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Wo ist Zollanger?«

Warum war Krawczik nur immer so brüsk. Sina schaute von ihrem Schreibtisch auf. »Er ist kurz nach Hause gefahren«, sagte sie. »Er müsste gleich wieder hier sein. Wieso? Was ist denn?«

»Er hat das Videoband nicht in die Technik gegeben. Ich war eben dort. Die haben das Band noch gar nicht.«

Sina stutzte. »Bist du sicher?«

»Ja. Ich bin sicher.«

»Dann ruf Zolli doch an. Er wird ja wissen, wo das Band ist.«

Krawczik schnaubte. »So. Meinst du, da wäre ich nicht schon selbst drauf gekommen?«

»Und?«

»Er geht nicht ran.« Und damit stürmte er wieder aus dem Zimmer.

Sina versuchte es selbst. Zollangers Handy klingelte, aber er nahm nicht ab. Hatte er nicht nach Hause fahren wollen? Sie wählte seine Privatnummer. Ohne Ergebnis. Sie saß einige Minuten ratlos da. Dann ging sie in Zollangers Arbeitszimmer. Sein Schreibtisch sah so aus wie immer. Aber warum hatte sie ein merkwürdiges Gefühl? Das Gespräch mit Udo vor einigen Tagen kam ihr in den Sinn. Sollte sie mit Udo reden? Oder sah sie Gespenster?

Kurz entschlossen zog sie ihre Jacke an, nahm ihren Wagen und fuhr zu Zollangers Wohnung. Es war ja nicht weit. Das Videoband war wichtig genug, um einen solchen Überfall bei ihm zu rechtfertigen. Aber das war nicht der eigentliche Grund, warum sie zu ihm fuhr. Sie musste mit ihm reden. Ganz allgemein. Es ging ihm nicht gut. Sie spürte das. Irgendetwas war nicht in Ordnung mit ihm. Vielleicht würde er ihr etwas erzählen, wenn sie ihn außerhalb des Dienstes aufsuchte?

Sie parkte vor seinem Haus. Ein Streifenwagen stand in der Einfahrt, Beamte waren jedoch nirgendwo zu sehen. Sie klingelte und stellte dann fest, dass die Haustür offen stand. Sie wartete erst gar nicht auf den Summer, sondern ging sofort die Treppen zu seiner Wohnung hinauf. Vor der Tür angekommen, blieb sie stehen und drückte auf die Klingel. Nichts rührte sich. Sie klingelte erneut. Dann klopfte sie. Erst zaghaft, dann lauter. Nichts.

Sie holte den Fahrstuhl und fuhr ins Erdgeschoss zurück. Als sie ausstieg, stand plötzlich ein Streifenpolizist vor ihr.

»Was machen Sie denn hier?«, fragte Sina und zückte ihren Dienstausweis.

»Wir sind angerufen worden«, antwortete der Mann. »Hier sollen Schüsse gefallen sein.«

»Schüsse?«, fragte Sina konsterniert. »Wo?«

»In der Tiefgarage.«

»Und? Trifft das zu?«

»Offensichtlich. Mein Kollege ist unten. Er hat zwei Patronenhülsen gefunden. Ich wollte gerade die Kripo benachrichtigen.«

»Ich suche meinen Chef«, sagte Sina. »Er wohnt hier. KHK Zollanger, siebte Mordkommission. Ist er zufällig dort unten?«

Sie deutete auf das Türschild. Der Streifenbeamte schüttelte den Kopf. »Nein. Unten sind nur mein Kollege und der Hausmeister.«

»Zeigen Sie mir bitte, wo geschossen wurde.«

Zwei Minuten später stand sie mit den drei Männern in der hell erleuchteten Tiefgarage.

»Wer hat Sie angerufen?«, fragte Sina den Hausmeister.

»Jemand aus dem Haus. Erster Stock. Gebering.«

»Wann?«

»Vor zwanzig Minuten.«

»Warum?«

»Die Frau meinte, sie habe Schüsse gehört. Natürlich sind wir gleich gekommen. Und es stimmt ja offensichtlich. Man riecht es sogar noch.«

»Hat die Frau jemanden gesehen?«

»Nein. Sie hat sich nicht getraut, ihre Wohnung zu verlassen.«

Sina ließ ihren Blick durch die Garage schweifen. Dann sagte sie: »Von welchem Abschnitt kommen Sie?«

»Tiergarten.«

Sie nahm den Plastikbeutel in die Hand, in dem die beiden sichergestellten Patronenhülsen aufbewahrt waren. Es waren eindeutig Hülsen von Neun-Millimeter-Munition. Aber waren es Polizeipatronen?

