25

Hagen erwartete sie an der Ecke Oldenburger und Wiclefstraße. Er hatte sich geweigert, ihre Wohnung zu betreten und sich Erics Festplatten dort anzuschauen. »Bring die Dinger mit«, hatte er sie aufgefordert.

»Und dann?«

»Dann kümmere ich mich drum.«

Sie folgte ihm. Was blieb ihr anderes übrig. Sie überquerten die Oldenburger Straße und gingen dann ein Stück Richtung Turmstraße. Hagen musterte die Hauswände. Es dauerte eine Weile, bis Elin begriff, warum. Hagen studierte die Graffiti, die überall die Mauern zierten. Aber wozu? Hatte er überhaupt einen Plan?

»Wohin gehen wir?«, fragte sie nach einer Weile.

»Internetcafé«, erwiderte Hagen.

»Aber … wir sind schon an mindestens dreien vorbeigekommen. Da drüben ist noch eins.«

»Ich brauche ein sauberes. Saubere Maschinen, verstehst du. Oder was ist auf deinen Platten?«

Er blieb stehen. Elin musterte ihn. Besonders vertrauenswürdig sah er nicht aus. Seine Augen waren ihr ein wenig unheimlich. Er hatte diesen starren Blick, diesen typischen Paranoia-Blick. Mirat hatte ihr versichert, dass er nicht gefährlich war und dass er mehr über Computer wusste als sonst irgendjemand in den Kellern.

»Ich weiß nicht, was darauf ist.«

»Aber es ist verschlüsselt, oder?«

»Ja. Offenbar.«

»Also. So etwas macht man nur auf, wo keiner zuschaut, okay. Und wo keiner zuschaut, das steht genau hier.«

Er deutete auf einen grauen Kasten, der an der Straße stand und von oben bis unten vollgesprüht war.

»Aha«, staunte Elin.

Hagen sagte nichts und ging einfach weiter. Sie überquerten zwei Querstraßen und bogen dann in die Siemensstraße ein. Elin hätte gar nicht bemerkt, dass es dort ein Internetcafé gab. Es befand sich im Hinterraum eines Zeitungsladens. Sechzehn Computerplätze gab es dort. Nur zwei waren besetzt. Hagen ließ sich auf einer Bank neben dem Eingang nieder und wartete.

»Worauf warten wir?«, flüsterte Elin.

»Ich will den PC dort, an dem das Mädchen sitzt.«

Elin zuckte mit den Schultern und wartete ebenfalls. Es dauerte eine Weile, bis das Gerät frei wurde. Kaum war das Mädchen gegangen, schob sich Hagen auf den Platz.

»Ich muss erst ein paar Einstellungen machen«, sagte er. »Gib mir die Platten. Bezahl für eine halbe Stunde. Länger bleiben wir nicht.«

Elin holte die vier Festplatten aus ihrem Rucksack und legte sie neben Hagen auf den Tisch. Dann ging sie zum Tresen und bezahlte. Sie hasste es, Geld zu benützen, aber in diesem Fall hatte sie keine Wahl. Als sie zurückkam, war auf dem Bildschirm etwas Merkwürdiges im Gang. Hagen hatte offenbar eine Fantasy-Internetseite aufgerufen. Jedenfalls war dort ein animiertes Ungeheuer zu sehen. Das Biest sah aus wie ein Minotaurus. Es stand auf der Stelle, schabte angriffslustig mit dem Vorderhuf im Staub und senkte den Kopf zum Angriff. Hagen drückte eine Tastenkombination. Plötzlich erschien aus dem Nichts ein Arm mit einem Schwert und stach dem Minotaurus direkt zwischen die Augen. Der Bildschirm wurde schwarz.

