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Hans-Joachim Zieten blickte in die Runde. Was er sah, befriedigte ihn. Er konnte buchstäblich hören, was seinen Zuhörern durch die Köpfe ging, oder besser: was nicht. Das Beste an diesen Sitzungen war, dass das Wichtigste nie Eingang ins Protokoll fand. Etwa, wer von den Anwesenden bereits fünf Minuten nach Sitzungsbeginn eingenickt war oder wer an äußerst kritischen Stellen den Sitzungssaal verlassen hatte, um ein dringendes Telefonat auf seinem Handy entgegenzunehmen. Handys waren bei diesen Sitzungen eigentlich verboten, aber Zieten sah das nicht so eng. Je mehr Ablenkung, desto besser.
Die beiden Gewerkschaftsvertreter verstanden absolut gar nichts von der Materie, ebenso wenig wie der Gesamtbetriebsratsvertreter. Da war es sowieso gleichgültig, dass sie dauernd telefonieren gingen. Bei den Regierungsvertretern sah es nicht viel besser aus. Der Mann aus dem Wirtschaftssenat war von Haus aus Theologe. Dem konnte man nichts erklären, aber dafür fast alles erzählen. Der andere war zwar Chemieingenieur, aber bei der Finanzalchemie, die Zieten sich ausgedacht hatte, half das nicht viel, weshalb der Mann auch die ganze Zeit Zeitung las. Die Wirtschaftsexperten verstanden immerhin, wie schlecht die Lage wirklich war. Ob Zietens »Lösung« allerdings funktionieren würde, musste ihnen schleierhaft bleiben. Sie waren so etwas wie informierte Patienten, die sehr gut über ihre Krankheit Bescheid wussten, aber keine Ahnung hatten, wie man sie heilen sollte. Entsprechend sagten sie kein Wort und stellten auch keinerlei Rückfragen. Die Einzigen, denen Zietens Konstruktion auf Anhieb zugänglich war, waren die Vertreter von zwei Großbanken, die über erhebliche Beteiligungen mit im Boot saßen. Ihre Mienen hatten sich zu Beginn rasch verfinstert, denn dass die tatsächlichen Verluste bereits die Milliardengrenze erreicht hatten, hatte Zietens System ihnen bisher erfolgreich verschleiert. Nun lag die Tatsache offen da, und natürlich ahnten die beiden, dass dies nur die Spitze des sprichwörtlichen Eisbergs war. Zieten wusste, dass er vor allem diese beiden im Auge behalten musste. Ihnen musste er klarmachen, dass ein Totalverlust ihrer Investitionen nur aufzuhalten war, indem man diesen Verlust zunächst kaschierte und sodann in kleine Päckchen aufteilte. Danach mussten die noch lukrativen Teile ausgegliedert und in Sicherheit gebracht und die faulen, unrettbaren Verluste der öffentlichen Hand untergeschoben werden. All dies war in seiner »Phoenix-Vorlage« detailliert beschrieben. Die beiden Banker schauten ihn ernst an, als er zum Schluss kam. Und Zieten hörte die Stimme in ihren Köpfen: »Die VKG ist pleite. Was Zieten sich ausgedacht hat, ist völlig aberwitzig. Wenn das klappt, grenzt es an ein Wunder. Aber etwas anderes als ein Wunder kann uns auch nicht mehr retten.«
In diesem Augenblick betrat die Sekretärin den Raum und legte Zieten einen kleinen Zettel auf den Tisch. Er überflog die Mitteilung, erhob sich dann und sagte:
»Meine Herren, entschuldigen Sie mich bitte einen ganz kurzen Augenblick. Ich bin ohnehin am Ende meiner Präsentation angelangt, und Sie haben vielleicht Lust, sich kurz auszutauschen. Ich bin sofort zurück.«
Er ging in sein Büro und wählte rasch. Seine Frau antwortete nach dem ersten Klingeln.
»Warum gehst du nicht an dein Handy?«
»Liebling, ich bin in einer wichtigen Sitzung.«
»Es ist genauso, wie ich gesagt habe. Inga ist weg. Verschwunden.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Ihr Tenniszeug liegt im Kofferraum. Die Wohnung sieht so aus, als sei sie kurz zum Sport gegangen und von dort nicht zurückgekehrt. Seit gestern Abend hat niemand sie mehr erreicht. Hans, da stimmt etwas nicht.«
Zieten schaute missmutig vor sich hin. Dummes Zeug, dachte er, aber er wusste, dass er seine Frau damit nicht von ihrer fixen Idee befreien würde.
»Was willst du denn tun?«, fragte er.
