72

Zollanger trat wortlos zur Seite. Sie schaute ihn an, musterte die schwarze Kutte, die bis zum Boden reichte, sein Gesicht, das durch einen Bart stark verändert aussah.

Sie ging ein paar Schritte in den Raum hinein und blieb stehen. War das eine Mönchszelle? Die Behausung war unerwartet geräumig. Ein Holztisch mit zwei Stühlen stand an der Stelle, wo ein Fenster in die dicke Steinmauer eingelassen war. Ein aus Stein gehauenes Waschbecken ragte daneben aus der Wand heraus. Darunter stand eine angerostete graue Gasflasche. Erst jetzt fiel ihr Blick auf einen Gasheizstrahler an der gegenüberliegenden Wand, der leise rauschte.

Zollanger war ihrem Blick gefolgt.

»Den hat man mir zuliebe hereingestellt«, sagte er. »Mein Bruder hat hier immer ohne Heizung gelebt.«

Elin wusste nicht, was sie erwidern sollte. Von einem der Holzbalken an der hohen Decke baumelte eine Glühbirne herunter, die jedoch nicht brannte. Die einzige Lichtquelle waren einige Kerzen, zwei davon auf dem Holztisch am Fenster.

Er deutete auf einen der Stühle. »Es wird gleich etwas zu essen kommen. Sie haben doch sicher Hunger, oder?«

Elin ließ sich auf einem der beiden Stühle nieder.

»Wie lange sind Sie schon hier?«, fragte sie dann.

»Seit ein paar Stunden«, antwortete er. »Seit Sie die Botschaft bekommen haben.«

»Sie haben damit gerechnet, dass ich nach Siena kommen würde.«

»Ich hatte es gehofft. Aber als Sie kamen, hat es mich dann doch überrascht.«

Elin spürte, wie bereits jetzt die Kälte vom Steinboden in ihre Beine kroch. Sie zog ihren Anorak aus und umwickelte ihren Unterleib.

»Ich bin nur wegen Ihnen hier, Elin«, sagte Zollanger. »Das war schon ein großes Zugeständnis der Leute, die sich um mich kümmern. Mein nächstes Domizil kenne ich nicht einmal selbst.«

Elin schaute ihn ungläubig an. »Die Kirche versteckt Sie? Ist das Ihr Ernst? Die Kirche versteckt einen gesuchten Mörder?«

»Die Kirche versteckt noch ganz andere Leute. Aber Mörder? Sie sehen mich als Mörder?«

»Ich weiß überhaupt nicht, als was ich Sie sehen soll.«

»Wollen Sie eine Decke?«, fragte er. »Der Boden ist kalt. Warten Sie.«

Er erhob sich und verschwand in einer dunklen Ecke des Zimmers, wo sich offenbar noch ein weiterer Raum anschloss. Sie hörte das Schlagen einer Schranktür. Im gleichen Moment klopfte es an der Tür. Ein älterer Mönch kam mit einem Korb herein, den er wortlos auf dem Tisch abstellte. Er murmelte irgendetwas Unverständliches und verließ das Zimmer wieder.

Elin betrachtete den Korb. Eine Flasche Wasser stand darin. Außerdem drei Stücke Käse und ein halber Laib Brot.

»Ich habe schon gegessen«, sagte Zollanger, als er mit einer Decke zurückkam. »Bedienen Sie sich.«

Sie brach ein Stück Brot ab, fand auch ein Messer in dem Korb und griff nach einem der Käsestücke.

»Mein Bruder hat die letzten dreißig Jahre hier gelebt«, begann Zollanger nach einer kurzen Pause. »Georg und ich waren zwar Zwillinge. Aber wir ähnelten uns nur äußerlich. Es gab sehr wenig, worüber wir jemals einer Meinung gewesen wären. Hätten wir im Westen gelebt, wäre das nicht so schlimm gewesen. Jeder wäre seiner Wege gegangen. Wir hätten uns vermutlich früh aus den Augen verloren und uns nicht weiter umeinander gekümmert. Aber wir sind in der DDR aufgewachsen. Da war das nicht möglich.«

»Georg war von Jugend an sehr religiös, ein Pedant in Fragen der Moral und christlicher Grundsätze. Ich habe ihn damals gehasst. Ich war überzeugter Sozialist. Ich wollte aus Leidenschaft Polizist werden, um diesem neuen Staat zu dienen. Der Westen und alles, was dazu gehörte, erschien mir nur als eine Fortsetzung des Faschismus mit anderen Mitteln, eine Konsumhölle für Menschen, die ihre Seele an ein verabscheuungswürdiges System verkauft hatten. Religion war für mich nur die betäubende Begleitmusik für den kapitalistischen Irrsinn einer wahnsinnig gewordenen Spezies. Georg erschien mir als ein gefährlicher Träumer, der nicht verstand, dass seine Vorstellungen dem Klassenfeind in die Hände arbeiteten. Sein Starrsinn und seine Aktionen zerstörten nicht nur seine Zukunft, sondern sie bedrohten auch meine. Daher habe ich ihn ohne zu zögern verraten, als er einen ernsthaften Sabotageakt plante.«

Er schaute sie nicht an, als er das sagte. Elin aß stumm und vermied ebenfalls Blickkontakt, da sie spürte, wie schwer es Zollanger offenbar fiel, über all diese Dinge zu reden.

