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Warum wollte Frieser unbedingt die Haarprobe? Hast du dafür eine Erklärung?«, fragte Sina.

»Nein, du?«

Sie schaute Zollanger von der Seite an. Dann versank sie in Grübeleien. Die Bilder der letzten Nacht spukten ihr im Kopf herum. Sie hatten noch gar keine Zeit gehabt, sich darüber auszutauschen. Hatte der Besuch in diesem Trieb-Werk sie irgendwie weitergebracht? Wie mochte das Treiben dort auf Zollanger gewirkt haben? War er davon geschockt? Wie wirkte so etwas auf jemanden aus seiner Generation? Sie selbst war wenig überrascht gewesen von dem, was sie dort gesehen hatte. Aber sie hatte den Vorteil, dass sie mit einem Psychologen verheiratet war, der auch einmal mit dem Gedanken geliebäugelt hatte, als Sexualtherapeut zu arbeiten. Hendrik hatte ihr mehrfach geschildert, was sich heutzutage in solchen Clubs abspielte. Das Thema hatte ihn schnell angeödet, und er war bald darauf auf Kinderpsychologie umgestiegen. So war der gestrige Abend für sie nur insofern erhellend gewesen, als sie ihren Mann nun besser verstand.

Aber wie stand es mit dem Torso-Mörder? Waren sie ihm durch den Besuch näher gekommen? Sie wollte es nicht zugeben, aber der heutige Fund hatte sie ziemlich verunsichert. Wer immer diese Objekte deponierte, schien einen klaren Plan zu haben, was Zeit, Ort und Art der Taten betraf. Und für keinen dieser drei Parameter hatte sie auch nur den Ansatz einer Erklärung. Die zeitlichen Abstände sagten wenig aus. Die Orte wiesen keinerlei Gemeinsamkeit auf. Willkürlich waren sie jedoch offenbar nicht, denn es war riskant, die Torsi dort zu deponieren. Tatrisiken bargen immer Ansätze für ein Motiv. Doch was war mit den Objekten selbst? Wer sollten diese Wesen sein? War es der Gedanke an Hendrik, der sie jetzt darauf brachte, dass es Märchenfiguren sein konnten, Monster, wie Kinder sie sich in Alpträumen zusammenphantasierten? Ja, bei allem Grauen sprach etwas Simples, Ursprüngliches aus diesen Arrangements. War das eine Richtung, in die sich weiterzudenken lohnte? Oder ging sie viel zu analytisch vor, wie Udo ihr immer vorhielt? Verlor sie die Banalität des Verbrechens aus dem Auge, das Primitive, Einfache, Kurzschlussartige des Bösen, das oft gar keine wirkliche Tiefe oder Komplexität hatte?

Zollanger bremste scharf und riss sie aus ihren Gedanken. Die Straße war plötzlich verstopft. Berufsverkehr. Er wartete einige Sekunden, dann kurbelte er kurz entschlossen die Scheibe herunter, klemmte das Blaulicht auf das Dach und ließ die Sirene zweimal aufheulen. Der zähflüssige Blechbrei vor ihnen geriet langsam in Bewegung, und eine schmale Gasse öffnete sich. Zollanger brauste durch.

»Ich bin hundemüde«, sagte Zollanger, wie um sein Verhalten zu entschuldigen. »Komm, wir gehen erstmal frühstücken.«

Kurz bevor sie die Keithstraße erreichten, schaltete er das Blaulicht wieder aus.

Sie gingen in ein Café in der Ansbacher Straße. Recht schnell erschienen zwei dampfende Milchkaffeeschalen und ein Körbchen mit lauwarmen Croissants vor ihnen auf dem Tisch. Umso länger dauerte Zollangers Rührei, auf das er schon fast keinen Appetit mehr hatte, als es endlich kam.

Sina biss ein Stück Croissant ab und spülte es mit Kaffee hinunter. Zollanger hatte sein Hörnchen nur kurz eingetunkt und dann desinteressiert auf seiner Untertasse abgelegt.

»Keinen Hunger?«, fragte sie.

»Nein. Nicht wirklich.«

»Schon länger?«

Er lächelte.