»Ich werde die Polizei rufen.«
»Was? Bist du verrückt! Warum denn das?« Er überlegte kurz. »Hör zu. Ich bin hier in einer halben Stunde fertig. Ich komme, schaue mir das selbst an, und wenn Inga bis dahin nicht aufgetaucht ist, gehen wir zur Polizei. Bis dahin unternimmst du nichts, hast du verstanden?« Er schaute auf seine Armbanduhr. »Spätestens um halb sieben bin ich da.«
Er versuchte, ruhig zu bleiben. Ulla war hysterisch. Wo sollte das Mädchen schon sein? Und dann die Polizei. Die würden sofort einen riesigen Wirbel veranstalten, Inga vielleicht zur Fahndung ausschreiben, nur um sie am Ende aus irgendeinem Bett zu zerren. Und die Polizei hätte bestimmt so eine Schmeißfliege von der Presse im Schlepptau. Presseaufmerksamkeit. Das fehlte ihm gerade noch.
Als er zurückkam, herrschte eine schwer einzuschätzende Stimmung im Raum. Die Banker begannen, knifflige Fragen zu stellen. Als die Begriffe »Bereinigung von Betreiberaktivität« und »Abkopplung von der internen Konzernverrechnung« fielen, hörte noch niemand so richtig hin. Aber als Orte wie Dublin oder Cayman Islands erwähnt wurden, erwachte plötzlich das Interesse eines der Gewerkschaftsvertreter. Ob diese ganze Konstruktion denn legal sei, wollte er wissen. Zieten liebte solche Fragen.
»Legal. Nun, das kommt ganz darauf an.«
»Worauf?«
»Ob Sie eine Privatperson sind oder nicht. Wenn Sie einer Privatperson in einer vergleichbaren Situation raten würden, derartige Risiken einzugehen, um einen Konkurs zu vermeiden, könnte man Sie vermutlich belangen. Da wir uns hier aber in einer Mischform aus öffentlichem und privatem Interesse befinden, sehe ich kein Problem. Ein Staat, eine Regierung kann und muss Risiken eingehen, die einem Bürger natürlich verboten sind. Außerdem haben Sie gar keine Wahl. Wenn Sie dieser Lösung nicht zustimmen, ist die Treubau-Gesellschaft in drei Wochen pleite. Der Totalverlust wird voll auf das Konzernergebnis der VKG durchschlagen.«
»Was interessiert uns das?«, wollte der Theologe wissen. »Die TBG ist ein Privatunternehmen. Wenn sie sich verspekuliert hat, ist das doch nicht unser Problem.«
Zieten musste lächeln. Die beiden anderen Bankvertreter schauten peinlich berührt zu Boden.
»Die VKG ist ein Konzern«, erklärte Zieten, »an dem das Land über die Landesbank beträchtliche Anteile hält. Für alle Kredite, die uns gegenwärtig Schwierigkeiten bereiten, haftet letztlich nicht der Konzern, sondern das Land.«
Der Theologe schüttelte den Kopf. »Das heißt also, wir haben einen Konzern, der sich mit hochspekulativen Geschäften an den Rand des Ruins gebracht hat, und das Land, das heißt der Steuerzahler, soll jetzt dafür haften?«
»So haben die Parteien es vor sechs Jahren beschlossen«, erklärte Zieten. »Vergessen Sie nicht: Es war eine Zeit der Aufbruchstimmung. Man wollte das große Rad im internationalen Finanzgeschäft drehen. Dazu hat man mehrere Lokalbanken fusioniert und einen Konzern daraus gemacht. Um bessere Bedingungen auf den Finanzmärkten zu bekommen, hat das Land die Risiken abgesichert. Und die ersten Jahre hat es ja auch gut funktioniert. Aber nun haben Sie, wie ich schon erwähnte, gar keine Wahl. Sie müssen die Umstrukturierung, die ich Ihnen vorschlage, vornehmen, sonst kollabiert der Konzern. Ihre eigenen Anteile sind dann übrigens auch wertlos.«
Diesen letzten Zusatz hatte Zieten sich eigentlich verkneifen wollen. Aber er war angespannt. Er musste nach Steglitz. Er hatte keine Zeit zu warten, bis man hier eingesehen hatte, dass das schon immer zweifelhafte Spiel nur zu gewinnen war, indem man es nun noch dreister trieb. Was dachten diese Leute eigentlich? Hatten sie sich jemals gefragt, wo die satten Gewinne und Dividendenausschüttungen, die sie alle in den letzten sechs Jahren eingestrichen hatten, hergekommen waren? Glaubten diese Leute vielleicht, dass er zaubern konnte?
