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Aivars traf gegen zwanzig Uhr am Block D ein. Er ließ sich die Örtlichkeiten erklären. Dann gab er den beiden Männern, die das Mädchen beschattet hatten, sein Handy und seine Brieftasche und befahl ihnen, in die Stadt zurückzufahren und die üblichen Vorbereitungen zu treffen. Die beiden wussten, was das bedeutete. Aivars würde in Kürze bei ihnen auftauchen, seine Sachen holen und bis auf weiteres verschwinden. Das war nach Einsätzen dieser Art der normale Ablauf.

Aivars hatte Zieten lediglich darüber informiert, dass er das Mädchen lokalisiert hatte. Aber Zieten hatte ihm gar nicht richtig zugehört. Er war wie aufgelöst gewesen vor Freude darüber, dass die Polizei seine Tochter wohlbehalten wiedergefunden hatte. Ohne Aivars’ brillante Analyse der Torsi und ohne das Video, das er diesem geisteskranken Polizisten abgenommen hatte, wären sie niemals so schnell vorangekommen. Aivars nahm die Komplimente kommentarlos entgegen und sagte nur, er werde die Sache jetzt zu Ende bringen. Dann legte er auf, ohne auf eine Erwiderung zu warten, und schaltete das Gerät ab. Zieten hatte, was er wollte. Jetzt war es an Aivars, sich um seine eigenen Interessen zu kümmern. Sowohl Zollanger als auch das Mädchen hatten ihn gesehen. Das war in seiner Branche der schnellste Weg in die Berufsunfähigkeit. Jenen Aivars Ozols, der nun Block D in Augenschein nahm, kannte niemand, nicht einmal Marquardt oder Sedlazek. Und das war nun mal sein wichtigstes Betriebskapital.

Warum hatte die kleine Hilger sich ausgerechnet hier versteckt? Kannte sie sich dort unten aus? Oder irrte sie verloren durch die Kellergänge in der Hoffnung, auf diese Art und Weise zu entkommen? Und war sie allein? Oder war der Bulle auch dort unten?

Er prüfte das Magazin seiner MK23. Die handlichere P8 wäre ihm jetzt lieber gewesen. Aber die hatte der Bulle ihm abgenommen. Er erwog kurz, den Schalldämpfer aufzuschrauben, entschied aber dagegen. Dort unten war es dunkel. Ohne Mündungsfeuer sah man schlecht, ob man getroffen hatte.

Er schlenderte langsam um das Gebäude herum und musterte die Kellereingänge. Das Mädchen war durch den Eingang an der Ostseite verschwunden. Also könnte er vielleicht die Südseite nehmen. Er ging die Stufen hinab und drückte die Klinke der grauen Metalltür. Sie war abgeschlossen. Ein kurzer Blick auf die Metallbeschläge erübrigte es, über Gewaltanwendung nachzudenken. Er probierte die anderen Türen, alle mit dem gleichen Ergebnis. Dann musste er also doch der Fährte seines Opfers folgen. Er machte sich auf den Weg zum Osteingang von Block D. Doch auf halber Strecke hörte er plötzlich das Geräusch einer Polizeisirene. Er ging sofort auf die andere Straßenseite und stellte sich in den Schatten einer Litfaßsäule. Im nächsten Augenblick schoss ein Motorrad heran. Es bremste, hielt kurz an, ein Mann stieg ab und verschwand in Richtung Block D. Der Fahrer des Motorrades wartete, bis der Streifenwagen auf Sichtweite herangekommen war. Dann gab er Gas und raste davon. Der Streifenwagen stoppte keine zehn Meter von Aivars entfernt. Er hatte die volle Weihnachtsbeleuchtung eingeschaltet. Aivars konnte das Quaken des Polizeifunks hören, allerdings ohne zu verstehen, was gesprochen wurde.

Er musste warten, bis die Jagd nach diesen Kleinkriminellen, oder was immer der Anlass dieser Verfolgung gewesen war, ein Ende gefunden haben würde. Zunächst schien die Polizei gar nicht wieder wegfahren zu wollen. Das Blaulicht zuckte nervös über die aschgrauen Hochhausfassaden. Hier und da öffnete sich ein Fenster, und ein neugieriger Kopf erschien dahinter. Aber sonst blieb alles ruhig. Den flüchtenden Mann auf dem Sozius hatte die Nacht verschluckt. Das Motorrad war längst über alle Berge.

Die Polizisten schienen das nun auch so zu sehen und fuhren weiter. Aivars wartete noch einige Minuten, bis der Spuk endgültig vorüber war. Dann unternahm er den zweiten Versuch, den Osteingang des Kellers von Block D aufzusuchen. Doch auf halber Strecke blieb er plötzlich stehen. Was hatte sich da gerade abgespielt? War das Zufall gewesen? Er schaute aufmerksam um sich und horchte angestrengt in die Stille hinein. Dieser Bulle war ein gerissener Hund. Hatte das Mädchen bemerkt, dass sie verfolgt worden war, und ihn alarmiert? Und hatte der Bulle einen originellen Weg gesucht, einem etwaigen Hinterhalt zu entgehen? Aivars wischte den Gedanken beiseite. Zollanger war zur Fahndung ausgeschrieben. Er konnte es schwerlich riskieren, seine Visage auf einer Polizeistation zu zeigen. Er hatte den Bullen zwar unterschätzt. Aber das war kein Grund, ihn jetzt zu überschätzen.

