47

Sie war ein ziemliches Biest, dachte er. Unberechenbar, so wie sie eben das Handy gegen die Wand geworfen hatte. Sie war zornig. Aber er spürte auch, dass sie Angst hatte. Und er war sich nicht darüber im Klaren, was Angst in ihr auslösen würde. Panik? Schätzte sie ihre Situation überhaupt halbwegs realistisch ein? Er versuchte, in ihren abweisenden grünen Augen zu lesen. Was für ein feines, schönes Gesicht, dachte er noch. Und so unglücklich und ernst.

»Hören Sie mir gut zu, Elin. Ihr Bruder hat eine riesengroße Dummheit gemacht, die er mit seinem Leben bezahlt hat. Sie sind drauf und dran, diese Dummheit zu wiederholen. Nein, sagen Sie jetzt nichts. Wir haben verdammt wenig Zeit. Wir haben vorhin alle beide sehr viel Glück gehabt. Der Mann, den Sie in meiner Wohnung gesehen haben, wird nicht von uns ablassen. Oder sie schicken einen anderen …«

»Wer ist sie?«

»Die ehemaligen Chefs Ihres Bruders, Elin. Die mögen es überhaupt nicht, wenn ihnen jemand zu nahe kommt. Ihre Schnüffelei bringt Sie in Lebensgefahr. Verstehen Sie das nicht? Vor diesen Leuten kann Sie niemand schützen. Niemand. Sie müssen Berlin sofort verlassen.«

Elin blickte finster vor sich hin.

»Was ist mit meinem Bruder passiert? Bevor ich das nicht weiß, bringen mich keine zehn Pferde von hier weg.«

Zollanger drehte ungehalten die Augen zum Himmel.

»Ich habe es Ihnen doch schon einmal erklärt«, sagte er. »Kein Mensch weiß, was wirklich passiert ist. Fest steht, dass Eric geheime Firmendaten gestohlen und unterschiedlichen Leuten in der Stadt angeboten hat.«

»Was für Daten?«

»Informationen über Geldströme zwischen einigen großen Banken. Es ist eine sehr komplexe Angelegenheit, Elin. Und eine sehr gefährliche. Weder Ihr Bruder noch Sie oder ich haben da etwas verloren. Verstehen Sie?«

Elin schnaubte verächtlich. »Und das sagt ausgerechnet ein Polizist.«

Zollanger setzte sich auf eine der Treppenstufen und schaute zu ihr auf.

»Was wollen Sie, Elin?«

»Ich will wissen, wer meinen Bruder auf dem Gewissen hat.«

»Gut«, sagte er. Er erhob sich und öffnete das Fenster. Dann deutete er nach draußen und sagte: »Das da draußen, Elin. Alles, was dazugehört. Diese ganze beschissene Stadt.«

»Was soll das heißen?«

Zollanger schaute in den Hinterhof hinab. Er hatte die Einfahrt gut im Blick. Überrascht werden konnten sie hier so leicht nicht.

»Setzen Sie sich hin, Elin.«

Sie blieb gegen die Wand gelehnt stehen und schaute ihn feindselig an.

»Hat Ihr Bruder Ihnen jemals erzählt, für wen er gearbeitet hat?«, fragte er nach einer Pause.

»Nein.«

»Aber er hat dort ganz gut verdient, oder?«

Elin zuckte mit den Schultern.

»Eric hatte immer Geld. Aber über so etwas haben wir nie gesprochen. Er wusste, dass ich mit Geld nichts zu tun haben will und dass mir seine oberflächlichen Ansichten zuwider waren. Aber er war mein Bruder.«

Zollanger schaute erstaunt auf.

»Was machen Sie eigentlich, Elin?«, fragte er. »Für wen arbeiten Sie?«

»Für niemanden«, erwiderte sie genervt. Was sollte diese Fragerei.

Zollanger wartete.