»Du klingst wie der Amtsarzt.«

Ja, dachte sie jetzt. Der sollte dich auch einmal untersuchen. Denn du siehst müde aus. Müde und alt. Sie war versucht, ihm zu empfehlen, bald mal wieder einen Italienurlaub zu machen. Die zwei Wochen Toskana im Frühjahr hatten ihm so gutgetan. Er war ganz verändert zurückgekehrt. Aber … warum machte sie sich überhaupt Sorgen um ihn? Er war ihr Chef. Sonst nichts.

»Also, wo stehen wir, Martin?«, sagte sie rasch, um das Thema zu wechseln. »Wie machen wir weiter?«

»Wir warten, bis die Videomitschnitte ausgewertet sind«, erwiderte er. »Vermutlich haben wir ein Foto des Täters. Vielleicht bringen Harald und Günther verwertbare Informationen aus Cottbus mit. In ein oder zwei Tagen haben wir den Kerl.«

»Wann kriegen wir die Fotos?«

»Ich denke, bis morgen früh. Oder schon heute Nachmittag, wenn Frieser Druck macht.«

»Womit sich weitere Spekulationen erst einmal erübrigen.«

Zollanger nickte. »Ich hoffe.«

»Und unser Ausflug letzte Nacht war überflüssig.«

»Ja«, seufzte Zollanger. »Das hätte ich uns wirklich gern erspart. Obwohl … dein Anblick war es durchaus wert.«

»Danke«, sagte sie und versuchte, kühl zu bleiben. Aber Zollangers Blick ließ sie nun doch ein wenig erröten. Sie lächelte unsicher.

»Woher hattest du den Lederkram?«, fragte er spitz.

»Ach, das waren ganz normale Sachen in ungewöhnlicher Kombination. Hendrik hat mir mal erzählt, wie das geht.«

»Hendrik. Sag bloß. Seid ihr … ich meine, habt ihr …?«

»Nein, nein. Er hat früher beruflich mal mit Sexkram zu tun gehabt, hatte aber ziemlich schnell die Schnauze voll davon. Mir ging es übrigens gestern ähnlich. Dir nicht?«

»Wie meinst du das?«

Sina wusste gar nicht, wie ihr geschah. Sie wollte mit Zollanger nicht über diese Dinge reden. Und zugleich wollte sie es doch.

»Erst ist man ein wenig erregt«, sagte sie unsicher. »Schockiert und erregt, meine ich. Aber dann kommt man sich vor wie bei Stromausfall bei ALDI an der Kasse. Nur dass eben alle halbnackt sind.«

»Mich hat etwas ganz anderes überrascht«, sagte Zollanger.

»Und zwar?«

»Die Entspanntheit. Ich habe selten so viele Männer auf einem Haufen gesehen und gleichzeitig so wenig Aggression gespürt. Ich meine, die Aufmachung der Typen war zum Teil furchterregend, aber es war im Grunde kein Vergleich zu anderen Männerversammlungen.«

Sinas linke Braue fuhr skeptisch nach oben.

»Wie meinst du das?«

»Na ja, was man eben sonst mit Männern erlebt. Im Fußballstadion oder in einer Diskothek. Es gibt da immer eine unterschwellige Aggression, einen Triebstau wahrscheinlich, der sich nicht entladen kann. In diesem Trieb-Werk war das nicht der Fall.«

»Vielleicht, weil die Entladung garantiert ist«, sagte Sina. »Einfach rein in irgendeinen Tunnel, und los geht’s.«

»Ja«, stellte Zollanger fest. »Es gab jedenfalls keinen Mangel an Freiwilligen.«

Eine kurze Pause entstand. Sinas Herz klopfte. Sie wollte weg von diesem Thema. Es hatte nichts mit dem Fall zu tun. Aber zugleich spürte sie, dass sie wissen wollte, wie Zollanger diesen Abend erlebt hatte. Ja, sie hätte gern so einiges über ihn gewusst. Warum er zum Beispiel keine Freundin oder Frau hatte? Oder gab es jemanden? Und seine Familie? Sie hatte ihm sehr viel von sich erzählt. Und er? Irgendwo gab es einen Bruder, mit dem er aber keinen Kontakt pflegte. Und sonst? Seine Ex-Frau hatte wieder geheiratet. Sahen sie sich manchmal noch? Warum interessierte sie das? Vielleicht war das der Unterschied zwischen Männern und Frauen. Triebstau? Merkwürdiges Wort für erotische Spannung.

