58
Brenner betrat das italienische Restaurant in der Ackerstraße gegen halb zwei. Er war nicht früher weggekommen und hatte außerdem auf der Invalidenstraße fast zwanzig Minuten im Stau gestanden. Sina saß an einem Ecktisch und hob nur kurz die Hand, als er hereinkam.
»Tut mir leid«, entschuldigte er sich. »Stau.«
»Ich war auch zu spät«, sagte sie und schob ihm die Karte hin. »Hier. Ich nehme nur einen Salat.«
Brenner kommentierte das nicht. Gut, dass sie überhaupt etwas aß. Sina sah furchtbar aus. Sie hatte Ringe unter den Augen. Ihre braunen Haare steckten unter einem Kopftuch, was ihre Wangenknochen und ihre großen dunklen Augen stärker hervortreten ließ. Brenner überflog die Karte, konnte sich wie üblich nicht entscheiden und bestellte schließlich eine Lasagne und ein kleines Bier.
»Geht’s dir besser?«, fragte er dann. »Die anderen fragen nach dir. Was soll ich sagen?«
»Gar nichts. Und du? Wie geht es dir?«
Udo Brenner zuckte mit den Schultern. Er hätte sich nach dem Horror der letzten Woche auch am liebsten krankgemeldet. Aber dann hatte er es nicht getan.
»Immer wenn ich an seinem Schreibtisch vorbeigehe, könnte ich losheulen«, sagte er. »Aber zu Hause würde mir die Decke auf den Kopf fallen. Die Arbeit lenkt wenigstens ab.«
Sina nickte und schaute kurz aus dem Fenster. Brenner senkte die Stimme etwas und sagte: »Die Obduktionsberichte sind da.«
Sie nickte. »Und?«
Brenner schaute sich um. Aber dank seiner Verspätung saßen keine anderen Mittagsgäste mehr in Hörweite.
»Alle vier Kugeln haben getroffen. Zwei davon waren tödlich, eine im Hals und eine punktgenau auf dem Aortenbogen.«
Er machte eine Pause. Dann fügte er hinzu: »Wenigstens dürfte er kaum etwas gespürt haben.«
Sina zeichnete mit ihrer Gabel Linien auf ihre Serviette.
»Und der Rest?«
Brenner holte einen Umschlag hervor. »Hier«, sagte er. »Willst du es nicht lieber selbst lesen?«
»Nein. Ich bin außer Dienst. Erzähl es mir bitte.«
Die Bedienung kam. Brenner bestellte. Dann fuhr er fort: »Sie haben seine Krankenakte aus Steglitz mit herangezogen. Zollanger hatte noch ein bis zwei Jahre zu leben. Das erklärt nicht unbedingt seinen Amoklauf. Aber in einen Kugelhagel hineinzulaufen ist auch ein Weg, ein Krebsleiden zu beenden. Jedenfalls deutet nichts darauf hin, dass er versucht hat, diesem Typen auszuweichen. Er ist stehen geblieben wie eine Schießbudenfigur.«
Sinas Gabel hatte das Serviettenpapier durchgewetzt. Sie legte sie zur Seite und sagte: »Wie weit sind die Ballistiker?«
»Die arbeiten noch«, antwortete Udo Brenner. »Aber der Ablauf ist einigermaßen klar. Zollanger hat sich dem Schützen in den Weg gestellt.«
»War er nicht bewaffnet?«
»Nein.«
»Und seine Dienstwaffe?«
»Verschwunden.«
Sina erwiderte nichts. Noch ein Rätsel.
»Entweder hat er nicht damit gerechnet, dass der Mann sofort schießt. Oder er hat einfach noch eine Unbegreiflichkeit auf die anderen gehäuft. Auf jeden Fall ist er dem Mann unbewaffnet gegenübergetreten. Der Schütze hat aus drei oder vier Meter Entfernung gefeuert und Zollanger mit vier Schüssen getötet. Das ist unbestritten.«
»Und das Mädchen?«, fragte Sina.
»Sie kann sich an absolut nichts erinnern.«
»Wo ist sie?«
»Noch im Krankenhaus. Aber sie kommt wohl noch vor Weihnachten in U-Haft. Frieser will beweisen, dass sie hinter dem Schützen gestanden hat. Als der zu feuern begann, soll sie die Schleuder gespannt und geschossen haben.«
»Und wie wurde sie dann verletzt?«, gab Sina zu bedenken.