»Ich wusste damals nicht, was man ihm antun würde«, fuhr er fort. »Und als ich davon erfuhr, war es zu spät. Ich habe alles getan, um diesen Verrat wiedergutzumachen, habe meine Zukunft und mein Leben aufs Spiel gesetzt, um ihm nach seiner Haft, die ihn fast umgebracht hat, zur Flucht zu verhelfen. Das war 1971. Ein Fluchthelfer spielte ihm auf einem Flug zwischen Sofia und Bukarest einen westdeutschen Pass zu. Bei guter Vorbereitung war so ein Identitätswechsel über den Wolken damals noch möglich. Bei der Einreise in Rumänien wurde nicht so genau hingeschaut. Und von dort entkam er mit dem nächsten Flug nach Athen. Wo er später hingegangen war, wusste ich lange nicht. Erst nach dem Fall der Mauer hörte ich wieder von ihm. Das war Anfang der neunziger Jahre. Er schrieb mir. Aus Italien. Aber ich wollte keinen Kontakt zu ihm. Ich schämte mich. Für mein Verhalten von damals. Für das Ende der DDR. Eigentlich schämte ich mich für alles, was ich jemals gedacht, getan, geglaubt und gehofft hatte. Ich weiß nicht, ob Sie das nachvollziehen können. Ich schämte mich fast dafür, überhaupt da zu sein. Alles erschien mir obszön. Die Vergangenheit und die Gegenwart gleichermaßen. Das System, an das ich geglaubt hatte, und das System, dem ich nun dienen sollte.«

»Doch«, unterbrach ihn Elin, »das kann ich sehr gut verstehen. Und glauben Sie bloß nicht, dass man in der DDR aufgewachsen sein muss, um dieses Gefühl zu teilen.«

Zollanger suchte ihren Blick. »In meinem Kopf führte ich jahrelang Gespräche mit ihm«, fuhr er nach einer kurzen Pause fort. »Aber ich sprach nie über meinen Bruder, erzählte niemandem von ihm. Wem auch? Ich hielt mich an das, was ich am besten konnte, und redete mir ein, dass mir das alles nichts ausmachte, dass ich ohnehin nichts ändern konnte. Ich funktionierte. Es gab nur eine Person, die wusste, wie es in mir aussah: Anton Billroth. Ein Kollege aus dem Landeskriminalamt. Wir hatten uns bei einer Fortbildung kennengelernt und angefreundet. Er war ebenso desillusioniert wie ich. Durch ihn erfuhr ich vorletztes Jahr von Ihrem Bruder. Anton erzählte mir, dass ihm jemand hochbrisantes Material angeboten hatte. Er war damals schon ziemlich krank. Im Dezember vor einem Jahr starb er an Herzversagen. Aber seine Krankheit war nicht der Grund dafür, dass er die Hinweise Ihres Bruders nicht weiterverfolgt hat. Sie haben ja selbst gesehen, wie weit oben die ganze Sache angesiedelt ist. Anton hatte sofort erkannt, wie gefährlich das Material war. Also ließ er die Finger davon. Das machten wir beide schon länger so, wenn wir bei Ermittlungen auf Dinge stießen, von denen wir wussten, dass genauere Nachfragen ungesund werden könnten.«

»Wie bei Selbstmördern im Tegeler Forst«, warf Elin ein.

Zollanger schwieg einen Moment lang. »Was ich Ihnen jetzt sagen werde, fällt mir sehr schwer, Elin. Aber es ist nicht zu ändern.«

