit der Bevölkerung zu tragen sein wird.

Damit nicht genug. Ein bereits im vorletzten Herbst erstelltes, streng vertrauliches (sogenanntes Phoenix-) Gutachten von Bankvorstand Hans-Joachim Zieten, das sich ebenfalls in den Akten befindet, zeigt auf, wie die profitablen Teilbereiche des Konzerns im Konkursfall durch rasch vorgezogene illegale In-Sich-Geschäfte ausgelagert werden könnten, um die Interessen der beteiligten Privatbanken zu befriedigen.

Welche gigantischen Verluste dabei dem öffentlichen Haushalt entstehen würden, ist im Kapitel »Bereinigung von Betreiberaktivitäten und Abkopplung von der internen Konzernverrechnung« ausführlich dargestellt und wird zur besonderen Lektüre empfohlen.

In ihrer Gesamtheit dokumentieren die Akten den dringenden Tatverdacht von schwerem Amtsmissbrauch, Verfassungsbruch, rechtswidriger Vorteilnahme, Untreue und Bilanzfälschung.

Meine vollständige Zeugenaussage in dieser Angelegenheit wird heute um 10:30 Uhr dem Landgericht Berlin, Vierzehnte Strafkammer, Sitzungssaal 8 im Rahmen des Strafverfahrens gegen Frau Elin Hilger zugestellt.

 

Hochachtungsvoll

Martin Zollanger

Kriminalhauptkommissar a.D.

Von den Journalisten, die sich kurz nach Beginn der Verhandlung im Gerichtsgebäude Moabit einfanden, um noch in den Sitzungssaal acht zu gelangen, hatte angeblich keiner das in dem Fax genannte Material gefunden. Mehrere von ihnen bestätigten zwar, den Pkw im Parkhaus Ostbahnhof gefunden und den bereits aufgebrochenen Kofferraum nach Akten durchsucht zu haben. Doch wer immer der Schnellste gewesen war, hüllte sich der Konkurrenz gegenüber in Schweigen, solange die entsprechende Redaktion das heikle Material prüfte. Handygespräche wurden äußerst leise und diskret geführt, während man ungeduldig auf Einlass in den Verhandlungssaal wartete. Jeder verdächtigte jeden, das Material zu besitzen.

Als die Verhandlung wegen Zollangers Videoaussage unterbrochen wurde, existierten über die Akten und die darin dokumentierten ungeheuerlichen Anschuldigungen noch immer nur Gerüchte. Doch der sensationelle Umstand, dass ein vor zwei Monaten angeblich getöteter Hauptkommissar sich plötzlich als Zeuge in einem Mordprozess gemeldet hatte, der gerade eröffnet worden war, machte wie ein Lauffeuer die Runde. In kürzester Zeit kreuzten weitere Journalisten vor dem Gerichtsgebäude auf und beantragten Besuchergenehmigungen, die zu diesem Zeitpunkt allerdings bereits ausgeschöpft waren.

Kurz vor elf Uhr wurde im Radio gemeldet, es kursierten Gerüchte über eine bedrohliche Schieflage der VKG. Dem Vorsitzenden des Haushaltsausschusses des Abgeordnetenhauses war per E-Mail eine geheime Vorstandsvorlage zugesandt worden. Der hatte daraufhin sofort den Verfasser der Vorlage, Bankvorstand Zieten, angerufen und ihm spontan sehr konkrete Fragen zu diesem sogenannten »Phoenix-Gutachten« gestellt, die mittlerweile auch im Internet abrufbar war. Zieten verweigerte eine Stellungnahme. Nur Minuten später folgte eine Meldung des Wirtschaftsdienstes: Die VKG habe soeben erklärt, sie werde nicht in der Lage sein, das Konzernergebnis des Vorjahres zum 31. März zu veröffentlichen, da Unstimmigkeiten in den Bilanzen einiger Teilbanken, insbesondere der Treubau-Gesellschaft TBG, aufgetaucht seien, die das Konzernergebnis beeinträchtigen könnten und vermutlich monatelange Zweitprüfungen erforderlich machen würden.

Es verging lediglich eine weitere Viertelstunde, bis sich ein aufgebrachter Anrufer bei dem Sender meldete und erklärte, er habe bereits vor drei Jahren die Bewertungspraxis in den Bilanzen der VKG und ihrer vielen Teilbanken als völlig fehlerhaft bezeichnet, da in den Gewinnschätzungen gigantische versteckte Risiken schlummerten. Das Ergebnis seines Testats sei gewesen, dass er von seiner Prüftätigkeit entbunden und das Mandat für die Bilanzprüfung einer renommierten Wirtschaftsprüfungsgesellschaft übertragen worden sei, welche die von der VKG gewünschten Ergebnisse »herbeigeprüft« hätte.

Von all diesen Nachrichten, die bis zum Mittag zu einer regelrechten Flut anschwollen, drang nichts in das Besprechungszimmer von Sitzungssaal acht, wo die drei Richter, die beiden Schöffen, Vera Kornmüller und Jochen Frieser sich Zollangers Videoaussage anschauten. Die Aussage dauerte fast vierzig Minuten. Danach verließ Jochen Frieser sofort den Raum, um Hans-Joachim Zieten anzurufen und ihn über die völlig unvorhergesehene Wendung des Falls zu unterrichten. Aber Zietens Handy war tot. Und in seinem Büro war er auch nicht.

