5

Es stank extrem nach kaltem Rauch. Der Gesichtsausdruck von Sina, der passionierten Nichtraucherin, war dafür ein unfehlbarer Gradmesser. Missbilligende Falten bildeten sich auf ihrer Stirn, als sie das alte Fabrikgebäude durch einen schmalen Eingang betraten. Zwei Polizeibeamte erwarteten sie. Sie lehnten am Tresen einer Garderobe, welche die Hälfte der riesigen Eingangshalle in Anspruch nahm. Angesichts der endlosen Reihen Kleiderständer dahinter folgerte Zollanger, dass hier offenbar Großveranstaltungen abgehalten wurden.

Zollanger und Sina traten zur Seite, um es den anderen zu ermöglichen, aus dem engen Eingangstunnel nun gleichfalls in die Eingangshalle einzutreten. Die Polizeibeamten kamen auf sie zu. Zollanger stellte sein Team vor.

»Wir sollen Sie hinbringen«, sagte einer der beiden Polizisten. »Es ist hinten.«

»Wir warten noch auf die Kollegen von der Gerichtsmedizin«, sagte Zollanger.

»Gut«, sagte der ältere der beiden. »Dann bleibt mein Kollege mit einem Ihrer Kollegen hier.«

»Roland«, sagte Zollanger zu Draeger. Der nickte nur.

Der Rest des Teams setzte sich in Gang. Sie gingen durch die Eingangshalle, die Köpfe leicht in den Nacken gelegt, als durchquerten sie das Hauptschiff einer Kirche. Die Decke war enorm hoch. Acht bis zehn Meter, schätzte Zollanger. Das Imposante daran war allerdings nicht allein die Höhe, sondern die Bemalung. Zollanger fühlte sich an Darstellungen erinnert, die er einmal in einem Buch gesehen hatte. Dort waren die ineinander verschlungenen Körper allerdings aus Stein gewesen und nicht in prallen Farben ausgemalt wie hier. Außerdem sahen die glückselig oder ekstatisch verzerrten Gesichter der kopulierenden Paare oder Gruppen über ihnen europäisch aus und nicht asiatisch. Und noch etwas war anders. Zollanger kam erst darauf, als sie bereits die nächste Halle betraten: Es waren keine Frauen auf den Bildern zu sehen.

»Weiß vielleicht jemand, was hier früher produziert wurde?«, fragte Udo Brenner. »Oder wozu braucht man solche Räume?«

Die Frage hatte sich Zollanger auch gerade gestellt, denn die Halle, die sie jetzt betraten, war schlechterdings gigantisch. Vier Betonpfeiler trugen eine Dachkonstruktion aus Drahtglas, die gut und gern zwanzig Meter über ihren Köpfen schwebte. Sie war allerdings nur teilweise zu sehen, da zwei über Stahltreppen verbundene und zueinander versetzte Ebenen eingezogen worden waren. Lange schwarze Stoffbahnen bildeten hier und da Sichtblenden oder regelrechte Gänge und Tunnel.

»Sieht aus wie ein Theater«, bemerkte Sina.

Sie kamen an einer Bar vorbei, einem einfach gemauerten Quadrat mit einem umlaufenden Tresen aus schwarzem, unpoliertem Granit. Dann betraten sie einen der schwarzen Stofftunnel und fanden sich plötzlich in einem flacheren Nebengebäude. »Lab-Oratory« hatte jemand in großen schwarzen Buchstaben auf die Betonwand vor ihnen gesprüht und einen dicken Pfeil nach rechts daneben gemalt. Sie folgten ihm. Nach zwei weiteren Abzweigungen blieb der Polizist plötzlich stehen und deutete nach rechts in eine Nische. Ein Mann trat ihnen entgegen. Er hatte ein Taschentuch vor die Nase gepresst. Er wischte sich das Gesicht, musterte die Gruppe kurz und sagte dann unsicher:

»Sind Sie die Detectives?«

»Ich bin Hauptkommissar Zollanger«, sagte Zollanger. »Das sind meine Kollegen, Frau Haas, die Herren Krawczik, Brenner, Findeisen und Brodt. Wer sind Sie, bitte?«

»Naeve«, antwortete er. »Desmond Naeve. Ich bin die Pächter von diese Club.«

Der britische Akzent war überdeutlich, aber der Mann sprach passables Deutsch.