»Ich kümmere mich um Straßenkinder«, erzählte sie schließlich. »Ich war selbst mal ein paar Jahre auf der Straße. So ist das eben gekommen.«

»War Eric auch mal auf der Straße?«

Elin lachte kurz. »Nein. Er kam mehr nach meinem Vater. Eric war wie alle, ein ganz normaler Yuppie. Wir hatten über fast alles unterschiedliche Ansichten. Reicht das jetzt?«

Eine kurze Pause entstand. Zollanger schaute in den Hof hinab. Dann sagte er: »Ihr Bruder hat bei der BIG glänzend verdient. Wissen Sie, warum er im Frühjahr plötzlich gekündigt hat?«

Elin schüttelte den Kopf.

»Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?«

»Anfang September. Drei Wochen vor seinem Tod.«

»Und er hat Ihnen nie erzählt, warum er diesen tollen Job plötzlich hingeschmissen hat? Was wollte er denn machen?«

»Irgendeine Internetgeschichte. Ich weiß es nicht. Es interessierte mich auch nicht. Eric war Eric. Er hatte immer Geld, und er kam immer klar. Ich sage doch, wir haben nie über solche Dinge geredet.«

»Aber er hat Ihnen Dokumente gegeben. Disketten. Laufwerke …«

»Die habe ich erst nach seinem Tod gefunden.«

»Wo?«

»In meinem Zimmer in Hamburg. Er hat eine Tasche dagelassen. Angeblich hatte er sie vergessen. Er rief mich aus Berlin an und sagte, die Sachen seien nicht so wichtig, er würde sie nächstes Mal abholen. Aber wollten Sie nicht über Erics Firma sprechen?«

Zollanger blickte erneut in den Hof hinab.

»Ihr Bruder ist mir ein Rätsel, Elin. Er hat für Ganoven gearbeitet. Das kann er nicht erst nach drei oder vier Jahren gemerkt haben. Warum klaut er plötzlich Daten und versucht, sie zu verkaufen? Brauchte er Startkapital für seinen Internetladen?«

Elin fuhr herum und schaute Zollanger zornig an.

»Wer sagt, dass er die Daten verkaufen wollte?«

»Ich sage das. Weil es so war.«

»Woher wollen Sie das wissen? Kann es nicht sein, dass er einfach ein anständiger Mensch war, der Beweise gesammelt hat?«

Zollanger blickte sie mitleidig an.

»Ein anständiger Mensch, der für so eine Bank arbeitet? Ist das Ihr Ernst?«

Sie schaute ihn völlig irritiert an. Er zuckte nur mit den Schultern.

»Ich komme aus dem Osten, Elin. Ich bin fremd hier. Erklären Sie mir dieses Paradox.«

Elin wusste nicht, was sie erwidern sollte. Was der Mann sagte, war nicht sehr weit von dem entfernt, was sie selbst auch dachte.

»Ich muss in letzter Zeit oft an einen Roman denken, den ich als Jugendlicher gelesen habe«, fuhr er fort. »John Steinbeck, Die Früchte des Zorns. Da gibt es diese entsetzliche Passage, wo eine Familie von ihrem Land vertrieben wird, in den sicheren Hungertod. Die Familie hofft auf Gnade. Sie haben nichts falsch gemacht. Was können sie dafür, dass die Preise gefallen sind, ihre Arbeit nicht mehr profitabel ist. Sie betteln um Aufschub. Das sei nicht möglich, wird ihnen gesagt. Die Bank könne nicht anders. Die Bank? fragen sie. Aber das seien doch Menschen. Nein, werden sie belehrt. Das sei ein Irrtum. Eine Bank sei etwas ganz anderes, etwas völlig Unmenschliches. Aber sie bestehe doch aus Menschen, beharrt die Familie. Sicher, sagt man ihnen. Und es treffe sogar zu, dass jeder, der für die Bank arbeitet, es hasse, was die Bank tut. Aber die Bank sei größer als der Mensch. Sie sei ein Monster. Menschen hätten sie zwar geschaffen, aber Menschen könnten sie nicht kontrollieren.«

Er schaute sie an. Elin sagte nichts.