Er zögerte erneut. Dann fuhr er fort: »Anton hat mich vor seinem Tod noch gebeten, seinem Informanten zu helfen, falls er Probleme bekommen sollte. Dann kam ein Paket, das Anton vor seinem Tod wohl noch an mich adressiert hatte. Er schickte mir Kopien von Unterlagen zu der ganzen Angelegenheit. Warum, weiß ich bis heute nicht. Was sollte ich damit? Anton hatte nichts unternommen. Was erwartete er von mir? Ich verstand auch viel zu wenig von der Materie. Aber natürlich las ich die Dokumente und begann, mich mit Zieten und der VKG zu beschäftigen. Was Ihr Bruder da gefunden hatte, ergab überhaupt keinen Sinn. Warum schaufelte die Stadt derart gigantische Summen in all diese Pleiteprojekte? Warum schritt niemand dagegen ein? Es war völlig rätselhaft und bestätigte nur, was Anton vermutet hatte. Einige einflussreiche, hochgestellte Leute hatten offenbar einen Weg gefunden, riesige Summen zusammenzurauben, die erst in Jahrzehnten vermisst werden würden.«

»Und Sie haben das einfach geschehen lassen?«

»Ja. Sicher. Was hätte ich denn tun sollen?«

»Genau das, was Sie jetzt getan haben. Es der Presse zustecken.«

Zollanger schüttelte den Kopf. »Sie vergessen Ihren Bruder, Elin. Warum hat er sich denn nicht an die Presse gewandt?«

»Dazu haben Sie mir Ihre Meinung ja bereits gesagt.«

»Ja. Ihr Bruder wollte Geld für diese Information, Geld, das er vermutlich dringend gebraucht hätte, um sich vor Zieten und den anderen in Sicherheit zu bringen.«

Elin blinzelte. Was sagte der Mann da? »Sie wollten ihm das Geschäft nicht verderben?« rief sie entrüstet. »Ist es das, was Sie damit sagen wollen?«

Zollanger erhob sich nun, ging zu dem Gasheizer und stellte die Flamme etwas größer ein. Das Rauschen nahm leicht zu.

»Ja. Sicher. Diese gestohlenen Dateien waren eine ganz gute Lebensversicherung. Wer sich mit diesen Leuten anlegt, den kann kein Mensch mehr schützen. Höchstens Geld. Ihr Bruder hat im September versucht, mich zu kontaktieren. Er hat mir eine E-Mail geschickt. Vier Tage vor seinem Tod. Er wollte mit mir sprechen. Ich habe ein paar Tage gewartet und dann versucht, Verbindung mit ihm aufzunehmen. Aber er hat nicht mehr geantwortet. Damals wusste ich natürlich nicht, dass er bereits tot war. Ich kam nicht auf die Idee, dass der unbekannte Selbstmörder, von dem die Zeitungen Ende September berichteten, der Absender dieser E-Mail gewesen sein könnte. Der Verdacht kam mir erst, als der Anwalt Ihres Vaters neue Ermittlungen beantragt hat und ich die Akte begutachten sollte. Erst da mutmaßte ich, dass der Tote möglicherweise Antons Informant gewesen war. Aber ich habe vorgegriffen, Elin. Denn ich war zu diesem Zeitpunkt mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Mein Bruder lebte inzwischen bei mir.«

»In Berlin?«

»Ja. Ich hatte im Januar einen Zusammenbruch. Ich hatte während einer Verhaftung die Kontrolle verloren und bekam Zwangsurlaub. Da fuhr ich hierher, zu meinem Bruder, fragen Sie mich nicht, warum. Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass ich nicht mehr lange leben würde. Und mir wurde klar, dass ich die Sache mit Georg niemals verdaut hatte. Ich wollte ihn sehen. Ich wollte, dass er mir verzeiht. Was weiß ich, was ich wollte. Wir verbrachten zehn Tage zusammen, und es war nicht zu übersehen, dass es ihm ziemlich schlecht ging. Ich beschwor ihn, sich in Deutschland in einer vernünftigen Klinik untersuchen und behandeln zu lassen, und bot ihm an, das unter meinem Namen zu tun, meine Krankenversicherung dafür zu benutzen. Ich weiß noch, wie er spottete, dass ihm unsere äußerliche Ähnlichkeit ja dann endlich einmal etwas nützen würde.«

Zollanger nahm einen Schluck Wasser, atmete tief durch und fuhr fort.

»Er kam im April nach Berlin. Das Untersuchungsergebnis war niederschmetternd. Blutkrebs. Die Prognose lautete ein bis zwei Jahre, mehr oder weniger, je nach Therapie. Aber Georg begann erst gar keine Behandlung. Es ging ihm zeitweise auch wieder besser. Es blieb nicht aus, dass wir über meine Arbeit sprachen. Irgendwann stellte ich fest, dass er die ganzen Akten studierte, die ich gesammelt hatte. Sie standen ja in seinem Zimmer. Was er nicht verstand, erklärte ich ihm. Und wir bekamen wieder einmal Streit.«