»Könnte einer von Ihnen bitte mit mir mitkommen?«

Sie fuhren wieder zu Zollangers Wohnung hinauf. Sina klingelte erneut. Als sie keine Reaktion feststellen konnte, sagte sie zu dem Beamten: »Brechen Sie bitte die Tür auf.«

»Die Tür …?«

»Ja. Los. Ich nehme das auf meine Kappe. Machen Sie schon.«

Der Mann gehorchte. Er testete die Verschlusspunkte der Tür durch leichten Druck auf die Stellen über und unter dem Schloss.

»Besonders gut verriegelt ist sie nicht«, sagte er. Er nahm Anlauf und trat einmal beherzt gegen das Schloss. Mit einem hellen Knirschen gab die Tür nach und flog nach innen auf.

Sina hatte ihre Waffe gezogen. »Polizei«, rief sie jetzt. »Ist da jemand?«

Stille. Sie wartete fünf Sekunden, dann trat sie ein. Sie spürte, dass die Wohnung leer war. Doch um sicherzugehen, machte sie sofort einen Rundgang, betrat das Schlafzimmer, das Arbeitszimmer und das Wohnzimmer, öffnete die Balkontür und überprüfte auch das Bad. Aber es war niemand da.

Man musste kein Polizist sein, um zu sehen, dass die Wohnung durchsucht worden war. Der Teppich im Wohnzimmer war umgeschlagen. Schubladen ragten geöffnet aus dem Sideboard unter dem Fernsehgerät. Das Durcheinander darin sprach für sich. Sina war zweimal in dieser Wohnung gewesen. Sie hatte dabei keine Schubladen geöffnet. Aber sie kannte ihren Chef und seinen Ordnungssinn.

Sie ging den Flur entlang ins Schlafzimmer. Es war entweder gar nicht oder nur oberflächlich durchsucht worden. Der Raum gegenüber gab nicht viel her. Er war leer. Sina blickte auf das staubige Regal neben der Tür, das abgezogene Gästebett, den kleinen weißen Schreibtisch, den offen stehenden, leeren Kleiderschrank. Dann schaute sie auf die Uhr. Die Schüsse waren gegen halb zwei Uhr gemeldet worden. War Zollanger hier gewesen? Hatte er seine Wohnung in diesem Zustand hinterlassen? Oder war hier jemand eingedrungen? Warum meldete Zollanger sich nicht? War ihm etwas zugestoßen?

Sina überlegte fieberhaft, was sie tun sollte. Schließlich zog sie ihr Handy hervor und wählte Udos Nummer.

»Wo bist du denn?«, fragte er vorwurfsvoll.

Sie erzählte ihm, was vorgefallen war. Udo schnaubte. »Was ist denn da nur los«, zischte er. »Sind denn plötzlich alle verrückt geworden?«

»Wieso alle?«

»Ich habe mir gerade die Daten vorgenommen, die wir von diesem Naeve bekommen haben«, sagte Udo. »Die Datensätze sind manipuliert worden. Irgendjemand hat zwanzig oder dreißig Kreditkartennummern gelöscht.«

»Was heißt: irgendjemand?«

»Jemand von uns!!!«

Sina ließ ihren Blick erneut durch Zollangers Wohnzimmer schweifen, als fände sich dort eine Erklärung.

»Udo, wir müssen Zolli so schnell wie möglich finden«, sagte sie dann. »Da stimmt irgendetwas nicht.«

»Das kannst du wohl sagen«, knurrte Brenner. »Frieser nimmt sich vom Tatort Haare mit nach Hause. Hier fingert jemand an den Daten herum, und bei Zolli in der Garage wird herumgeballert. Geht er denn nicht an sein Handy? Ihr wolltet doch nachher zu Frieser.«

»Ich komme jetzt erst mal ins Büro«, sagte Sina.

Sie befahl dem Polizisten, die Wohnung zu versiegeln. Dann fuhr sie nach unten und ging zu ihrem Wagen. Sie stieg ein und steckte den Schlüssel ins Schloss. Dann brach plötzlich alles um sie herum zusammen. Sie spürte, wie ihr Magen sich zusammenzog. Irgendetwas war aus dem Lot. Schüsse? Die durchwühlte Wohnung. Erinnerungen vom Jahresanfang kamen ihr in den Sinn. Die Eskalation während der Verhaftungen in Neukölln. Zollangers Ausraster. Seine Depressionen im Frühjahr. War da mehr in ihm passiert, als es den Anschein gehabt hatte? Und hatten sie das alle übersehen?

Sie drehte den Schlüssel und startete den Motor. 14:03 zeigte ihre Uhr an. Wo zum Teufel war er nur?