»Das ist die Frage«, erwiderte Udo. »Der Schütze hat im Todesreflex noch einmal abgedrückt. Eine seiner Kugeln steckte in seinem Schenkel. Er kann durchaus noch zwei oder drei Mal geschossen haben.«
»Und wie soll er das Mädchen getroffen haben, wenn es hinter ihm stand?«
»Sie hat wahrscheinlich einen Querschläger abbekommen. Bei Schießereien auf so engem Raum ist so gut wie alles möglich. Aber wie gesagt, das ist Friesers Theorie, nicht meine.«
»Und wie lautet deine?«
»Ich glaube, dass dieser Mirat geschossen hat. Krawczik hat herausgefunden, dass der Junge das Mädchen offenbar schon einmal mit seiner Schleuder beschützt hat. Irgendwelche braunen Dumpfbacken haben sie letzte Woche vor dem LIDL auf dem Wilhelmsruher Damm angemacht. Mirat hat den Typen Beine gemacht, indem er ein Loch in einen Glascontainer geschossen hat. Es liegt ziemlich nahe, dass er den Typen umgepustet hat.«
»Aber warum sagt das Mädchen nichts?«
»Entweder sie hat wirklich einen Blackout. Oder sie will diesen Mirat nicht belasten. Wir haben ihre Fingerabdrücke«, sagte er. »Sie hat die Schleuder auf jeden Fall in der Hand gehabt. Das ist sicher. Aber es ist nicht klar, wann und ob sie geschossen hat. Wir haben mehrere Zeugenaussagen, dass die Schleuder dem Jungen gehört. Dieser Mirat kann durchaus hinter dem Schützen gestanden und ihn von dort aus erledigt haben. Ich meine, mit so einer Zwille muss man ja umgehen können.«
Sina war nicht überzeugt. »Warum verteidigt sie sich nicht gegen den Vorwurf, den Mann getötet zu haben? Das verstehe ich nicht.«
Brenner verzog den Mund. »Wie gesagt. Wenn sie es nicht war, dann muss es der Junge gewesen sein. Vielleicht will sie ihn decken. Oder sie phantasiert, kann sich einfach nicht erinnern. Wahrscheinlich überlegt sie es sich noch mal. Ich denke, ihre Anwältin wird sie schon noch zum Reden bringen.«
Sie unterbrachen ihr Gespräch wieder, während die Bedienung die Getränke vor ihnen abstellte.
»Was ist mit dem Schützen? Wer ist er?«, wollte Sina wissen.
»Ein Lette. Er heißt Aivars Ozols. Lebt in Riga. Viel mehr war über ihn noch nicht in Erfahrung zu bringen. Der Mann betreibt so eine Art privaten Sicherheitsdienst. Zieten hat ihn engagiert, um seine entführte Tochter zu finden.«
Sinas Miene verdüsterte sich.
»Das hört sich ja nett an«, stieß sie wütend hervor. »Ein Profi also.«
Brenner zog die Augenbrauen hoch. »Ich sage dazu nichts, Sina. Zieten ist eine einflussreiche Figur des öffentlichen Lebens. Seine Tochter war verschwunden. Da kann ihm niemand einen Vorwurf machen, dass er professionelle Hilfe engagiert hat.«
»Professionelle Hilfe? Wie wäre es, genau das zu tun, was jeder Bürger in so einem Fall zu tun hat: nämlich zur Polizei zu gehen?«
»Zieten behauptet, die Polizei würde Vermisstenfälle immer erst nach Tagen ernst nehmen. Er habe nicht so lange warten wollen. Außerdem sei sein Vorgehen durch die Vorfälle ja wohl bestätigt worden. Da ein Polizeihauptkommissar seine Tochter entführt hatte, hätte er von der Polizei wohl wenig Hilfe erwarten können.«
»Als hätte er das gewusst«, rief Sina wütend. »Begreifst du das? Das ergibt doch alles überhaupt keinen Sinn!«
»Nein«, sagte Brenner kurz angebunden. »In der Tat. Aber ich sehe in Martins letzten Lebenswochen ziemlich wenig, was einen Sinn ergibt.«
Sina trank einen Schluck von ihrer Apfelsaftschorle, bevor sie antwortete: »Dann ist also dieser Ozols bei Martin eingebrochen.«
»Hm«, entgegnete Brenner skeptisch. »Frieser geht davon aus, dass Zollanger abhauen wollte. Er wusste, dass wir nur noch ein paar Stunden davon entfernt waren, ihn als Täter zu identifizieren. Schon durch die Mietwagenabfrage wäre er aufgeflogen.«
»Eben«, entgegnete Sina ärgerlich. »Das ist doch einfach Schwachsinn. Martin muss klar gewesen sein, dass wir ihn in null Komma nichts fassen würden.«
»Sina«, unterbrach Udo, »Martin hat nicht vernünftig gehandelt …«
»… auf wen hat er in seiner Garage geschossen?«, schnitt sie ihm das Wort ab.