»Er wollte, dass Sie etwas unternehmen.«

»Ja. Ich sagte es ja bereits. Er war schlechterdings nicht in der Lage, eine als falsch erkannte Situation hinzunehmen. Vielleicht lag es auch an seiner Krankheit, dass er so extrem auf meine Passivität reagierte. Er bedrängte mich, mit meinem Wissen an die Öffentlichkeit zu gehen, was ich ablehnte. Ich erklärte ihm, dass es eine Art organisiertes Verbrechen gibt, das ein wesentlicher Bestandteil der hiesigen Regierungsgewalt ist und daher für Strafverfolgung unerreichbar. Ich fragte ihn, aus welchem Grund ich denn eingreifen sollte. Es war Sommer. Ein paar hundert Meter von uns entfernt tobte die Love-Parade durch die Stadt. Das ist die Tendenz, sagte ich zu ihm. Das ist der Zeitgeist. Vulgarität und Gier, auf allen Ebenen. Was ging mich diese geile Masse an? Dieser mit Partydrogen ruhiggestellte Nachwuchs. Arm, aber sexy und offenbar völlig zufrieden damit. Schnäppchen und Party, Geiz und billig. Das ist doch der Treibstoff für diese verbrecherische Zukunftsfresserei. Das Wolfsrudel lädt zum Fressen, und alle gehen hin. Es ist ein mentaler Zustand. Was habe ich da verloren? Ich bin Polizist. Kein Psychiater.«

Zollanger unterbrach sich. Elin wartete ab.

»Nun ja«, fuhr Zollanger nach einer kurzen Pause fort, »lassen wir das. Georg jedenfalls, der für seine Überzeugungen von der Stasi radioaktiv verstrahlt worden ist, hatte für meinen Standpunkt natürlich nur tiefste Verachtung übrig. Gegen Mitte Oktober verschwand er ohne Vorankündigung aus meiner Wohnung. Ich wusste nicht, wo er sich aufhielt. Er hatte ein Kartenhandy, aber er war es, der entschied, wann er mit mir sprechen wollte und wann nicht. Zunächst hörte ich wochenlang nichts von ihm. Ich hatte nicht die geringste Ahnung von seinem absurden Vorhaben. Ich machte mir Sorgen um ihn. Aber was hätte ich tun sollen? Er war unauffindbar. Mitte November stellte ich fest, dass er mehrmals größere Geldbeträge von meinem Konto abgehoben hatte. Hatte er sonst noch etwas mitgehen lassen? Ich überprüfte alles. Dabei bemerkte ich an der Art und Weise, wie meine Papiere in meiner Brieftasche angeordnet waren, dass er sowohl meinen Führerschein als auch meinen Personalausweis benutzt haben musste. Georg hatte Geld gebraucht. Meinetwegen. Aber meine Papiere? Was wollte er damit? Sein Gepäck hatte er mitgenommen. Bis auf eine seiner beiden Mönchskutten, die er im Schrank hatte hängen lassen.«

Zollanger lachte leise.

»Jeder Anfänger hätte gemerkt, dass Georg irgendetwas plante. Aber ich kam nicht drauf. Wie auch. Er hat mir das Lorenzetti-Gemälde bei meinem Besuch damals gezeigt. Die gute und die schlechte Regierung. Ich habe damals spontan gesagt, dass diese Horrorfiguren als Warnung und Mahnung in jedes Rathaus und jeden Plenarsaal gehörten. Vor allem hier. Aber wie hätte ich ahnen sollen, dass Georg vorhatte, mich beim Wort zu nehmen, dass er plante, Lorenzettis Figuren aus Fleisch und Knochen wie eine düstere Prophezeiung in der Stadt zu verbreiten?«

Elin dachte an die schockierenden Fotos der Anwältin zurück, die in ihrem Gedächtnis bereits verblassten. Doch Zollanger würde die Bilder nie loswerden.

»Die Torsi waren natürlich an mich adressiert! Er wollte mich zwingen, Farbe zu bekennen. Er wusste, dass diese Leichenteile direkt auf meinem Schreibtisch landen würden. Ich würde diese grotesken Botschaften als Erster bekommen und als Einziger relativ schnell begreifen. Dann stünde ich vor der Wahl, meinen Bruder zu denunzieren oder selbst als Täter dazustehen. Das war der tiefere Sinn der Aktion. Gewiss spielte auch Sedlazek eine Rolle, einer seiner ehemaligen Peiniger, der ja heute eine dicke Kröte in der Kloake von diesem Zieten ist. Georg muss Sedlazek irgendwo wiedergesehen haben. Vielleicht hat ihn auch das so aufgebracht und ihm die letzten Skrupel genommen. Dass die Schlimmsten immer wieder davonkommen. Er stellte mir die Schicksalsfrage. Wer bist du? Darum ging es ihm. Es war eine Sache zwischen Brüdern, wenn Sie so wollen. Und dann kamen Sie dazwischen.«