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Soll das heißen, wir kennen drei mögliche Augenzeugen und dürfen sie nicht befragen? Das kann doch nicht wahr sein.«

»Ist aber so, Thomas. Jedenfalls vorerst nicht. Udo. Was hat sich bei dir ergeben?«

»Nicht viel. Nur eine Sache ist auffällig, kann aber Zufall sein.«

»Und die wäre?«, fragte Zollanger.

»Der Plattenbau und das Trieb-Werk gehören dem gleichen Besitzer. Einer gewissen Berlin Investment Group oder BIG. Sitzt am Ku’damm.«

»Und was hilft uns das?«, brummte Krawczik.

»Suchen wir ein Muster oder nicht?«

»Wie viele Gebäude hat denn diese BIG in der Stadt«, wollte Zollanger wissen.

»Ein paar Dutzend sind es schon«, räumte Brenner ein.

»Da hast du dein Muster«, meinte Krawczik.

»Sina. Was ist mit der Ziege und dem Lamm? Irgendwelche Fortschritte?«

»Nein. Leichenzerstückelung ist relativ konstant, etwa acht Fälle pro Jahr. Gewalt gegen Tiere auch. Aber die Kombination ist einmalig. Gab es in dieser Form noch nicht.«

»Was ist mit den Psychiatrien. Irrenanstalten. Hast du das bearbeitet, Thomas?«

Er nickte. »Abgehauen ist in den letzten Wochen niemand. Ein paar Entlassungen, aber nichts von dem Kaliber, das für unsere Sache in Frage kommt.«

»Also fassen wir zusammen: Wir haben keine verwertbaren Spuren, keine Zeugen, jedenfalls keine, die wir befragen können, und keinen Hinweis auf ein Motiv. Das Opfer ist nicht identifiziert. Meine Damen und Herren, was schlagen Sie vor?«

Einen Augenblick lang herrschte Stille im Besprechungsraum. Es war Sina, die sich zuerst meldete.

»Vielleicht sollten wir uns einfach die Tatorte noch einmal vornehmen. Ich für meinen Teil würde mir gerne einmal anschauen, was sich in diesem Trieb-Werk abspielt.«

»So?«, entfuhr es Brenner. »Und wie?«

»Ganz einfach: Wir gehen heute Nacht hin.«

»Wir?«, wandte Krawczik ein. »Wir alle?«

»Na ja, wir teilen uns auf. Ein paar von uns observieren den Plattenbau. Vielleicht erwischen wir ja einen dieser Penner, die plötzlich wie vom Erdboden verschluckt sind. Und die anderen gehen ins Trieb-Werk. Ich würde schon gern verstehen, warum jemand ausgerechnet dort ein Lamm mit einem Arm im Gedärm abgelegt hat. So willkürlich kann der Ort nicht gewählt worden sein. Dafür ist er zu schwer zu erreichen und zu riskant.«

Einen Augenblick lang herrschte ratloses Schweigen. Udo kaute auf einem Kugelschreiber. Thomas schüttelte skeptisch den Kopf. Zollanger ließ seinen Blick von einem zum anderen wandern.

»Wie kommst du auf diese Idee, Sina?«

Sie atmete tief durch, bevor sie sprach. »Keine unserer bisherigen Hypothesen scheint mir schlüssig. Ist die Frau hingerichtet worden? Wegen irgendeiner Verwicklung ins organisierte Verbrechen? Frauenhandel etwa? Wenn wir nur den Torso in Lichtenberg gefunden hätten, fände ich so eine Annahme plausibel. Aber der zweite Fund spricht dagegen. Diese Richtung führt nicht weiter. Das Ganze wirkt zu … zu symbolisch. Für ein Sexualdelikt spricht auch wenig. Ich bleibe bei meiner Arbeitshypothese. Wir haben es mit irgendeiner Art Kunst zu tun. Mit kranker Kunst. Wer immer diese Taten begangen hat, hat ein Mitteilungsbedürfnis. Eine Ausdrucksnot. Ich denke, wir sollten versuchen, diese Sprache zu verstehen.«

Udo und Thomas schauten sich skeptisch an. Zollanger überflog die vor ihm ausgebreiteten Unterlagen. Das Ergebnis von vier Tagen Ermittlungsarbeit. Resultat so gut wie null.

