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Nach dem fehlgeschlagenen Versuch, Erics Festplatte zu knacken, hatte Elin die Einkäufe der alten Frau in der Birkenstraße erledigt und sich dann auf den Weg nach Kreuzberg gemacht. Es schneite nicht mehr. Aber sie musste vorsichtig fahren und brauchte fast eine dreiviertel Stunde. Als sie in die Adalbertstraße einbog, war es bereits dunkel. Der Verkehr hatte den Schnee auf der Straße zu einem braunen Brei zerquirlt. Wenn dieser Matsch demnächst gefrieren würde, könnte sie das Fahrrad gleich stehen lassen, dachte sie skeptisch und verbrachte dann einige Minuten damit, einen freien Laternenpfahl zu suchen, um ihr Rad daran anzuschließen.

Cemal stand hinter dem Tresen und schaute fern, als sie den Dönerladen betrat. Er hatte sichtlich keinen Grund, etwas anderes zu tun, denn der Laden war völlig leer. Es war wohl nicht die richtige Tageszeit für die Berge von frisch geschnittenem Salat, für Tomaten, Zwiebelringe, gehackte Petersilie und Knoblauchsauce. Der Dönerspieß, der sich vor einem rotglühenden Heizstrahler im Hintergrund drehte und krachend Fettspritzer verschoss, war ebenso jungfräulich wie die Kiste Fladenbrot, die daneben auf der Arbeitsplatte stand.

»Ey, Elin«, rief Cemal, als er sie erkannte. Er kam um den Tresen herum auf sie zu. »Was für ein Wetter. Wie geht’s dir?«

Sie ließ sich umarmen. »Du bist mein erster Kunde nach der Mittagspause«, sagte er freudig. »Was willst du essen?«

Er ließ die Arme über seiner Auslage kreisen.

Elin schüttelte den Kopf. »Nichts, danke, aber ich trinke gerne einen Pfefferminztee, falls du welchen hast.«

»Klar.«

Er schob eine Tasse Wasser in die Mikrowelle und öffnete drei Schubladen, bis er irgendwo einen Teebeutel fand. Elin hatte eigentlich auf frische Pfefferminze gehofft. War das in türkischen Gaststätten nicht Standard? Aber Cemals Dönerbude war ziemlich neu. Vielleicht war es deshalb so leer hier. Konkurrenzdruck. Cemal hätte besser auf Eric gehört und mit ihm einen Telefonladen anstatt einer Dönerbude aufgemacht, von denen es in Berlin ohnehin schon wimmelte. So hatte ihr das Eric jedenfalls bei seinem letzten Besuch in Hamburg erklärt. Internettelefonläden schössen zwar auch wie Pilze aus dem Boden, aber der Markt sei vielversprechend neu und unübersichtlich. Kein Mensch hätte einen Durchblick bei den ständig sich ändernden Telefontarifen. Doch der letzte Penner wisse, dass ein Döner höchstens zwei oder drei Euro kosten durfte. Außerdem gäbe es zu viele Ausweichprodukte. Zweimal Fritten mache einmal Döner, so etwa laufe die Gleichung. Und irgendwo dazwischen Currywurst. Und dass die Sache ohne Cemal nicht funktionieren würde, weil Türken eben nur bei Türken kauften. Imbiss sei hoffnungslos. Aber Ferngespräche übers Internet, das sei interessant. Und Cemal hätte sich ja um gar nichts Technisches kümmern brauchen, nur vorne sitzen und auf Knöpfe drücken. Anstatt Dönerspieße zu rasieren.

Aber Cemal hatte sich das nicht zugetraut. Und deshalb stand er jetzt hier. Und Eric? Elin schloss kurz die Augen und wartete, bis der Stich in ihrem Magen nachgelassen hatte. Immerhin wollte er ihr helfen. Aus schlechtem Gewissen? Aus levantinischem Freundschaftsethos? Oder wohl eher, weil er dachte, dass sie schleunigst nach Hamburg zurückkehren und die ganze Sache ruhen lassen sollte?