»Und wissen Sie auch, warum das so ist?«, fuhr er fort. »Weil die Bank von etwas lebt, das unerschöpflich ist: von Gier. Sie ist im Grunde nur das Vergrößerungsglas der Raffgier all derer da draußen, die heute schon ausgeben wollen, was sie noch gar nicht haben. Das Monster sind immer auch die, die es nähren und füttern. Aber das wissen Sie vermutlich so gut wie ich, oder?«

»War das eine Frage?«

»Nein. So mager, wie Sie aussehen, sind Sie vielleicht wirklich ein anständiger Mensch. Aber was ist mit Ihrem Bruder? Warum hat er da mitgemacht? Warum hat er erst glücklich und zufrieden für das Monster gearbeitet und auf einmal beschlossen, es zu reizen? Verstehen Sie das?«

»Vielleicht, weil es ihn angekotzt hat«, entgegnete sie aufgebracht. »Weil er gesehen hat, was es anrichtet. Was weiß ich! Man könnte meinen, Sie gönnen ihm sein Schicksal.« Ihre Stimme begann zu zittern. »Was für ein menschenverachtender Zyniker sind Sie eigentlich? Sie wissen, dass mein Bruder von irgendeiner Scheißbank in den Tod getrieben oder ermordet wurde. Sie sind sogar Polizist. Und Sie haben nichts unternommen?«

»Sie wissen sehr wenig über mich«, erwiderte Zollanger.

»Es liegt bei Ihnen, das zu ändern.«

Zollanger schaute auf seine Armbanduhr, dann wieder in den Hof. Es dämmerte bereits.

»Die BIG ist nur ein kleiner Fisch, Elin. Er stinkt mächtig. Aber das ist gar nichts im Vergleich zu dem, was noch kommen wird. Die BIG ist das letzte Glied in der Kette. Haben Sie schon einmal von der Volkskreditgesellschaft gehört? Der VKG

»Nein.«

»Und Sie sind sicher, dass Sie das alles wirklich wissen wollen?«

»Ich will wissen, warum mein Bruder sterben musste.«

Zollanger setzte sich, winkelte die Beine an und stützte seine Unterarme darauf.

»West-Berlin war nach dem Krieg und der Teilung nicht lebensfähig«, begann er. »Die Stadt hing immer am Tropf des Westens. Gleichzeitig war undenkbar, dass man sie jemals aufgeben würde. Die Leute, die hier am Ruder waren, konnten die Stadt ausplündern und in Grund und Boden wirtschaften – der Bund hatte gar keine Wahl, als die Rechnung zu bezahlen. Bis zum Mauerfall war West-Berlin ein Milliardengrab, ein vom Westen gemästeter Brückenkopf des Kalten Krieges. Eine Frontstadt eben, mit allen dafür typischen Erscheinungen – einer gewissen Anarchie, lockeren Sitten und daraus folgend Korruption und Vetternwirtschaft.«

Zollanger blickte durch Elin hindurch, als sähe er die Vergangenheit vor sich.

»Nach der Wiedervereinigung stand die Stadt plötzlich so da, wie sie wirklich war: heruntergekommen, ohne tragfähige wirtschaftliche Basis, mit einem gigantischen öffentlichen Dienst und einem Heer von einflussreichen Günstlingen in allen wichtigen Schaltstellen. Wie sollte man die alle durchfüttern und bei Laune halten? Es musste dringend Geld her, und zwar viel. Aber wie füllt man leere Kassen? Aus der Gegenwart war nichts mehr herauszuholen, die war schon kahlgefressen. Blieb nur die Zukunft. Die Schuldengrenze war jedoch ebenfalls erreicht, denn es gibt ja Grenzen, bis wohin die öffentliche Verschuldung steigen darf. Die Stadt war bereits seit zwei Jahren nicht mehr in der Lage, einen verfassungskonformen Haushalt aufzustellen. Man klagte in Karlsruhe, versuchte, die anderen Bundesländer anzuschnorren. Glücklicherweise ohne Erfolg. Was sollte man also tun? Nun, was meinen Sie?«

»Sparen«, sagte Elin.