»Woher soll ich das wissen? Ich will ja gar nicht ausschließen, dass der Typ schon hinter ihm her war und ihn bis nach Reinickendorf verfolgt hat. Leider ist der Mann aber tot, und wir können ihn nicht mehr befragen. Unsere Rolle in der ganzen Sache ist derart unrühmlich, dass wir überhaupt kaum etwas tun können.«
Sina schaute grimmig vor sich auf den Tisch. Dann sagte sie: »Wie sollen wir uns das also vorstellen: Irgendwann letztes Jahr erfährt Martin, dass er unheilbar an Krebs erkrankt ist. Kurz darauf rutscht ihm bei einer Festnahme die Hand aus.«
»Ja«, sagte Udo. »Das weißt du ja alles. Daraufhin wird er vorübergehend beurlaubt, was aber nur dazu führt, dass sich sein Gemütszustand verschlimmert. Das Bewusstsein, bald sterben zu müssen, setzt Allmachtsphantasien und diffuse Rachegefühle in ihm frei. Er will nicht geräuschlos abtreten, sondern ein Zeichen setzen, seine Verachtung für diese Welt ganz krass bekunden. Er wälzt Kunstbände und Emblemhandbücher und stößt auf mittelalterliche Moralappelle, die er als Vorlage für seine grotesken Leichenarrangements benutzt.«
»Das kannst du erzählen, wem du willst«, brummte Sina. »Das glaube ich dir nicht.«
»Mir? Mir brauchst du gar nichts glauben. Das sind verdammt noch mal die Fakten. Die Kunstbände aus der Staatsbibliothek liegen noch in seiner Wohnung, Sina. Zollanger ist im Frühjahr in Italien gewesen. Frieser vermutet, dass Zollanger das Gemälde der schlechten Regierung dort gesehen hat. Die Psychologin, die ihn behandelt hat, hat Zollanger einen zutiefst autoritären Charakter attestiert. Er habe sich nach einfachen Lösungen gesehnt, die Wende nicht verkraftet. Du weißt ja selbst, wie sehr er den Westen verachtet hat, wie dekadent und korrupt er alles fand. Weißt du, was in manchen Leuten gärt, die einmal an den Sozialismus geglaubt haben? Die fühlen sich doppelt und dreifach verraten …«
»Also gut«, lenkte Sina ein. »Er dreht durch, besorgt sich eine Frauenleiche, ein Lamm und eine Ziege und deponiert seine Torsi in Gebäuden, die alle zum Geschäftsimperium von Hans-Joachim Zieten gehören. Um die Sache abzurunden, entführt er auch noch dessen Tochter. Warum tut er das? Was bezweckt er damit?«
Brenner musste passen. »Das musst du einen Psychiater fragen. Ich habe keine Ahnung. Zieten ist ein stadtbekannter Banker und einflussreicher politischer Strippenzieher. Ich glaube nicht, dass es Zollanger um Zieten als Person ging. Die Psychologin sagt, er habe vermutlich eine Rachephantasie ausleben, dem seiner Ansicht nach dekadenten, korrupten Westen einen Spiegel vorhalten wollen. Du weißt doch so gut wie ich, wie Martin dachte und fühlte. Wie ihn das alles anwiderte. Er fand doch alles nur noch obszön. Die Armut und den Reichtum. Die Gier. Die Gefräßigkeit überall. Auf allen Ebenen. Ihm wurde ja schon fast schlecht, wenn er nur einen ALDI-Flyer sah oder Reklamezettel für Flatrate-Saufen.«
»So weit wir wissen«, fuhr Sina beharrlich fort, »wurden nie irgendwelche Forderungen an Zieten gestellt.«
»Was die Annahme bestätigt, dass es einfach eine Wahnsinnstat gewesen ist. Kein nachvollziehbares Motiv, sondern ein rein symbolischer Amoklauf.«
»Meinetwegen«, räumte Sina widerwillig ein. »Aber Zieten hat seine Tochter nicht einmal vermisst gemeldet. Nur Frieser wusste überhaupt von der Entführung. Findest du das normal?«
»Wie ich schon sagte. Ich finde bei Martin recht wenig normal.«
»Ich rede nicht von Martin. Die ganze Kette von Vorfällen stinkt doch zum Himmel. Das Überwachungsvideo ist erst verschwunden, dann taucht es plötzlich bei Frieser auf. Der Mietwagen führt uns direkt zum Versteck des entführten Mädchens. Sie identifiziert Zollanger, verweigert aber ansonsten die Aussage.«
»Worauf willst du hinaus, Sina?«
»Ich will hinein, Udo. In den Kern dieses ganzen Theaters. Was wollte Martin? Was verschlägt ihn plötzlich in diesen Keller in Reinickendorf? Wie sind er und das Mädchen dort hingekommen? Und wie hat Ozols sie dort gefunden?«
Udo schaute ungeduldig in Richtung Küchentür und griff dann nach einer Grissini-Stange.