»Es ist aber verdammt noch mal äußerst dringend«, schrie er die Sekretärin durch sein Handy an. »Ich muss Herrn Dr. Zieten sofort sprechen.«

»Dringend«, stammelte die Frau, den Tränen nahe. »Wissen Sie überhaupt, was hier seit einer Stunde los ist? Ich werde gar nicht mehr ans Telefon gehen, verstehen Sie.«

Frieser verstand gar nichts. Nur, dass die Sekretärin aufgelegt hatte.

Er kehrte in den Besprechungssaal zurück, völlig unschlüssig, wie er sich nun verhalten sollte. Der Vorsitzende hatte soeben vorgeschlagen, das Hauptverfahren zunächst auszusetzen, bis die Gültigkeit dieser Zeugenaussage geklärt war.

»Aussetzen?«, protestierte Vera Kornmüller. »Wieso aussetzen? Das Verfahren ist zu Ende. Wir haben ein Geständnis. Hätten wir diese Aussage im Ermittlungsverfahren gehabt, wäre es nie zur Hauptverhandlung gekommen. Die ganze Anklage fußt auf einer unglaublichen Schlamperei der Ermittlungsbehörden.«

Sie wandte sich an Frieser, der nun wieder am Tisch Platz genommen hatte. »Sie haben Martin Zollanger für tot erklärt, obwohl es sich bei dem Toten um Georg Zollanger gehandelt hat, seinen Bruder.«

»Das konnten wir nicht ahnen«, protestierte Frieser. »Der Leichnam wies alle biologischen Merkmale aus Martin Zollangers jüngsten Krankenakten auf.«

»Ja, sicher«, entgegnete Vera Kornmüller. »Weil Georg Zollanger, wie wir aus dem Video wissen, sich im Frühjahr letzten Jahres als Martin Zollanger hat behandeln lassen. Wenn die Gerichtsmedizin sorgfältiger recherchiert hätte und auch ältere Akten zu Rate gezogen hätte, dann wäre Ihnen dieser Fehler nicht unterlaufen. Ebenso tölpelhaft waren die Ermittlungen zu den Torso-Fällen. Ist denn keiner auf die Idee gekommen, dass Martin Zollanger einen …«

»Ihre Vorwürfe sind unerträglich«, zischte Frieser. »Wir wurden arglistig getäuscht, zudem von einem Angehörigen der Polizei, der natürlich über besondere Kenntnisse verfügt, wie man Ermittlungen manipulieren oder sabotieren kann.«

»Wenn jemand getäuscht wurde, dann meine Mandantin. Von einer Strafverfolgungsbehörde sollte man erwarten können, dass sie sorgfältig und umsichtig arbeitet. Täuschungsabsichten zu entlarven ist ja wohl ihr tägliches Brot. Ich bleibe dabei. Die Anklage hat sich auf stümperhafte Ermittlungen gestützt. Ich beantrage, dass die Anklage gegen Elin Hilger sofort fallengelassen wird.«

Das darauffolgende sekundenlange Schweigen wurde plötzlich durch ein heftiges Klopfen an der Tür unterbrochen. Ein Justizbeamter trat herein und winkte dem Vorsitzenden zu. Der Mann stand auf, ging zu dem Beamten hin und hörte sich an, was er ihm zu sagen hatte. Von draußen klang Stimmengewirr herein. Auf dem Gang vor dem Saal mussten sich mittlerweile sehr viele Menschen eingefunden haben. Der Vorsitzende kehrte an den Tisch zurück und sagte: »Herr Zollanger hat heute Morgen nicht nur uns überrascht. Wie ich gerade erfahren habe, hat er der Presse vor zwei Stunden umfangreiches Beweismaterial für seine Behauptungen zugestellt. Diesem Umstand verdanken wir offenbar diese schlagartige geballte Medienaufmerksamkeit.«

Er schaute in die Runde und fuhr dann fort. »Unter den gegenwärtigen Umständen können weder Frau Hilger noch Herr Kuljici als dringend tatverdächtig des Mordes an Aivars Ozols betrachtet werden. Die beiden sind daher mit sofortiger Wirkung aus der Untersuchungshaft zu entlassen, allerdings mit der Auflage, sich als Zeugen zur Verfügung zu halten. Die Staatsanwaltschaft«, fuhr er zu Frieser gewandt fort, »dürfte ab sofort alle Hände voll zu tun haben, Herrn Martin Zollanger dingfest zu machen und den ungeheuerlichen Komplex von Anschuldigungen zu überprüfen, die er in dieser Zeugenaussage gemacht hat. Ich darf Sie übrigens informieren, dass soeben der Haushaltsausschuss des Abgeordnetenhauses zu einer Dringlichkeitssitzung zusammengetreten ist. Dieses Verfahren wird wohl demnächst in einem umfassenderen Prozess aufgehen. Ich gehe davon aus, dass dann eine auf Wirtschaftsdelikte spezialisierte Strafkammer zuständig sein wird. Damit sind wir hier fürs Erste fertig. Ich danke Ihnen für Ihre Mitarbeit und wünsche Ihnen einen schönen Tag. Die Sitzung ist geschlossen.«