»Sparen? Diese Stadt ist ein Ausgaben-Junkie, Elin. Ein Junkie kann nicht plötzlich sparen. Er braucht Stoff. Und wenn es sein muss, verdrückt er nicht nur das Geld vom nächsten Jahr, sondern auch das der nächsten dreißig oder fünfzig Jahre. Es ist ja sowieso überall das Gleiche: In den leergefischten Meeren, auf den überdüngten Äckern – der Exzess findet überall statt. Warum sollte es ausgerechnet in der Kreditbranche anders sein, die ja davon lebt, die Zukunft zu verkaufen?«

Elin verzog das Gesicht. Zollanger ließ sich nicht unterbrechen.

»Und wie kommt man an dieses Geld heran? Es liegt ja recht gut geschützt in den Taschen der Bevölkerung. Auf ihren Sparbüchern. In ihren Rentenansprüchen. In den ganzen Werten und Rücklagen, die die Leute für sich oder ihre Kinder geschaffen haben. Mit ein paar Steuerüberfällen im Morgengrauen nach der nächsten Wahl ist es da nicht getan. Man muss schon eine Bohrinsel mit einem ganz besonders langen Saugrohr konstruieren, um an diese in tiefer Zukunft liegenden Vermögensschichten heranzukommen und sie klammheimlich leerzupumpen. Selbstverständlich darf niemand auf die Idee kommen, dass die Stadt selbst an dieser räuberischen Bohrarbeit beteiligt ist. Also, was tut man? Ganz einfach. Man versteckt die Bohrstation im Keller des Rathauses. In der Eingangshalle steht sogar ein Schild: ›VKG-Volkskreditgesellschaft. 2. OG links‹. Aber da sitzen nur die Damen von der Werbeabteilung. Von der Bohrstation im Keller wissen nur ganz wenige.«

»Eric hatte Material über diese BIG und eine gewisse TBG«, sagte Elin. »Von einer VKG war nirgendwo die Rede.«

»Nett, diese ganzen Abkürzungen, nicht wahr?«, sagte Zollanger. »Es gibt noch ein paar Dutzend andere, aber dafür haben wir jetzt wirklich keine Zeit. Sie müssen auch nur die Struktur verstehen. Die VKG ist wie ein Tumor. Es ist sehr schwierig, Gesundes und Krankes, Öffentliches und Privates, Legales und Illegales voneinander zu unterscheiden.«

»Und wenn man den Tumor herausschneidet?«

»Dann stirbt der Patient. Denn er sitzt in allen lebenswichtigen Organen. Sie müssen sich das so vorstellen: Die Stadt, also die VKG, übernimmt Beteiligungen an verschiedenen Piranha-Banken, die für sie in hochriskante Finanzgeschäfte einsteigt. Die Piranha-Banken sind auf dem Markt natürlich suspekt. Doch da sie plötzlich Anzug und Krawatte tragen, auf denen VKG eingestickt ist, erscheinen ihre Geschäftsmodelle auf einmal seriös. Noch die absurdesten Geschäfte, die von den Piranhas auf den Markt gebracht werden, sind durch die VKG abgesichert. Was passiert nun? Das Geld beginnt in Massen zu fließen. Die Konditionen sind so unglaublich, dass sich niemand solche Gewinne entgehen lassen will. Im Keller des Rathauses sprudelt es nur so. Und es erscheinen immer neue Finanzhaie, die in diesem Kapitalsee mitschwimmen wollen, vor allem aus dem Immobiliensektor. Bald sind es so viele, dass es im Rathauskeller zu eng wird. Man lagert aus in die Treubau-Gesellschaft TBG. Unter diesem Dach sammeln sich die Investoren, die das Geld verschleudern, das aus dem Rathauskeller herübergepumpt wird. Und eine dieser Gesellschaften war die Berliner Investment Group oder BIG

