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Der Hof, wo die Ziege verschwunden ist, liegt vierzig Kilometer südöstlich von Cottbus«, begann Findeisen seinen Bericht und deutete dabei auf eine Karte, die der Beamer an die Wand projizierte. »Es ist weit und breit der einzige Hof, der diese Ziegenart hält. Das Tier wurde vor sechs Tagen als gestohlen gemeldet.«
Findeisen drückte eine Taste auf dem Laptop und ließ ein paar Fotos des Hofes auf der Leinwand erscheinen. Niemand kommentierte die Ansichten. Es waren Aufnahmen der Gebäude, triste Stallungen mit Dächern aus gewellten Asbestplatten. Die Muttertiere und Lämmer in den Ställen hatten weiße Augen vom Blitz des Fotoapparates.
»Wie viele Tiere haben die dort?«, fragte Zollanger.
»Dreiundsechzig«, antwortete Günther Brodt.
»Und sie merken es tatsächlich, wenn eines fehlt?«
»Ja.«
»Vor sechs Tagen, das heißt, das Tier wurde am vergangenen Mittwoch gestohlen.«
»Genau. Und zwar zwischen neun und vierzehn Uhr. Da waren die Tiere auf einer umzäunten Koppel, wo sie eigentlich nicht heraus können. Das Grundstück grenzt an einer Stelle an einen Wald an. Dort sind Fahrzeugspuren gefunden worden. Vermutlich hat der Dieb das Tier irgendwie an den Zaun gelockt, einen der querliegenden Balken zur Seite geschoben und es dann einfach mitgenommen.«
»So einfach geht das?«, fragte Sina.
»Die Gegend ist ziemlich menschenleer«, erklärte Günther Brodt. »Die Bauern haben kaum Vorkehrungen gegen Tierdiebstahl getroffen.«
»Haben die Kollegen aus Cottbus etwas unternommen?«
»Eine ganze Menge. Sie haben einen Abdruck von den Reifenspuren genommen. Der Reifenbreite nach zu schließen, muss es ein Transporter gewesen sein. Sie haben in der Gegend herumgefragt, ob jemandem ein solcher Wagen aufgefallen ist. Zwei Personen haben am letzten Mittwoch einen Sprinter mit Hamburger Nummer bemerkt. Der eine Zeuge hat das Fahrzeug in Jerischke stehen sehen. Der andere in Zelz.«
»Zelz?«, meldete sich Brenner, der bisher noch nichts gesagt hatte. »An der polnischen Grenze?«
Alle Köpfe drehten sich zu Brenner.
»Habe ich da etwas verpasst?«, fragte Krawczik. »Muss man Zelz kennen?«
»Ja. Wenn man sich für Menschenhandel interessiert«, sagte Brenner. »Die Gegend ist berüchtigt. Zelz. Z ̇arki Wielkie. Runter bis fast nach Bad Muskau. Die Grenze ist eine Katastrophe. Dreißig Kilometer unübersichtliches Gelände und kaum Kontrollen. Dazu fast keine Koordinierung mit den Kollegen in Polen. Bleibt nur zu hoffen, dass Polen bald in die EU kommt und die Polizeizusammenarbeit endlich besser geregelt wird.«
»Könntest du das etwas genauer ausführen?«, forderte ihn Krawczik auf.
Udo Brenner schaute zu Findeisen. »Harald hat sicher aktuellere Infos, oder?«
»Udo hat recht. Die Kripo in Cottbus hat viel Ärger dort unten. Immer wieder werden Leute aufgegriffen. Bisweilen taucht auch eine Leiche auf. Fast immer junge Frauen.«
Jetzt wurden alle hellhörig. Sina sprach zuerst.
»Du meinst also, eine Schlepperbande exekutiert eines ihrer Opfer, bringt es über die Grenze, nimmt auf dem Weg nach Berlin noch rasch eine Ziege mit und stellt das verstümmelte Opfer in einem abrissreifen Plattenbau aus?«
»Nein. Das scheint uns auch wenig wahrscheinlich«, verteidigte sich Findeisen. »Aber wir können nicht ausschließen, dass der Torso und die Ziege aus derselben Gegend stammen und der Täter daher vielleicht auch.«
»Wann ist die letzte Leiche dort gefunden worden?«, fragte Zollanger.
»Im April« antwortete Draeger. »Und davor im Januar.«
»Also zwei dieses Jahr?«
»Ja.«
»Und auf polnischer Seite?«
»Das wissen wir nicht.«
»Haben die Kollegen in Cottbus denn gar keinen Kontakt mit den Polen?«, bohrte Zollanger weiter.
