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Elin wartete bereits seit einer Stunde. Die Holzbank begann allmählich unbequem zu werden, aber sie blieb sitzen. Behörden, dachte sie. Immer das Gleiche. Sozialamt. Arbeitsamt. Ausländerbehörde. Immer hatte man dort alle Zeit der Welt. Klar. Schließlich war die Zeit derer, die hier aufkreuzten, völlig wertlos. Null. Bei den Bullen war es offenbar ebenso.

Ihr Termin war um zehn Uhr gewesen. Jetzt war es fünf vor elf, und noch immer war keine Frau Wilkes erschienen, um sie abzuholen. Frau Wilkes. Was interessierte sie Frau Wilkes. Sie hatte einen Termin mit einem gewissen Zollanger. Hauptkommissar. Der hatte die Antworten auf ihre Fragen. Keine Frau Wilkes.

Elin stand auf und vertrat sich ein wenig die Beine. Der Aufpasser in seinem Glaskasten neben der Treppe schaute kurz zu ihr auf, widmete sich jedoch dann wieder seiner Zeitung. Ein grünes Lämpchen im Querbalken des Metalldetektors blinkte sinnlos vor sich hin. Elin setzte sich wieder.

Zum hundertsten Mal überlegte sie, wie sie beginnen würde. Mit Erics letztem Besuch bei ihr in Hamburg? Mit seiner merkwürdigen Verfassung? Nein. Das wussten die ja. Und es passte zu ihrer Selbstmordtheorie. Eric sei depressiv gewesen. Und hoch verschuldet. Ergo.

Sie biss die Zähne aufeinander und versuchte, nicht an dieses letzte Treffen zu denken. Aber es gelang ihr nicht. Als sei es gestern gewesen, sah sie ihn auf der Matratze ihres Zimmers in der Hafenstraße sitzen, hager, mit Dreitagebart, aufgekratzt wie immer und dennoch irgendwie völlig verändert. Seine blauen Augen strahlten, wenn er von seinen Projekten erzählte. Seine drei Handys steckten in Ledertaschen an seinem Gürtel. Sein ewiger Begleiter, ein Ledermäppchen mit winzigen Schraubenziehern, mit denen man jeden PC aufbekam, lag neben seinem schwarzen Rucksack. Das war Eric. Drei Handys und ein paar Uhrmacherschraubenzieher. Und seine immergleichen Fragen, warum sie in so einem Slum wohnte, noch immer für die soziale Revolution kämpfen wollte, anstatt in die technische mit einzusteigen. Die wahre Subversion finde heute nicht auf der Ebene von Betriebsräten, sondern auf der Ebene von Betriebssystemen statt. Die Waffe gegen das System sei nicht mehr die Faust, sondern der Quellcode. Und so weiter.

Das hatte er schon immer erzählt. Aber bei diesem letzten Besuch vor vier Monaten hatte es nur noch wie eine Tonspur geklungen, eine Ansammlung von Phrasen über einem tiefen Schweigen. Aber sie hatte ihn nicht darauf angesprochen. Eric war Eric. Ihr großer Bruder. Der einzige Mensch, der ihr wirklich etwas bedeutete. Der Neunjährige, der neben ihr gestanden hatte am Grab ihrer Mutter, der ihre Hand hielt, ihr zuflüsterte, dass er sie niemals verlassen würde. Der Zwölfjährige, der ihr erklärte, dass Papa nichts dafür konnte. Dass Papa ein verzweifelter Mensch sei und sie Mama zuliebe Geduld mit ihm haben müssten. Der Fünfzehnjährige, der sie nicht verriet, als sie weglief. Und der Achtzehnjährige, der ihr das Leben gerettet hatte.

Eric war ihre einzige Verbindung zu dieser anderen Welt gewesen. Der Welt der Fleischfresser und Geldbenutzer. Der Macker und Tussis. Der Soistesnunmals und Kannmannichtsmachens. Auch wenn er dazugehörte. Auch wenn er im Grunde genauso wie Papa war mit seinen Frauengeschichten, seiner Oberflächlichkeit. Eric, das waren ein Paar Designerjeans und ein Laptop. Papa ein Designerhemd und ein Fotoapparat. Ihr Papa, Edmund Hilger, Platzhirsch unter den Hamburger Modefotografen. Mit dreiundzwanzig bei der Vogue. Mit vierundzwanzig hatte er die schwedische Vizeschönheitskönigin Marie Svensson erst fotografiert, dann geschwängert, geheiratet und schließlich erfolgreich zu Tode betrogen. Oder woher bekam eine zuvor kerngesunde, bildschöne Frau mit dreiunddreißig Jahren plötzlich Krebs, wenn nicht von Edmund Hilgers verlogenem Ego. Ja, davon hatte Eric durchaus auch etwas gehabt. Aber es war eben auch etwas von Marie Svensson in ihm gewesen, etwas Menschliches, ein Herz vielleicht oder eine Seele, irgendetwas in dieser Art, das Edmund Hilger nicht einmal vorgab zu besitzen.