»Wir arbeiten daran. Bis jetzt wissen wir nur, dass das verletzte Mädchen letzte Woche versucht hat, mit Martin in Kontakt zu treten …«
Er unterbrach sich kurz, sprach dann aber doch weiter: »… sie muss auch bei ihm in der Wohnung gewesen sein, denn wir haben ihre Fingerabdrücke in seinem Gästezimmer gefunden.«
»Was?«
»Ja. Vielleicht ist sie ja bei Zolli eingebrochen.«
»Weiß man denn, was sie an jenem Freitag von ihm wollte?«
»Tanja kann sich erinnern, dass sie am Morgen, als wir Torso eins gefunden haben, in der Keithstraße war. Zollanger hatte einen Termin mit ihr gemacht. Sie war wegen ihres Bruders gekommen. Eric Hilger. Selbsttötung. Sie wollte, dass wegen Mordes ermittelt wird. Tanja hat sie damals zur Staatsanwaltschaft geschickt.«
Sina schaute verblüfft auf.
»Sie hatte vorletzte Woche einen Termin mit ihm? Bei uns im Büro?«
»Ja.«
»Und sie ist in Martins Wohnung gewesen?«
Brenner bejahte auch diese Frage, allerdings mit einem Kopfnicken, denn soeben kam das Essen.
»Dafür, dass du krankgeschrieben bist, hast du aber viele Fragen«, murmelte er dann. Sina lachte nicht über den schlechten Witz.
»Was wissen wir denn über sie?«
»Sie heißt Elin Hilger. Zwanzig, nein, einundzwanzig Jahre alt. Sie hat ja ihren letzten Geburtstag auf der Intensivstation gefeiert.«
Auch diese Bemerkung entlockte Sina kein Lächeln. Brenner aß ein Stück Lasagne und fuhr dann fort:
»Das Mädchen ist total asozial. Lebt in Hamburg, Hafenstraße. War jahrelang Straßenkind und ist jetzt in allen möglichen Anti-alles-Projektgruppen aktiv. Die Familie ist ziemlich kaputt. Mutter früh gestorben. Ihr Vater ist Edmund Hilger, ein Society-Starfotograf in Hamburg. So’n Schicki-Micki-Hengst, der seine Kinder wohl ziemlich vernachlässigt hat. Na ja. Sein Sohn hat sich wie gesagt vor ein paar Monaten hier in Berlin das Leben genommen. Und die Schwester hat das offenbar nicht gut verkraftet.«
Sina schob ihren Salat zur Seite und holte einen Notizblock aus ihrer Tasche. Brenner beobachtete sie argwöhnisch.
»Willst du nicht lieber gleich mit ins Büro kommen?«, fragte er. »Du wirkst gar nicht mehr so krank.«
»Hast du eine Ahnung, wie krank ich allmählich werde«, sagte sie. »Wie heißt der Bruder?«
»Eric Hilger.«
»Selbsttötung, sagst du?«
»Ja. Ende September. Ziemlich klarer Fall.«
»Hast du die Akte angefordert?«
»Ja.«
»Und?«
»Tod durch Erhängen. Der junge Mann hatte beträchtliche Schulden.«
»Und sonst? Keine Verbindung irgendeiner Art zu Zolli? Warum kommt denn die Schwester ausgerechnet zu ihm?«
Udo widmete sich erst einmal wieder seiner Lasagne und trank dann einen Schluck Bier, bevor er antwortete. »Das war mehr oder weniger Zufall. Zollanger hat die Akte im November überprüft, weil bei der Staatsanwaltschaft ein Nachermittlungsersuchen eingegangen war. Aber er hat der Akte keinerlei Hinweise auf Fremdverschulden entnehmen können und sie entsprechend zurückgeschickt. Vermutlich wurde das Mädchen deshalb an ihn verwiesen. Er hat die Akte zuletzt gesehen.«
Sina schrieb sich immer mehr Stichworte auf. Ihr Salat stand so gut wie unberührt neben ihr. Eine Fliege hatte sich auf einem Feldsalatblatt niedergelassen und rieb sich die Hinterbeinchen. Sina kümmerte sich nicht darum.
»Willst du nicht doch lieber gleich mit ins Büro kommen?«, fragte Brenner.
Sina schien ihn garnicht zu hören.
Hilger schrieb sie auf ihr Blatt. Und daneben: Zieten.