Cemal stellte ein kleines Tablett mit der Tasse Tee vor sie hin, blieb einen Augenblick unschlüssig stehen und setzte sich dann ebenfalls.

»Wie läuft es denn so?«, fragte sie und nippte an der Tasse.

»Schlecht. Aber so ist das immer am Anfang.«

»Ist Nuran nicht hier?«

»Sie kommt erst abends, wenn Yesmin im Bett ist. Dann ist hier mehr los. Das bisschen bis dahin schaffe ich alleine.«

Elin trank schweigend ihren Tee. Gut, dass Cemals Frau nicht hier war. Sie war ihr letzte Woche das erste Mal begegnet, und es hatte nur wenige Minuten gedauert, bis klar war, dass Nuran nichts mit ihr zu tun haben wollte. Elin hatte die kleine Yesmin auf den Arm genommen. Das Kind hatte neugierig ihr Bindi berührt. Nuran war herbeigeeilt, hatte das Kind sofort zu sich genommen und aus dem Zimmer gebracht.

»Ich habe diesen Bullen noch immer nicht sprechen können«, sagte Elin. »Er hat mich versetzt.«

»Die mögen das nicht, wenn man sie so nennt. Vielleicht liegt’s daran?«

»Wie soll ich sie sonst nennen?«

»Na vielleicht … dein Freund und Helfer?«

Elin richtete sich auf, lehnte sich ein wenig zurück und musterte Cemal. Sein Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Das Spöttische darin war einer leichten Verlegenheit gewichen.

»Ist doch nur so eine deutsche Redensart. Ich meine … vielleicht sehen wir ja Gespenster. Kann doch sein, oder?«

Elin schob ihre Teetasse von sich weg. Es war natürlich Nuran, die da sprach. Nuran, die auf jede Frau eifersüchtig war, die auch nur in die Nähe von Cemal kam. Nuran, die nicht wollte, dass ihr Mann mit der Schwester eines Geschäftspartners redete, der sich angeblich erhängt hatte. Eines Geschäftspartners, der nicht einmal Türke war.

»Ich erwarte nicht von dir, dass du mir irgendetwas glaubst«, sagte Elin. »Ich bitte dich nur um einen Gefallen, Eric zuliebe. Das ist alles.«

»Ja, schon, ich weiß«, sagte Cemal. »Aber Tatsache ist, dass du Dinge tust, die nicht erlaubt sind.«

»Ach ja, was denn?«

»Die Polizei hat doch alles genau untersucht. Und wenn die Polizei sagt, dass Eric sich das Leben genommen hat, und du nun hingehst und sagst, das sei nicht wahr, dann ist das … dann ist das …«

»Was ist das? Widerstand gegen die Staatsgewalt?«

»Nein. Aber du missachtest die Behörden.«

»Was für eine geisteskranke Logik ist das denn. Machen Behörden vielleicht keine Fehler?«

»Doch. Schon. Aber dann ist es Sache einer anderen Behörde, das zu überprüfen. Es kann doch nicht jeder Bürger einfach losziehen und irgendwelche Vorfälle untersuchen, von denen er glaubt, dass etwas mit ihnen nicht stimmt.«

»Sagt Nuran.«

»Meinetwegen. Sagt auch Nuran. Aber ich sage es auch. Vielleicht sollten wir das alles einfach lieber sein lassen.«

»Was alles? Dass dein Freund Eric sich wochenlang vor irgendwelchen Leuten unter anderem bei dir versteckt hat? Dass er Todesangst hatte, dass ihn jemand umbringen wollte? Dass er bis kurz vor seinem Tod ein fröhlicher und lebenslustiger Mensch war, und sich plötzlich ohne ersichtlichen Grund in einem Waldstück erhängt, an einem Ort, wo man ohne ein Fahrzeug kaum hingelangen kann, nachts, ohne …«

Cemal hob abwehrend die Hand.