»Was ist hier passiert?«

»Ein schlechter Scherz, glaube ich. Jemand hat ein totes Tier dort unten deponiert. Ein Tier mit … I don’t know. Sie müssen sich das selbst anschauen.«

»Wer hat das Tier gefunden?«, fragte Zollanger.

»Die Putzfrau. Vor etwa einer Stunde. Es gibt da unten eine Kammer, wo Putzgerät und so was aufbewahrt wird. Dort lag es.«

»Und warum liegt es jetzt nicht mehr dort? Wer hat es herausgeholt?«

»Die Putzfrau. Es war im Weg. Sie dachte, es sei ein Kostüm.«

»Ein Kostüm?«

»Ja. Das hier ist ein Club. Wir machen hier Themenpartys.«

»Ist die Putzfrau noch hier?«

»Sie hat einen Schock. Der policeman hat sie nach Hause geschickt. Aber wir haben natürlich ihre Adresse. Sie kann allerdings kaum Deutsch.«

Zollanger ging in die Nische hinein. Sofort schlug ihm scharfer Uringestank entgegen. Der Durchgang war zu schmal für mehrere Personen. Aber nach etwa zwei Metern mündete er in einen vielleicht sechs mal sechs Meter großen Raum. Was für ein Ort war dies nur?

»Irre ich mich, oder ist das ein Pissoir?«, fragte er Sina, die neben ihn getreten war, den Blick auf ein grün gestrichenes Metallhäuschen vor ihnen gerichtet.

»Sieht so aus«, erwiderte sie und trat zur Seite, um die anderen durchzulassen. Erst jetzt sah Zollanger, dass unter dem Metallhäuschen noch ein Raum existierte, der über eine Wendeltreppe zugänglich war. Ein Lichtschimmer drang von dort zu ihnen herauf. Der Boden des Metallhäuschens bestand aus einem Metallrost. Aber was lag dort unten? Täuschten ihn seine Augen, oder sah er wirklich, was er da sah?

»Hat jemand Geruchsmasken dabei?«, fragte er, während er Gummihandschuhe und Plastiküberschuhe anzog.

»Die hat Weyrich«, antwortete Harald Findeisen. »Sollen wir auf ihn warten?«

»Nein«, sagte Zollanger. »Ich gehe jetzt erst einmal mit Sina da hinunter, und wir besichtigen das kurz. Ihr geht wieder raus in den Gang. Es ist zu eng hier. Und wir müssen ja nicht alle in diesem Gestank herumstehen. Udo, dieser Mister Naeve soll in sein Büro gehen und dort auf mich warten. Wenn Weyrich da ist, dann schickt ihn sofort her. Komm, Sina.«

War die Atmosphäre des Ortes daran schuld? Oder der erste flüchtige Blick auf dieses Ding da unten? Wenn seine Augen ihn nicht trogen, war es nicht weniger entsetzlich und rätselhaft als das Ding in Lichtenberg. Etwas Krankes, Abartiges war hier geschehen. Und er hatte keine Ahnung, wie er damit umgehen sollte. Auch deshalb wollte er, dass Sina es sich zuerst anschaute. Genau so, wie man es gefunden hatte. Denn das war ihr Gebiet.