Die Stadt hatte Geld gebraucht, viel Geld. Summen, die nur am Finanzmarkt aufzutreiben waren. Also hatte er Märchen-Fonds aufgelegt, deren Bedingungen so fantastisch waren, dass er sich vor Anlegern kaum hatte retten können. Acht Prozent garantierte Verzinsung des Einlagekapitals, das man auch noch komplett von der Steuer absetzen durfte. Schon die damals vom Land gewährte Steuerersparnis hatte dem Herrn Betriebsrat auf der anderen Seite des Tisches, von dem Zieten genau wusste, dass er ein hübsches Sümmchen investiert hatte, für jeden angelegten Tausender dreihundert Mark Sofortgewinn in die Tasche gespült.
Die Schrottimmobilien, die diese Rendite angeblich abwarfen, waren das Papier nicht wert, auf dem sie im Grundbuch eingetragen waren. Aber wen kümmerte das, solange das Land für die Mietgarantien – oder besser Mietausfälle – haftete und außerdem noch dafür bürgte, den ganzen Schrott in dreißig Jahren fünfzehn Prozent teurer zurückzukaufen, ganz gleich, wie der Marktpreis dann sein mochte? Die Fachleute hatten natürlich sofort gesehen, dass diese Fonds gar nicht funktionieren konnten. Aber wenn die Regierung das Land zwang, eine Garantie dafür abzugeben? Warum nicht. Aber legal? So ein Bananenrepubliksverfahren sollte »legal« sein? Die ganze Konstruktion der VKG war komplett verfassungswidrig. Wo lebten diese Leute eigentlich?
Zieten dachte noch darüber nach, als er eine halbe Stunde nach Ende der Aussprache mit dem Fahrstuhl in die Tiefgarage fuhr. Natürlich war nichts entschieden worden. Alle wollten die Sache zunächst noch einmal sorgfältig mit ihren Sachverständigen prüfen. Bitte schön. Ihm war es gleich. Es gab keine saubere Lösung. Wichtig waren im Grunde nur zwei Dinge: Das Abgeordnetenhaus musste so lange wie möglich über das wirkliche Ausmaß der Situation im Unklaren gelassen werden. Und das bedeutete: keine Presse. Keinerlei Öffentlichkeit für das Problem, bis der Karren so rasant auf die Wand zuraste, dass eine Panikentscheidung in seinem Sinne erfolgen würde. Mit Angst regierte sich doch immer wieder am besten.
Ein Ausdruck von Selbstzufriedenheit lag bereits wieder auf Zietens Gesicht, als er auf seinen dunkelblauen Mercedes CLS zuging und die Hand in die Tasche gleiten ließ, um den Knopf der Zentralverriegelung an seinem Schlüssel zu betätigen. Die Scheinwerfer der 375 PS starken Karosse blinkten zweimal kurz auf. Doch Hans-Joachim Zietens Blick wurde von etwas anderem abgelenkt. Er schaute irritiert auf seine Windschutzscheibe. Was war denn das? Reklame? Er griff nach dem Zettel, der unter dem linken Scheibenwischerblatt steckte. Schon das Papier erschien ihm seltsam. Was war das für ein Material? Er faltete den Zettel auf. Latein?, dachte er im ersten Augenblick. Wer warb auf Lateinisch?
NULLUS DOLUS CONTRA CASUM.
Nun ja, was immer das heißen mochte, er hatte keine Verwendung dafür. Doch die Abbildung machte ihn stutzig. Was sollte das nur darstellen? Er hielt das Ding, das etwa die Größe einer Postkarte hatte, stärker ins Licht. Drei Personen standen da. Sie sahen merkwürdig aus. Altertümlich. Das Ganze sah aus wie ein Holzschnitt. Die drei Personen blickten einem Tier hinterher, das vor ihnen davonlief. Oder täuschte er sich? Das Tier stand ja still. Der Untergrund bewegte sich, trieb in einem Fluss dahin, oder so ähnlich. Was für ein Tier sollte das überhaupt sein? Ein Hund? Nein. Das war kein Hund. Das war … er musterte den buschigen Schweif des Tieres. Das sollte wohl ein Fuchs sein. Ein Fuchs auf einer Eisscholle vielleicht?

Er setzte sich in den Wagen, ohne den Blick von der Abbildung zu nehmen. Das war kein Reklamezettel. Aber was war es dann? Und was hatte es an seiner Windschutzscheibe verloren? NULLUS DOLUS CONTRA CASUM. Seine Lateinkenntnisse reichten dafür nicht aus. Er warf die merkwürdige Botschaft auf den Beifahrersitz und fuhr los. Ulla wartete.