»Erics Firma.«

»Ja. Aber man sollte besser von Marquardt und Sedlazek sprechen. Die BIG war eine regelrechte Geldverbrennungsmaschine. Fast alle Projekte, die dort aufgelegt wurden, gingen baden. Aber diese Leute verdienten trotzdem genug, denn wo so viel Geld fließt, bleibt an den Händen, durch die es geht, noch immer mehr als genug hängen.«

Zollanger machte eine Pause und räusperte sich.

»Die VKG ist der Tumor, Elin, die BIG eine der vielen Metastasen. Den im Handelsregister genannten Firmensitz gibt es im Adressbuch gar nicht. Jedes Investitionsprojekt ist in einer eigenen Projektgesellschaft mit völlig nebulösen Eigentümerverhältnissen untergebracht. Sagen wir es mal so: Die Konstruktion von VKG und TBG war eine politische Straftat, durch die hochtoxische Finanzströme in die Stadt gelenkt wurden. Die BIG und all die anderen sind nichts als Hehler, die diese Milliarden verdealen. Und Sie dürfen nie vergessen: Für jeden Euro dieses Finanzkokains haftet die Stadt.«

Elin schwieg. Was sollte sie zu diesem Szenario schon sagen? Zollanger musterte sie. »Soll ich weitersprechen?«

Elin nickte.

»Ihrem Bruder war aufgefallen«, fuhr er fort, »dass die Treubau-Gesellschaft den Herren Marquardt und Sedlazek Kredite in einer Größenordnung nachwarf, die einfach nicht normal war. Die beiden kauften damit dutzendweise Schrottimmobilien im Osten auf – mit Geldern, die sie über ihren Parteifreund Zieten und dessen Bank ohne jeden Nachweis von Sicherheiten bei der TBG abrufen konnten.«

»Aber … wenn das alles bekannt ist, warum hat dann niemand eingegriffen?«

»Es ist sehr wenig bekannt. Noch. Ihr Bruder hat den Vorhang ein wenig angehoben, aber nur kurz. Niemand will, dass diese Dinge bekannt werden. Warum auch? Im Moment verdienen doch alle blendend. Alle Welt will plötzlich hier investieren. Die Konditionen sind unschlagbar. Acht Prozent Zinsen. Man kann die Geldanlagen von der Steuer absetzen. Wenn die Schrottimmobilien nicht gut vermietet werden, zahlt die Stadt auf Jahre hinaus die Miete für die leeren Wohnungen. Und wer in das Roulette einsteigt, bekommt auch noch die Garantie, dass er seine Einlagen nach fünfundzwanzig Jahren garantiert zurückerhält. Natürlich muss so ein System nach ein paar Jahren zusammenkrachen. Und so ist es ja auch geplant. Wie ein Hütchenspiel. Erst massiv absahnen und dann die Schulden der Nachwelt hinterlassen, die das jahrzehntelang abbezahlt.«

Zollanger hatte sich warmgeredet. Aber plötzlich hielt er inne.

»All dies ändert nichts daran, dass Sie in Lebensgefahr schweben, Elin. Ich beschwöre Sie: Bleiben Sie nicht hier. Verlassen Sie so schnell wie möglich Berlin. Ich kann hier nichts für Sie tun.«

Er erhob sich und drückte ihr das neue Handy wieder in die Hand.