»Ich weiß, ich weiß. Das hast du mir ja alles schon erzählt. Und es stimmt ja, dass es merkwürdig aussieht. Merkwürdig für uns. Aber offenbar nicht für die Polizei. Elin, die bearbeiten jedes Jahr Hunderte solcher Fälle. Wenn es den geringsten Verdacht gäbe, dass Eric sich nicht das Leben genommen hat, dann hätte die Polizei das doch herausgefunden. Und dann hätten sie versucht …«

»… hat auch nur ein Polizist mit dir geredet, Cemal?«

»Nein.«

»Ach. Und das findest du nicht merkwürdig? Du warst einer der Letzten, die ihn lebend gesehen haben. Du hattest sogar eines seiner drei Handys, auf dem er bis eine Woche vor seinem Tod jede Menge Gespräche geführt hat. Warum interessiert sich die Polizei nicht dafür? Wo sind seine Ausweispapiere? Seine Brieftasche? Hat er das alles vernichtet, bevor er sich aufgehängt hat? Warum? Wozu?«

Cemal schaute irritiert vor sich auf den Tisch. Elins blasses Gesicht hatte sich ein wenig gerötet. Ihre Augen glänzten. Jetzt sah sie Eric ähnlich. Ja, im Grunde sah sie fast wie ein Mann aus mit ihren kurzen blonden Haaren. Wie ein sehr schöner Mann. Wie Eric.

»Komm«, sagte er und stand auf. »Ich habe ja alles besorgt. Schau.«

Er ging zu einer Tür an der Rückwand des Gastraumes, öffnete sie und schlug mehrmals mit der flachen Hand auf eine Stelle an der Wand, bis das Licht endlich anging. Elin saß noch immer unbeweglich auf ihrem Platz. Er winkte sie mehrmals zu sich. Schließlich erhob sie sich, stieg die beiden Stufen zu ihm hinauf und trat neben ihn in den Hausflur. Zwei große Plastiktaschen standen dort neben dem Treppenabsatz. Seilenden und Karabinerhaken schauten daraus hervor.

»Es ist alles da«, sagte er. »Fehlt nur die Leiter. Aber die bekomme ich morgen früh.«

»Super«, sagte Elin. »Danke, Cemal. Aber morgen wird es nichts. Nächste Woche.«

Elin kniete sich hin, holte eines der Seile heraus und fädelte es probehalber durch einen der Karabinerhaken des Klettergeschirrs, das unter dem Seil in der Tasche lag. Es ließ sich geschmeidig durch die Öse ziehen.

»Hast du am Montag Zeit?«, fragte sie.

Cemal schüttelte den Kopf. »Nein. Geht nicht. Wenn morgen früh ausfällt, geht erst wieder Dienstag.«

»Okay«, sagte sie. »Dann bleibt es doch bei morgen. Ich kann nicht ewig auf diesen Bullen warten. Du weißt, wo?«

»Ja. Schulzendorfer Straße. Am Waldparkplatz. Wann?«

»Um elf? Ist das in Ordnung?«

»Ja. Sicher. Soll ich dich abholen?«

Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte keine Lust, ihm jetzt auch noch zu erklären, warum sie grundsätzlich nicht Auto fuhr. Deshalb sagte sie nur: »Ich werde schon früher da sein. Ich warte auf dich.« Dann stopfte sie das Seil in die Tasche zurück.

»Willst du nicht doch etwas essen?«, fragte Cemal, als sie wieder in der Imbissstube waren. »Komm. Ich mach dir einen schönen Döner.«

Er meint es ja nur gut, dachte sie bei sich. Aber wie konnte er diesen aus zermanschten Drüsen und Knorpel zusammengebackenen, vor Fett triefenden Fleischbatzen nur ernsthaft als Essen bezeichnen? Sie griff in die Auslage und schnappte sich zwei rohe Möhren.

»Danke, Cemal«, sagte sie und gab ihm ein Küsschen auf die Wange. »Bis morgen. Und denk an die Leiter.« Dann verließ sie den Laden.