Er bewegte sich geschmeidig und so gut wie lautlos auf den Kellereingang zu. Als die Tür in Sichtweite kam, bemerkte er, dass sie weit offen stand. Die Waffe schussbereit am ausgestreckten Arm, schlich er die Treppe hinab und starrte in die Dunkelheit. Er trug eine kleine Taschenlampe mit sich herum. Aber natürlich wäre er nicht so dumm, sie einzuschalten. Er ging einige Schritte in den Kellergang hinein und wartete, bis seine Augen sich ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Vor allem achtete er auf Geräusche. Da war doch etwas! Er lauschte. Dann hob er den Kopf und suchte die Quelle des Klopfgeräusches. Tata ta tata. Es kam aus den Heizungsrohren. Er machte vorsichtig zwei Schritte den Gang hinab, in dem er nun wenigstens schemenhaft die Wände erkennen konnte. Etwas knirschte unter seinen Sohlen. Er erstarrte in der Bewegung, ging langsam in die Knie und tastete behutsam den Boden ab. Glassplitter. Plötzlich hörte er Schritte hinter sich auf der Treppe. Mit einer raschen Bewegung drückte er sich gegen die Wand und wartete, die Waffe auf das hellgraue Viereck des Ausgangs gerichtet. Ein Schemen erschien dort und blieb kurz stehen. Aivars hörte, wie eine Hand mehrmals einen Schalter betätigte, ohne dass etwas geschah. Jetzt wurde ihm klar, was die Glassplitter bedeuteten. Jemand hatte die Glühbirnen kaputtgeschlagen.

Das Display eines Handys leuchtete auf. Es kam ein paar Schritte auf ihn zu. Dann war es plötzlich verschwunden. Aivars starrte in die Dunkelheit. Schritte entfernten sich. Mit drei Sätzen war er an der Stelle, wo er das Handy zuletzt gesehen hatte. Da entdeckte er den Spalt in der Mauer, wo eine schmale Treppe abwärts führte. Er zwängte sich hindurch und stand plötzlich in einem tiefer gelegenen Gang. Das Klopfen erklang erneut. Diesmal lauter. Tata ta tata. Der Gang führte sowohl nach rechts als auch nach links. Wer immer da soeben gekommen war, war nach links gegangen. Er hörte die Schritte der Person noch. Sollte er in die gleiche Richtung gehen? Er zog den Kopf ein und nahm die Verfolgung auf.

Etwa alle zehn Meter zweigte ein Gang vom Hauptgang ab. Vermutlich eine Querverbindung, dachte Aivars in dem Bemühen, die Struktur der Örtlichkeit zu begreifen. Es war auffällig warm hier unten. Dicke Rohre liefen unter der Decke entlang und machten das aufrechte Gehen schwierig. Es mussten Fernwärmerohre sein.

Plötzlich hielt er inne. Mitten im Gang vor ihm stand jemand. Er drückte sich gegen die Wand, hielt seine Augen jedoch unablässig auf den dunklen Schemen gerichtet, der dort vor ihm in der Finsternis aufzuragen schien. Oder täuschte er sich? Spielten ihm seine überanstrengten Augen einen Streich? Und wer konnte das sein? Wer trieb sich denn alles hier unten herum? Irgendein Mieter, der etwas aus seinem Keller holen wollte? Aber ohne Licht? Ohne Taschenlampe? Er hob den Arm und richtete seine Waffe auf den Schatten. Der aber war schon nicht mehr da. Der Gang lag in einheitlichem Dunkelgrau vor ihm, in der schwarzen Umfassung der ihn begrenzenden Wände. Dann hörte er plötzlich die Stimme des Mädchens.

»Mirat?«, rief sie. »Bist du da?«

Sie war ein ganzes Stück weiter hinten. Aber er hatte die Richtung, aus der der Ruf gekommen war. Mit erhobener Waffe schlich er gebückt weiter und fieberte dem Moment entgegen, da er ihren Schatten sehen würde. Er würde nicht warten, bis er sie beide im Visier hätte. Zu kompliziert und zu riskant. Auch sein ursprünglicher Plan, das Mädchen mit einer Kugel aus einer Polizeiwaffe hinzurichten, war leider zu aufwendig. Er dachte noch darüber nach, als der Schemen unvermittelt nur wenige Meter vor ihm wieder auftauchte. Aivars hob die Waffe und schoss. Der Schemen wurde herumgerissen und stürzte mit einem schrillen Schrei zu Boden. Aivars hatte die Waffe bereits gesenkt, um zwei Fangschüsse auf das liegende Opfer abzufeuern. Doch im Lichtblitz des Mündungsfeuers hatte er gesehen, dass hinter dem stürzenden Körper noch eine weitere Person stand. Der Bulle!, durchfuhr es ihn, während er blitzschnell die Waffe wieder hob und vier Schüsse abgab. Im grellen Licht sah er, dass jeder Schuss getroffen hatte. Der Bulle brach unter grotesken Zuckungen zusammen. Einige Augenblicke war Aivars geblendet. Rote und gelbe pulsierende Flächen tanzten vor seinen Augen. Pulvergestank stach ihm in die Nase. Das Mädchen, sagte er sich und richtete die Waffe erneut Richtung Boden, wo sie hingefallen sein musste. Er hatte noch fünf Schüsse.

Aber er kam nicht mehr dazu, noch einmal zu schießen. Aus der völligen Stille des Kellerganges hinter ihm drang plötzlich ein ganz schwaches Pfeifen an sein Ohr. Es war ein Geräusch, das er noch nie gehört hatte. Fast gleichzeitig spürte er einen sengenden, brüllenden Schmerz am Hinterkopf. Dann erlosch sein Bewusstsein. Ein letzter Schuss löste sich noch, während er fiel. Die Kugel bohrte sich in seinen rechten Oberschenkel. Aber Aivars Ozols spürte davon nichts. Das zerfetzte Gehirn in seinem von einer Ladung Zündkerzenschrot durchschlagenen Schädel registrierte keine Empfindungen mehr.