»Rufen Sie mich an, wenn Sie wieder in Hamburg sind.«

Sie blickte zu ihm auf. »Und Sie lassen das alles einfach geschehen. Einfach so?«

»Ich?«, erwiderte er und lachte bitter auf. »Was sollte ich denn Ihrer Meinung nach tun? Die Stadtverwaltung verhaften? Die Investoren anzeigen? Die ganze Kette dieser obszönen Gier können Sie nicht stoppen. Und Ihr Bruder? Wollte er wirklich etwas ändern? Aufklären? Missstände anprangern? War er so naiv? Ich denke nicht. Er war ein kluger Junge. Klug genug, um zu wissen, dass man diesen Kräften hilflos ausgeliefert ist. Er wollte das Monster auch gar nicht töten. Er wollte einen Anteil vom Gold, das es bewacht. Ihr Bruder hat Mauscheleien innerhalb der BIG aufgedeckt und gedacht, er könne damit Geld machen. Dummerweise ist er dabei auf Zusammenhänge gestoßen, deren ganze Tragweite er wahrscheinlich gar nicht begriffen hat. Er hat ein Dokument gefunden, eine Vorstandsvorlage der Volkskreditgesellschaft, in der diese Verflechtung genau beschrieben ist. Das Dokument ist für Außenstehende kaum zu verstehen. Ich habe einen Experten gefunden, der es mir unter dem Siegel der absoluten Verschwiegenheit erklärt hat. Und selbst der hat mir geraten, es so schnell wie möglich wieder zu vergessen …«

»Phoenix«, flüsterte Elin.

»Ja, Elin. Ein Wort, das Sie besser so schnell wie möglich wieder aus Ihrer Erinnerung löschen. Wir haben zwar einen Rechnungshof. Aber dort gibt es weder Ausnüchterungszellen für durchgedrehte Finanzminister noch Polizei, Gericht oder Gefängnis. Der Tumor regiert, Elin.«

»Was zum Teufel machen Sie dann noch hier?«, fuhr sie ihn an. »Warum erzählen Sie mir das alles? Soll mich das vielleicht trösten?«

Er schaute sie an.

»Sie haben mir vorhin wahrscheinlich das Leben gerettet, Elin. Ich schulde Ihnen also etwas. Aber ich kann nicht mehr tun, als Sie zu warnen. Verlassen Sie Berlin …«

»Und Sie?«, schrie sie jetzt.

Er drückte ihr die Hand auf den Mund, aber sie riss sich los und starrte ihn voller Hass an. »Sie … Polizist. Sie sind doch genauso korrupt wie alle hier. Wer sagt mir denn, dass Sie mit denen nicht gemeinsame Sache machen, Sie …«

»Ich bin in der gleichen Situation wie Sie, Elin.«

»Warum? Was wollen die denn von Ihnen? Sie tun doch keinem was mit Ihrem zynischen Selbstmitleid!«

Zollanger schüttelte stumm den Kopf. Dann trat er auf sie zu und drückte ihr das neue Handy in die Hand.

»Wir sind quitt, Elin Hilger. Machen Sie, was Sie wollen. Ich habe Sie gewarnt.«

Damit machte er auf dem Absatz kehrt und lief schnell die Treppen hinab. Das Geräusch seiner Schritte entfernte sich rasch. Elin trat unschlüssig ans Fenster und schaute in den Hinterhof hinab. Eine Kirchenglocke schlug viertel. Dann sah sie ihn. Ohne sich umzusehen, ging er schnellen Schrittes durch den Innenhof und verschwand aus ihrem Blickfeld.

Sie wartete und versuchte, den Aufruhr in ihrem Kopf zu bändigen. Der Scheißbulle wusste alles und hatte nichts getan. Sie wollte aufstehen, in Erics Wohnung zurückkehren und ihre Sachen holen. Aber sie war wie gelähmt. Sie saß einfach da, starrte in den langsam dunkler werdenden Himmel hinauf und hatte keine Ahnung, was sie nun machen sollte.