Aber sollte sie das diesem Herrn Hauptkommissar erzählen? Ihre und Erics Familiengeschichte. Früher Tod der Mutter. Verhältnis zum Vater zerrüttet. Tochter jahrelang Straßenkind und heute in der Hamburger Attac-Szene. Hausbesetzerin. Militante Vegetarierin. Sohn in der Computerbranche, gescheiterter Existenzgründer. Ergo: Selbstmord.

»Frau Hilger?«

Sie hatte die Frau gar nicht kommen sehen. Elin erhob sich. Die Frau trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Elin schaute auf sie herab. Sie spürte, wie der Blick der Beamtin sie scannte. Das kleine Bindi zwischen ihren Brauen! Die kurzen blonden Haare. Die Lederjacke.

»Wilkes«, sagte die Frau jetzt. »Es tut mir leid, aber Herr Zollanger kann Sie heute nicht empfangen. Er ist bei einem Einsatz. Ich muss Sie bitten, ein anderes Mal wiederzukommen.«

»Wann?«

»Sie müssten einen neuen Termin ausmachen. Vielleicht am Montag per Telefon.«

»Ich habe zehn Tage auf diesen Termin gewartet.«

»Ja. Und wir können es uns nicht aussuchen, wann in Berlin Straftaten begangen werden. Worum geht es denn überhaupt?«

Elin versuchte, sich zu beherrschen, aber es fiel ihr schwer. Montag. Drei Tage. Sie hatte Pläne gehabt für das Wochenende. Pläne, über die sie mit diesem Bullen hatte sprechen wollen.

»Es geht um meinen Bruder. Eric Hilger. Hier ist das Aktenzeichen.«

Sie gab der Frau einen Zettel. Die schaute das Papier verständnislos an.

»Ich begreife gar nicht, wieso er Sie überhaupt hat herkommen lassen. Über Ermittlungssachen kann er gar nicht mit Ihnen sprechen.«

»Er hat den Tod meines Bruders untersucht. Warum sollte er nicht mit mir sprechen?«

»Weil er es nicht darf. Sie müssen sich an die Staatsanwaltschaft wenden, beziehungsweise Ihr Anwalt.«

Elin atmete einmal tief durch, bevor sie weitersprach.

»War die Staatsanwaltschaft vielleicht im Tegeler Forst?«, fragte sie.

»Frau Hilger, das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich weiß nur …«

»Aber ich kann es Ihnen sagen: Es war kein Staatsanwalt vor Ort, als mein Bruder gefunden wurde. Auch kein Gerichtsmediziner. Weil die Polizei von Anfang an von einem Selbstmord ausgegangen ist. Zwei Streifenpolizisten haben ihn einfach abgeschnitten und ins Leichenhaus gebracht. Es wurde überhaupt nichts richtig untersucht.«

Frau Wilkes schüttelte den Kopf.

»Da müssen Sie sich schon an die Staatsanwaltschaft wenden, liebes Mädchen. Hauptkommissar Zollanger wird Sie nicht empfangen, das kann ich Ihnen garantieren. Guten Tag.«

Elin schaute der Frau hinterher. Ihr Herz klopfte. Nach einer Weile bemerkte sie, dass sie den Umschlag in ihrer Hand fast zerdrückt hatte. Sie strich ihn glatt, schob ihn in ihren Rucksack, schulterte ihn mit einer wütenden Bewegung und verließ das Gebäude.

Das Schneetreiben hatte an Stärke zugenommen. Die Straßen waren weiß. Die Autos fuhren vorsichtig. Auf Elins Fahrrad türmten sich kleine Schneehauben. Sie strich den Sattel frei, öffnete das Schloss und fuhr Richtung Kanal davon.

Tanja Wilkes beobachtete sie aus ihrem Büro. Fahrrad, dachte sie. Bei diesem Wetter. Dann verfasste sie eine Notiz für den ersten Hauptkommissar und vergaß den Vorfall.

Re: Ihr Termin heute 10:00 Uhr mit Elin Hilger, Schwester des Verstorbenen Eric Hilger (Selbsttötung/Aktenzeichen 1 Kap Js 3412/01). Bez. Hilger um 11:08 Uhr in Ihrer Abwesenheit empfangen und an Staatsanwaltschaft verwiesen. Wird vermutlich nicht erneut vorstellig werden. Gez. Wilkes.