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Ich habe die traurige Pflicht, Ihnen mitzuteilen, dass bei einem Schusswechsel in einem Heizungskeller in Reinickendorf zwei Menschen zu Tode gekommen sind«, begann Frieser seine Ausführungen und blickte erleichtert auf die spärlich besetzten Reihen vor ihm. Gerade mal acht Journalisten hatten hergefunden. Frieser wusste gar nicht, wem er dafür danken sollte. Der Vorsehung, die dafür gesorgt hatte, dass nur wenige Stunden vor der anberaumten Pressekonferenz eine Gasexplosion ein Wohnhaus in Mariendorf vollständig zerstört hatte? Oder dem lieben Gott, an den er nicht glaubte, an dessen Adresse er jedoch letzte Nacht einige Stoßgebete geschickt hatte? Was auch immer. Eine undichte Gasleitung in Mariendorf hatte heute Morgen für eine Katastrophe gesorgt und einen Großteil der Presseaufmerksamkeit für heute von ihm abgezogen.

»Eines der Opfer war ein Angehöriger der Strafverfolgungsorgane«, fuhr er fort. »Das zweite Todesopfer ist noch nicht identifiziert. Dringend tatverdächtig sind eine zwanzigjährige Asoziale aus Hamburg sowie ein sechzehnjähriger Asylbewerber bosnischer Staatsangehörigkeit. Die Tatumstände stellen sich im Einzelnen folgendermaßen dar …«

Frieser hatte sich mit dem Versuch, seine Presseerklärung so vage wie möglich zu halten, die halbe Nacht um die Ohren geschlagen. Aber irgendwann hatte er aufgegeben. Es hatte keinen Sinn. Er würde die Reporter nicht mit Teilinformationen abspeisen können. Also blieb ihm nur eines: Er musste sie auf seine Seite ziehen.

»Bevor ich Ihnen weitere Einzelheiten mitteile, möchte ich an Ihr Berufsethos appellieren. Wir haben es hier mit einem Straftäter zu tun, der mit seinen grauenvollen und absurden Taten offenbar die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte. Durch Ihre Berichterstattung können Sie somit leicht Erfüllungsgehilfen des Täters und seiner mutmaßlichen Komplizin werden.«

In der Folge gab Frieser einen Abriss über Zollangers Entwicklung bis zu seinem ersten psychotischen Anfall vor elf Monaten. Er räumte ein, dass das Verbleiben des Mannes im Dienst eine grobe Fehleinschätzung gewesen sei, die leider dazu geführt habe, dass der Betroffene einen weiteren psychotischen Schub erlitt, der wohl als ursächlich für seine nachfolgenden Straftaten zu betrachten sei. Nach den gegenwärtigen Erkenntnissen habe er einem von ihm willkürlich ausgewählten Opfer zunächst mit religiös motivierten Drohbotschaften, später mit aus gestohlenen Leichenteilen zusammengesetzten Hassfiguren zugesetzt. In der Folge entführte er dessen Tochter, entweder um seinen »symbolischen« Drohungen Nachdruck zu verleihen oder um von simulierten zu realen Gewalttaten überzugehen.

Das betroffene Opfer, eine bekannte Person des öffentlichen Wirtschaftslebens, die Anonymitätsschutz genieße, habe aus berechtigter Sorge um die verschwundene Tochter einen privaten Ermittler eingeschaltet, der den Täter Z. rasch gefunden und gestellt habe. Die Sicherheitsorgane seien natürlich auch eingeschaltet gewesen, waren allerdings durch die Tatsache, dass der Täter selbst Angehöriger der Ermittlungsbehörde war, in ihrer Funktionsweise stark beeinträchtigt. So sei es zu der unglücklichen Situation gekommen, dass Z. durch den privaten Ermittler gestellt und im Laufe eines eskalierenden Schusswechsels von diesem erschossen worden sei. Der private Ermittler sei bei dem Schusswechsel ebenfalls ums Leben gekommen. Für dessen Tod tatverdächtig sei jene junge asoziale Person aus Hamburg, die Z. mutmaßlich als Komplizin gedient habe. Das zwanzigjährige Mädchen habe selbst eine Schussverletzung davongetragen, was sie jedoch nicht daran gehindert habe, den privaten Ermittler mittels einer von ihr mitgeführten Steinschleuder tödlich zu verletzen. Weiterhin tatverdächtig sei außerdem, wie bereits erwähnt, der nachweisliche Eigentümer der Steinschleuder, ein sechzehnjähriger bosnischer Asylbewerber, der jedoch allem Anschein nach zur Tatzeit nicht am Tatort gewesen sei. Frieser schloss mit einem neuen Appell, die Berichterstattung nüchtern und faktenorientiert zu halten, und versprach, nach Abschluss der aufwendigen Ermittlungen erneut eine Pressekonferenz einzuberufen.

Als er geendet hatte, schossen sechs Hände in die Höhe. Aber es kam keine Frage, auf die er nicht vorbereitet gewesen wäre.

Wie man sich diese »Hassfiguren« vorzustellen habe? Wo genau sie gefunden worden seien? Was der erschossene Polizist mit seiner Aktion beabsichtigt habe? Inwiefern das Mädchen nachweislich seine Komplizin sei und in welcher Tatabsicht?

Frieser stand zwanzig Minuten lang Rede und Antwort. Die meisten Nachfragen konnte er unter Verweis auf laufende Ermittlungen und die Vertraulichkeit von Täterwissen vage genug beantworten. Was die Frage nach den Motiven des oder der Täter betraf, so nutzte er die Nachfragen, um immer wieder den offenbar gestörten Geisteszustand der Tatbeteiligten zu betonen.

»Nach unserem gegenwärtigen Wissensstand«, so sagte er abschließend, »sind die schockierenden Arrangements aus tierischen und menschlichen Körperteilen durch mittelalterliche Gemälde inspiriert worden, auf denen moralische Verworfenheit angeprangert wird. Manches deutet darauf hin, dass sowohl der getötete Täter Z. als auch die Beschuldigte H. als Borderline-Existenzen gesehen werden müssen, Personen also, deren Verhältnis zu sich selbst und zu ihrer Umwelt zutiefst neurotisch ist. Ihr Seelenleben ist von abstrakten Hassvorstellungen gegen fast alle Facetten unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens geprägt. Bei Z. müssen wir aus den Befragungen seines Umfeldes schließen, dass seine krankhafte Gemütsstörung auch im Zusammenhang mit der als traumatisch empfundenen Wiedervereinigung steht. Die Tatverdächtige H. hingegen lebt seit ihrer frühen Jugend in einem staats- und gesellschaftsfeindlichen Milieu, in dem eine an Paranoia grenzende Weltsicht gepflegt wird. Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen.«