»Wenn ihr mich fragt, dann sollten wir LKA 21 mehr unter Druck setzen«, entfuhr es Thomas. »Dieser Ecstasypanscher hat sicher etwas gesehen. Warum lassen die den nicht gleich hochgehen. Ist es zu fassen, man kann die blauen Fässer von der Straße aus im Hof stehen sehen …«

»Bist du etwa dort gewesen?«, fragte Zollanger

»Na sicher«, erwiderte Krawczik trotzig. »Unauffällig natürlich. Es ist ja wohl nicht verboten, am helllichten Tag operierende Dealer zu beobachten.«

»Doch, in diesem Fall schon.«

»Ich habe den Burschen ja nicht hochgenommen. Aber nachschauen darf man ja wohl noch. Hey, was ist eigentlich wichtiger? Einen Dealer zu schnappen oder einen Killer? Der Dealer ist morgen ausgetauscht. Wenn die Kids in den Clubs sich mit diesem Zeug das Hirn plattmachen wollen, können wir es sowieso nicht verhindern. Die schnüffeln zur Not das Kloputzmittel auch pur, um sich die Kante zu geben …«

»Könnten wir bitte beim Thema bleiben …«

Tanja Wilkes betrat plötzlich den Raum.

»Ich habe eine Meldung aus Cottbus«, sagte sie. »Wegen einer Ziege. Es heißt, es sei eilig. Kann das sein?«

Zollanger nahm ihr das Fax aus der Hand. Niemand sagte etwas, während er las.

»Sieht so aus, als hätten wir immerhin etwas«, sagte er, nachdem er fertiggelesen hatte. »Ein Züchter in Jerischke hat vor zehn Tagen den Diebstahl einer Ziege gemeldet. Genaue Bezeichnung: Witzenhäuser Landschaftspflegeziege. Freut uns das nicht? Wer fährt hin? Harald und Günther. Ich schlage vor, ihr macht das.«

»Wo bitte liegt Jerischke?«, fragte Günther Brodt.

»Jerischke. Kreis Cottbus. Hier ist das Fax. Ruft die Kollegen an. Sie sollen euch in Cottbus treffen und dann hinbringen.«

»Und was genau sollen wir dort herausfinden?«, wollte Findeisen wissen.

»Alles, was ihr könnt. Vor allem: ob die Ziege von dort stammt. Der Ort liegt vierzig Kilometer hinter Cottbus, kurz vor der polnischen Grenze. Befragt den Züchter nach allem, was uns interessieren könnte. Wann das Tier verschwunden ist. Wie. Ob er irgendetwas beobachtet hat. Sucht nach Spuren, die mit Lichtenberg in Verbindung stehen könnten. Quetscht den Bauern aus. Und dann schaut euch die Gegend an. Redet mit den Kollegen in Cottbus, was da unten so los ist. Wenn die Ziege von dort stammt, dann will ich alles über diese Gegend wissen. Vielleicht sitzt der Täter dort unten? Und wenn nicht, warum hat er sich dort herumgetrieben? Los. Ihr könntet schon dort sein.«

Findeisen und Brodt verließen den Raum. Die anderen wechselten Blicke, sagten jedoch nichts. Nur Brenner wagte einen Einwand.

»Ist das nicht ein wenig übertrieben, Chef? Ich meine, können wir die Kollegen dort nicht bitten, das für uns zu machen? Jetzt sind zwei Leute weg.«

»Und wie soll ich den Kollegen in Cottbus erklären, wonach sie suchen sollen? Wir sind einen Tag lang zu fünft, das wird auch reichen. Andere Spuren haben wir ja gerade nicht. Jetzt zu heute Abend. Ich habe beschlossen, dass Sinas Idee nicht schlecht ist. Also, wer kommt mit?«

Brenner, Krawczik und Draeger verstanden nicht.

»Wohin?«, fragte Krawczik.

»In dieses Trieb-Werk. Scheint nicht nach deinem Geschmack zu sein, Thomas?«

»Darauf kannst du wetten«, sagte er. »Keine zehn Pferde bringen mich in diesen Tuntenclub.«

»Okay. Wir teilen uns auf. Du und Roland, ihr observiert heute Nacht den Plattenbau. Ich will, dass ihr jeden Penner befragt, der dort aufkreuzt. Sina, Udo und ich besuchen das Trieb-Werk und schauen uns mal an, was dort geschieht.«

»Wie soll Sina denn dort hineinkommen?«, erkundigte sich Krawczik.

»Wenn man dort tote Lämmer hineinschmuggeln kann, wird es auch einen Weg geben, eine lebendige Frau einzuschleusen«, erwiderte Sina. »Außerdem ist heute gemischter Abend.«

»Woher weißt du das denn?«, fragte Udo.

»Ich habe mir die Webseite angeschaut.«

»Die Idee ist doch schwachsinnig«, wiederholte Thomas.

Zollanger schaute in die Runde. »Hat jemand eine bessere Idee, wie wir weiterkommen sollen?«

Das war offenbar nicht der Fall.

»Ich rufe diesen Naeve an«, schloss Sina die Diskussion ab. »Er soll sich darum kümmern, dass wir am Eingang keine Probleme haben.«