Wo um alles in der Welt waren sie hier bloß? Offenbar in einer alten Fabrik, die jemand zu einer riesigen Diskothek umfunktioniert hatte. Aber was hatte ein schmiedeeisernes Parkpissoir in dieser Ecke hier verloren? Hatte man früher in Fabriken solche Toiletten gebaut? Oder war das irgendeine durch Materialknappheit diktierte improvisierte Lösung aus der Nachkriegszeit? In DDR-Fabriken hatte es derartige Pissoirs nicht gegeben. Das wusste er. Außerdem befanden sich in dem Toilettenhäuschen überhaupt keine Toiletten oder Wände, gegen die man hätte pinkeln können. Nur die äußere Struktur war vorhanden. Sowie ein Metallgitterboden. Und darunter ein kahler Raum, in dem es so bestialisch stank, dass die Geruchsmasken vermutlich nicht besonders viel nützen würden.

Jemand hatte eine Taschenlampe hiergelassen. Sie lag auf der vorletzten Treppenstufe und beleuchtete den Gegenstand auf dem Boden. Sina hatte ebenfalls eine Lampe in der Hand und ließ den Lichtkegel erst über den Boden und dann langsam über das tote Tier gleiten. Zollangers erster Eindruck hatte ihn nicht getäuscht. Vor ihnen lag ein totes Lamm.

Zollanger wusste nicht viel über Lämmer. Er war ein Stadtmensch. Aber immerhin war er sich sicher, dass es sich um kein besonders großes Exemplar handelte. Es lag auf der Seite. Die Kammer, in der es entdeckt worden war, stand offen und befand sich hinter dem toten Tier. Sina leuchtete kurz hinein, und der Lichtkegel glitt über Regale mit Putzmitteln. Die Tür verfügte nur über ein einfaches Schloss, das auf den ersten Blick unversehrt aussah.

Sinas Lampe beleuchtete wieder das Lamm. Fast eine Minute lang sprachen sie kein Wort, sondern versuchten nur, die Einzelheiten irgendwie geordnet zu erfassen. Der Kopf und das Vorderteil des Tieres waren unversehrt. Weder war ihm die Kehle durchgeschnitten worden, noch sah man Spuren von einem Bolzenschuss oder sonst einer der üblichen Tötungsmethoden. Die erste Auffälligkeit begann am Bauch. Die gesamte Unterseite des Tieres war mit einem dicken schwarzen Strangmaterial vernäht worden. Die Naht endete zwischen den Hinterbeinen, wo die nächste Merkwürdigkeit begann. Die Hinterbeine waren mit handbreitem, starkem schwarzem Klebeband umwickelt.

Zollanger hatte Mühe, sich zu konzentrieren. Er spürte allmählich, dass er seit halb fünf auf den Beinen war, Stunden in einem eiskalten und zugigen Plattenbau verbracht und noch nicht einmal gefrühstückt hatte. Aber der Gedanke an ein Frühstück hatte sich vorerst erledigt. Dafür sorgte schon der Gestank. Sina hielt den Lichtkegel der Taschenlampe noch immer auf die Hinterbeine des Kadavers gerichtet. Sie machte eine kleine Bewegung, und plötzlich blinkte etwas auf. Sie beugten sich näher über die Stelle. Es war eine Klinge. Der Griff eines Messers war so zwischen den Hinterläufen des toten Tieres fixiert worden, dass nur noch die Klinge herausragte.

»Stinkt der Kadaver so?«, fragte Zollanger. »Oder ist es dieser Ort?«

»Schwer zu sagen«, sagte Sina. »Lange kann das Tier hier nicht gelegen haben. Und verwest sieht es nicht aus. Ich tippe eher auf den Ort. Es stinkt nach Urin. Aber … o nein, was ist denn das?«

Der Lichtschein von Sinas Lampe hatte sich wieder zum vernähten Bauch des Tieres vorgearbeitet und ruhte nun auf einer Stelle kurz vor dem Brustbein, wo die Naht etwas aufklaffte. Das Fell war dort sehr kurz, und man konnte gut sehen, wie der kräftige schwarze Faden die durchschnittenen Haut- und Muskelpartien des toten Tieres zusammengeklammert hielt. Aber eben nicht vollständig. Und dort, wo die Naht ein wenig aufklaffte, war etwas zu sehen, das da absolut nicht hingehörte.

»Großer Gott«, flüsterte Zollanger.