»Doch. Aber wie gesagt, keinen besonders guten. Und die Polen haben andere Prioritäten.«
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Dann sprach Zollanger: »Was habt ihr sonst noch herausgefunden?«
Findeisen schaltete den Laptop aus und drückte auf einen Knopf auf dem Tisch. Die Leinwand fuhr langsam nach oben und verschwand in einem Kasten.
»Das war das Wichtigste. Aber wie wir gehört haben, ist hier Torso Nummer drei aufgetaucht?«
Zollanger ignorierte ihn und wandte sich an Draeger.
»Roland, was ist mit dem Nummernschild von dem Transporter, den wir auf dem Video haben. Irgendwelche Fortschritte?«
»Noch nichts«, sagte Roland Draeger. »Frieser muss die Daten anfordern. Die Mietwagenfirma hat mir nicht einmal gesagt, wo der Wagen angemietet wurde oder welches Modell es ist.«
Zollanger nickte. Das war normal.
»Was ist mit dem Band?«, fragte Krawczik. »Wann kommt es aus der Technik zurück? Je schneller wir das Täterfoto haben …«
»Nicht vor morgen früh«, unterbrach ihn Zollanger. »Was machen wir bis dahin? Hat jemand eine Idee?«
Findeisen meldete sich: »Wir sollten die Laborergebnisse, die Weyrich bisher geschickt hat, nach Cottbus weiterleiten. Oder gleich an die polnischen Stellen in diesem Grenzabschnitt. Wenn die Leiche aus der Gegend ist, haben die vielleicht irgendwelche Daten.«
»Ich gehe zur Technik und mache denen Dampf wegen des Videos«, sagte Krawczik erbost. »Das kann doch nicht bis morgen dauern.«
Zollanger erhob sich. »Wir machen jetzt erst einmal Mittagspause. Wir haben alle einen ziemlich anstrengenden Einsatz hinter uns, und wie es aussieht, sind wir ein ganzes Stück weiter.«
Er erhob sich und verließ den Raum. Ohne sich umzusehen, eilte er auf den Flur hinaus, fuhr ein Stockwerk tiefer und suchte die Toilettenräume auf. Wie er gehofft hatte, war hier niemand. Er ging ans erstbeste Waschbecken, öffnete den Hahn, ließ das kalte Wasser in seine Handflächen laufen und schlug sich dann mehrere Ladungen davon ins Gesicht. Die Kälte tat ihm wohl. Er hätte es keine Sekunde länger dort oben ausgehalten. Sein Herz klopfte wie rasend. Er versuchte seine Gedanken zu ordnen, aber es gelang ihm nicht. Er befühlte das Videoband in seiner Tasche. Frieser spielte mit verdeckten Karten. Für wen hatte er die Haarproben mitgenommen? Er war doch sonst nicht so eifrig. Ein Identitätsabgleich mit einer Leiche kam nicht in Frage. Seit Freitag war kein neuer Todesfall gemeldet worden. Wurde jemand vermisst? Auch das hätte er erfahren. Es sei denn, die vermisste Person war noch nicht als vermisst gemeldet worden. Warum wusste dann Frieser davon? War er selbst betroffen? Oder irgendein hohes Tier, das diskrete Ermittlungen wünschte?
Zollanger spürte, wie ihm der Schweiß die Achselhöhlen hinunterlief. Die Dinge waren offenbar bereits gehörig in Bewegung geraten. Die Stadt reagierte.
Er blickte auf und sah sein Gesicht im Spiegel. Ein altes, müde wirkendes Gesicht. Er trocknete sich ab und massierte seinen Nacken, der völlig verspannt war. Wenn er den Kopf drehte, hörte es sich an, als knirschten Sandkörnchen zwischen seinen Halswirbeln. Schmerzhaft war die Bewegung nicht, aber das Geräusch ließ ihn dennoch schaudern. Pfeifende Lungen und knirschende Halswirbel. Und dann sagte jemand seinen Namen.
»Martin?«, Sina stand am Eingang und schaute ihn besorgt an. »Ist alles okay?«
»Ja. Sicher.« Er lächelte sie an. »Warum?«
Sie schaute ihn stumm an. Ein paar Sekunden lang sprach keiner ein Wort. »Gehst du mit zu Wiebke?«, fragte sie schließlich.
Er schüttelte den Kopf.
»Ich will erst kurz nach Hause. Ein frisches Hemd. Und rasieren wäre auch nicht schlecht.«
Sie blieb noch einen Augenblick auf der Schwelle stehen. Dann machte sie wortlos kehrt und verließ den Raum. Er wartete, bis er sicher sein konnte, dass Sina verschwunden war. Dann holte er seine Dienstwaffe und ging zu seinem Wagen.