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Martin Zollanger hatte keine lebenden Verwandten. Seine geschiedene Frau konnte nach einschlägiger Rechtsprechung nicht für die Bestattungskosten belangt werden. Die Konten des getöteten Polizisten wiesen bereits Negativsalden aus, als das Ordnungsamt ein Pfändungsersuchen einreichte. Zollangers Beamtenrechte waren vier Tage nach seinem Tod durch eine Eilverfügung wegen gravierender dienstlicher Verfehlungen suspendiert worden. Entsprechend schlicht fiel die Beerdigung an einem verregneten Morgen des 17. Januar aus.
Die Ausschreibung für Sozialbestattungen im Bezirk Tiergarten hatte im Vorjahr das Bestattungshaus Walter in der Turmstraße gewonnen. Dem Beerdigungsinstitut standen pauschal siebenhundertfünfzig Euro zur Verfügung, um die Kosten für den Sarg, die Ausstattung des Sarges, das Einbetten, den Überführungswagen, die Träger, die Desinfektion, eine Schutzhülle, die Aufbahrung, einen Redner, einen Organisten, Ausschmückung und Blumen zu bestreiten. Obwohl die 235,76 Euro für die Kapellennutzung entfielen, da Zollanger keiner Kirche angehörte, war das Budget nur unter Verzicht auf Redner und Organist einzuhalten. Als einziger Blumenschmuck blieben nach der Versenkung des Sarges in der Erde lediglich die Sträuße von Sina und Udo auf dem holzbekreuzten Rasengrab zurück, sowie ein von einem Boten gelieferter Kranz, den Sonia geschickt hatte. Erschienen war sie allerdings nicht. Ja, außer Sina und Udo war überhaupt niemand gekommen.
»Gehen wir noch ein Stück?«, hatte Udo am Ende der kurzen Zeremonie gefragt.
Die beiden spazierten schweigend bis zur Stromstraße, folgten ihr bis zum Spreebogen und gingen dann Richtung Hansa-Ufer. Sina war zutiefst deprimiert. Sie hatte das Gefühl, dass die Stadt sich heute in ihrer Schäbigkeit besonders verausgabte. Die Gehsteige waren von schwarzem Granulat übersät, das unter den Schuhen knirschte. Durch die winterlich bedingte Einschränkung der Kehrtätigkeit hatte die Hundekotdichte auf den Gehwegen ein kritisches Ausmaß erreicht. Es war ohnehin nicht empfehlenswert, den Blick zu heben, denn die Farbe des Himmels unterschied sich nur unwesentlich von der des Straßenmatsches, auf dem allein Abfall oder kleine, glitschige Inseln frisch gespuckten Auswurfs farbig glänzten. Man hörte Hupen und Husten und wie zum Hohn in der Ferne das Läuten von St. Johannis, wobei Sina vermutete, dass es wohl nur der Routineglockenschlag nach einer verstrichenen Stunde und keineswegs ein verspätetes Gratis-Memento für ihren toten Kollegen war.
Udo sah sehr ungewöhnlich aus. Er trug einen dunklen Anzug, worin Sina ihn noch nie gesehen hatte. Die Spitzen seiner dunklen Bartstoppeln schimmerten hellgrau, was ihn zwar älter, doch zugleich attraktiver aussehen ließ.
»Fällt es dir schwer, nächste Woche wieder anzufangen?«, erkundigte er sich.
»Sehe ich so aus?«, fragte sie zurück.
»Na ja, gute Farbe hast du immerhin. Wo wart ihr denn diesmal?«
»Südtirol. Aber wir sind schon seit dem sechsten wieder hier. Bringst du mich auf den neuesten Stand?«
Sie betraten ein Café in der Elberfelder Straße. Sie waren die einzigen Gäste.
»Laufende Geschäfte oder Altfälle?« Die Frage war natürlich überflüssig. »Ich weiß mittlerweile, wer die Trieb-Werk-Liste manipuliert hat«, fuhr Brenner auch gleich von selbst fort.
»Und?«
»Rate mal?«
»Findeisen«, versuchte Sina.
»Wieso denn der?«
»Keine Ahnung. Du hast gesagt, ich soll raten.«
Brenner lehnte sich zurück, warf einen Blick auf das Kuchenkarussell und bestellte eine Himbeerquarktorte.
»Es war Krawczik. Er wollte verhindern, dass wir seinen Namen auf der Liste finden.«
Sina starrte Brenner fassungslos an.
»Krawczik ist …?«
Brenner legte seinen Finger auf die Lippen.