Hagen griff nach einer der Platten, verband sie über ein Kabel mit dem Rechner und begann, Codeanfragen auszufüllen. Eine Weile lang beobachtete Elin die Vorgänge fasziniert, dann gab sie auf. Sie hatte keine Ahnung, was Hagen da trieb. Das einzige Detail, das sie im Auge behielt, war eine kleine Figur am rechten unteren Rand des Bildschirms. Sie kniete dort sprungbereit. Die Animation sah aus wie ein kleiner römischer oder griechischer Soldat, der mit gezücktem Schwert in Lauerstellung auf irgendetwas zu warten schien. Ansonsten huschten nur unlesbare Codezeichen über den Bildschirm. Nach einer Weile schloss Hagen die zweite Festplatte an. War das Laufwerk schon geknackt? Oder war der Versuch misslungen? Elin schaute wieder auf den kleinen Krieger am unteren Bildrand. Plötzlich sprang der auf und drehte sich um. Aber zu spät. Der Minotaurus war wieder da. Ohne Vorwarnung stürzte er auf den kleinen Krieger zu und durchbohrte ihn mit einem seiner beiden Hörner. Hagen reagierte sofort, zog das Kabel aus dem PC, schloss die Maske und loggte sich aus.

»Komm. Wir gehen«, sagte er und war schon halb draußen.

Sie brauchten den ganzen Nachmittag, um die vier Platten aufzuschließen. War Hagen verrückt? Oder war seine Vorsicht begründet? Er rührte keinen PC an, der nicht von irgendwelchen Hackern über Graffiticodes an Hauswänden als sauber empfohlen wurde. Sauber, das hieß: Es war ein Störprogramm darauf installiert, das verhinderte, dass die Rechnertätigkeit beobachtet oder gespeichert werden konnte. Solange Theseus den Minotaurus außer Gefecht gesetzt hielt, konnte man gefahrlos arbeiten, unbeobachtet in Fremdnetze eindringen, Serverparks anzapfen und schwer nachvollziehbare Pfade im Netz legen, auf denen man nicht Gefahr lief, von den mächtigen Spähprogrammen der Regierungen und Geheimdienste erwischt zu werden.

»Gehe niemals von einem normalen Computer aus ins Internet«, schärfte Hagen ihr ein. »Alles, was du dort tust, wird aufgezeichnet. Alles. Wenn Theseus den Minotaurus schlachtet, hast du zehn bis fünfzehn Minuten Ruhe, bis sie dich wieder auf dem Radar haben. Dann musst du verschwinden.«

Sie hatte ihm ungläubig zugehört, dann aber dankbar die geknackten Platten entgegengenommen.

»Und wie finde ich einen sauberen Computer?«, hatte sie noch gefragt.

»Frag mich. Du weißt ja, wo ich wohne.«

Jedenfalls hatte Hagen die Dateien entsperrt. Als Elin wenig später das erste Laufwerk anschloss, surrte es leise, und im nächsten Augenblick erschien es auf dem Bildschirm. Sie klickte zweimal darauf. Vier Ordner erschienen. Die Abkürzungen sagten ihr nichts. Und als sie das erste Dokument öffnete, verstand sie auch nicht mehr. Es waren Listen. Listen von Zahlen. Sie scrollte sich durch die Spalten, ließ jedoch bald resigniert davon ab. Sie war nicht viel weiter. Sie konnte sich zwar für jedes Stück aus Erics Hinterlassenschaft mühselig einen Spezialisten suchen, der ihr Zugang zu diesen Unterlagen verschaffte. Aber was konnte sie letztlich damit anfangen? Mit Kontendaten einer Firma, die es nicht mehr gab. Warum hatte Eric das alles bei ihr deponiert? Sie schloss die Dateien und stöpselte die nächste Festplatte ein. Wieder das gleiche Bild. Dutzende von Ordnern mit Zahlenreihen. Aber auch eine Word-Datei. Sie hieß »Phoenix.doc«. Elin klickte sie an – das Dokument war offenbar noch in Arbeit. »Vorstandsvorlage«, stand auf dem Deckblatt. Und darunter etwas, das endlich einmal interessant klang: »Streng vertraulich«.