»Behalte das bloß für dich. Du kannst dir nicht vorstellen, was der Junge durchmacht.«
»Aber … wie bist du darauf gekommen?«
Udo schüttelte den Kopf. »Gar nicht. Er kam zu mir. Kurz vor Weihnachten. Kreidebleich und am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Frieser hat ja wie ein Berserker bei uns gewütet. Krawczik hatte höllische Angst, dass seine Mauschelei mit den Daten durch die Sache mit Zollanger herauskommen würde. Also hat er sich mir offenbart und mich angefleht, die Sache irgendwie auszubügeln.«
»Und?«
»Und was? Ich denke, die siebte Mordkommission hat mit einem durchgedrehten Kommissar Leichenschänder genügend Imageprobleme. Wir brauchen jetzt nicht auch noch eine Schwulenhatz. Findest du nicht?«
»Natürlich. Ganz deiner Meinung.« Dann änderte sich Sinas Tonfall und wurde höhnisch: »Warum hängen wir das nicht einfach auch noch Martin an? Wäre das nicht das Beste? Sozusagen den ganzen Müll in ein Loch?«
»Komm, Sina. Lass mal. Weißt du, was es heißt, wenn Krawcziks Neigungen bekannt werden? Der kann sich buchstäblich einsargen lassen. Solche Leute kommen bei uns nicht vor. Das weißt du doch so gut wie ich.«
»Hm, und du hast einen neuen Personalhebel. Echt schlau.«
»Ich habe gar nichts, Sina. Nur ein gutes Gewissen, einen komplizierten, aber fähigen Kollegen nicht ans Messer geliefert zu haben. Und wenn du jetzt endlich damit aufhörst, mich als einen intriganten Finsterling hinzustellen, dann erzähle ich dir etwas, das dich wirklich interessieren wird. Einverstanden?«
Sina lächelte unsicher. Sie hatte Udo Brenner nicht verletzen wollen. Sie wusste selbst nicht so recht, warum sie so giftig reagierte. Krawczik frequentierte also das Trieb-Werk. Wenn sie länger darüber nachdachte, so erklärte diese simple Tatsache den ganzen komplexen Charakter dieses schwierigen Menschen. Die Stadt mochte ein Mekka für Schwule sein, der Polizeidienst war für sie eher ein Minenfeld. Letztes Jahr hatte sich in Frankfurt ein Polizist verbrannt, weil er den Hohn und die Verachtung der Kollegen nicht mehr ausgehalten hatte.
»Ich habe versucht, Zollangers DDR-Akten zu bekommen«, sagte Brenner. »Die Sachen von früher. Gauck-Behörde.«
Sina wurde sehr hellhörig.
»Und?«, drängte sie ihn.
»Es gibt absolut nichts über ihn«, fuhr Brenner fort. »Nada. Niente. Keinen Papierfetzen. Null.«
»Aha. Und was heißt das?«
»Reißwolf. Es ist ja bekannt, dass ein beträchtlicher Teil der Stasi-Akten vernichtet werden konnten. Vielleicht haben die hinten angefangen.«
»Bei Z, wie Zollanger?«
»Ja. Aber das ist nicht der Punkt. Ich habe mit der Person gesprochen, die unseren Suchantrag bearbeitet hat. Und weißt du, was die mich gefragt hat?«
Sina schüttelte ungeduldig den Kopf.
»Warum wir denn gleich zwei Suchaufträge gestellt hätten. Ich habe natürlich sofort reagiert und gesagt, das müsse ein Versehen sein. Wer denn angefragt habe?«
»Und? Mach’s doch nicht so spannend.«
»Sedlazek.«
Sina stutzte. Der Name sagte ihr nichts.
»Du bist ein wenig draußen«, sagte Brenner. »Sedlazek und Marquardt gehört das Büro, wo Torso drei gefunden wurde.«
Jetzt erinnerte sie sich. Sie sah den Mann auch wieder vor sich. Hellgrauer Anzug, schwarzes, viel zu enges, den Bauch einzwängendes Polohemd. Haare von links über den kahlen Schädel gekämmt. Typ Geschäftsmann ohne jede Auffälligkeit.
»Na ja, kann man ja verstehen, dass sich der für Zollanger interessiert.«
»In der Tat«, feixte Udo Brenner. »Vor allem, wenn man sich die Akte von diesem Burschen anschaut. Ich habe Sedlazek natürlich sofort überprüfen lassen. Da wird einem so richtig warm ums Herz.«
Sina lauschte, während Brenner ihr einen Abriss von Sedlazeks ruhmreicher Tätigkeit in verschiedenen DDR-Gefängnissen gab.
»Und das ist nur der dokumentierte Teil«, schloss er. »Weiß der Henker, was der Kerl sonst noch so alles getrieben hat.«
»Hat denn dieses Schwein niemals jemand angezeigt?«, fragte Sina.
»Die meisten, die mit ihm zu tun hatten, dürften dazu nicht mehr in der Lage sein. Außerdem soll ja endlich mal Schluss sein, nicht wahr, damit zusammenwächst, was zusammengehört, oder?«
Sina drehte die Augen zur Decke. Brenners Kuchen kam. Kurz darauf folgte der Kaffee.
»Du meinst also, Sedlazek und Zollanger sind sich früher schon einmal begegnet?«, bohrte Sina weiter, als die Bedienung wieder weg war. »Womöglich in Müllrose.«
Udo nickte. »Genau diese Frage stelle ich mir seither.«
Sina rührte in ihrer Kaffeetasse. »Müllrose war früher ein Stasi-Knast«, sagte sie. »Die haben dort möglicherweise Gefangene radioaktiv verseucht. Ein Typ, der draußen bei den Neugierigen herumstand, nannte das Gebäude nur ›Erichs Sonnenstudio‹.«
»Das mag ja alles sein«, sagte Udo. »Die Geschichte geht aber leider nicht auf. Denn eines weiß ich mittlerweile auch: Martin Zollanger ist nicht aus der DDR herausgekauft worden. Darüber gäbe es bei uns zweifelsohne Akten. Ist aber nicht der Fall. Martin hat auch nie etwas von einer Haft in der DDR erzählt. Er war Volkspolizist. Sina! Bis zur Wende. Das wäre nie möglich gewesen, wenn er mit dem Regime Probleme gehabt hätte. Außerdem weißt du so gut wie ich, wie er zur DDR stand. Martin war überzeugter Sozialist. Bei einer Figur wie Sedlazek wäre ihm sicher auch das Kotzen gekommen. Aber ein Staatsfeind war Zollanger absolut nicht. Er hat nicht in Müllrose gesessen. Diese Theorie geht nicht auf.«
»Warum versucht Sedlazek dann, Zollangers Akte zu finden?«
»Na ja, ich denke, er wollte eben auch wissen, warum Zollanger ihm Leichenteile auf den Schreibtischstuhl gelegt hat.«
Brenner begann sich seinem Kuchen zu widmen, während Sina sich die neuen Informationen noch einmal durch den Kopf gehen ließ. Nach einer Weile ergebnislosen Nachdenkens fragte sie:
»Was ist eigentlich mit dem Mädchen? Hat sie endlich eine Aussage gemacht?«
»Nein. Das Ermittlungsverfahren ist abgeschlossen. Sie hat kein Wort zu ihrer Verteidigung vorgebracht. Der Junge leugnet standhaft, am Tatort gewesen zu sein, und belastet damit das Mädchen schwer. Wie es aussieht, kann nur sie mit der Schleuder geschossen haben. Erwartungsgemäß geht die Sache ins Hauptverfahren.«
»Wann ist der Prozess?«
»In drei Wochen. Am fünften Februar. Ich sehe ziemlich schwarz für sie. Der Vater tut mir leid – Sohn Selbstmord und die Tochter in so einem Schlamassel.«
»Worauf lautet die Anklage?«
Udo Brenner atmete tief durch, bevor er antwortete.
»Mord. Frieser soll sogar besondere Heimtücke erwogen haben. Aber davon ist im Moment nicht mehr die Rede.«
»Und wie steht Frieser zu der Tatsache, dass der Mann, der Zollanger getötet und das Mädchen angeschossen hat, vielleicht ein Killer war?«
»Das sagst du.«
»Ja. Die Vermutung drängt sich wohl auf.«
»Das ist die Frage, Sina. Nicht jeder gute Schütze ist ein Auftragsmörder. Zieten hat den Mann engagiert, um seine Tochter zu finden. Mehr nicht. Wie es zu der Schießerei gekommen ist, weiß er angeblich nicht.«
»Und das glaubst du?«
»Sina, du weißt so gut wie ich, dass sich kein Schwein dafür interessiert, was du oder ich glauben. Nicht Zieten hat geschossen, sondern dieser Ozols. Vielleicht hat Zollanger ihn dort unten angegriffen. Es war ja ziemlich dunkel. Die Ballistikberichte sind völlig unschlüssig. Findeisen ist sogar überzeugt, dass noch eine Person anwesend gewesen sein muss.«
»Der Junge.«
»Ja. Aber Frieser glaubt das nicht. Er will die Anklage allein auf das Mädchen konzentrieren und beweisen, dass sie den Schützen kaltblütig von hinten exekutiert hat. Ballistik hin oder her. Und da sie nicht einmal versucht, sich zu rechtfertigen, kann ihm das sogar gelingen. Sie macht ja nicht einmal Notwehr geltend. Sie sagt einfach, sie könne sich an nichts erinnern.«
Sina schaute verdrießlich vor sich hin.
»Arbeitet bei uns überhaupt noch jemand an der Sache?«, erkundigte sie sich dann.
Brenner schüttelte den Kopf. »Für uns ist der Fall ausermittelt. Wir haben unser Korn in die Mühlen der Justiz geschüttet. Jetzt sind die dran. Und ehrlich gesagt, sind wir alle ziemlich erleichtert, dass wir nichts mehr damit zu tun haben. Wenn du am Montag wieder anfängst, wird dich jedenfalls niemand darauf ansprechen.«
»Ist Zollangers Posten schon neu besetzt?«
»Nein. Es soll jemand von außerhalb erster HK werden. Wir haben im Moment alle Beförderungsstopp.« Er hob seine Kaffeetasse und hielt sie vage in Richtung Friedhof: »Danke, Martin.«
Sina schaute Udo lange schweigend an.
»Du glaubst also wirklich, dass das alles genau so passiert ist, wie Frieser es sich zusammengereimt hat?«
»Absolut nicht, meine Liebe. Ich glaube gar nichts. Aber ich weiß noch viel weniger. Deshalb wird es auch nach vielen Jahren das erste Mal sein, dass ich einen Strafprozess besuche. Vielleicht redet das Mädchen ja doch noch.«