Zollanger schaute ratlos vor sich hin. Er trank einen Schluck. Dann sagte er: »Je älter ich werde, desto schwerer fällt es mir, überhaupt irgendwas zu beurteilen. Mein Verstand sagt mir, dass der Mensch seine Triebe ausleben muss, damit sie ihn nicht zugrunde richten. Aber mein Gefühl sagt etwas anderes.«

»Und was sagt dein Gefühl?«

»Das Gegenteil. Dass uns das überfordert. Dass uns die Bilder, die solche Grenzerfahrungen in uns zurücklassen, dauerhaft beschädigen. Es wird ja fast nur mit Grenzerfahrungen experimentiert, bei denen einem schwindelig wird, selten mit solchen, die innerlich festigen. Entgrenzung ist willkommen, Begrenzung suspekt.«

»Du meinst, wenn die gleichen Leute, die sich im Trieb-Werk besinnungslos vögeln, zu einem anderen Zeitpunkt vorübergehend eine unbeheizte Klosterzelle beziehen würden, wäre die Welt in Ordnung?«

»Wie kommst du denn auf diesen Vergleich?«, fragte Zollanger verblüfft.

»Wegen der Verkleidung.« Sina nahm sich noch ein Croissant. »Vielleicht ist unser Torso-Täter ein Kulturpessimist, der uns die Verkommenheit der Welt zeigen will.«

»Die Verkommenheit von Plattenbauten?«, fragte Zollanger. Seine Überraschung war wieder verflogen.

»Immerhin eine Abrissplatte, wo Designerdrogen gedealt werden«, konterte Sina. »Vielleicht irgend so ein Fundamentalist. Oder einer, der die Schnauze voll hat von spätkapitalistischer Dekadenz.«

»Du meinst, so jemand wie ich?«, fragte er spöttisch.

Sina rührte verlegen in ihrer Kaffeetasse. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie unwillkürlich ein Reizthema angesprochen hatte, das vor vielen Monaten zu einem heftigen Streit zwischen ihnen geführt hatte. Es hing mit Zollangers Ausraster zusammen, mit den beiden Teilen in ihm, die zusammengehörten, aber offenbar nicht zusammenwachsen wollten. Sina mochte Martin. Sie bedauerte es schon jetzt, wenn er morgens nicht mehr im Büro auftauchen würde. Aber trotz vieler Gemeinsamkeiten hatten sie, was das Ende der DDR betraf, doch sehr unterschiedliche Auffassungen.

»Deine Idee ist gar nicht so übel«, sagte Zollanger in leicht provokantem Tonfall. »Warum nicht gleich die Taliban?«

Sie mied seinen Blick.

»Lass sein, Martin. Es tut mir leid. So habe ich das nicht gemeint.«

»Hey«, sagte er. »Wir alten Ossis werden uns doch nicht immer wieder über den Kapitalismus in die Haare kriegen.«

»Doch. Das werden wir«, entgegnete sie. »Weil du noch immer glaubst, dass der Sozialismus zu einer besseren Gesellschaft geführt hätte, in der das Verbrechen allmählich von selbst verschwunden wäre.«

»Jedenfalls gab es jede Menge von Verbrechen bei uns nicht«, erwiderte Zollanger reflexartig.

»Sicher. Weil die Gelegenheiten dafür begrenzt waren. Wir waren ja alle schon im Gefängnis. Womit du dich früher herumgeschlagen hast, war letztlich Knastkriminalität. Die wahre Bestie Mensch kam doch bei uns in der freien Natur gar nicht vor, es sei denn bei den Staatsdienern. Aber selbst die waren im Käfig.«

»Da hast du recht«, pflichtete Zollanger ihr bei. »Hier hingegen laufen diese Exemplare massenhaft frei herum. Sogar die Verurteilten lässt man ziemlich schnell wieder frei. Ein Freilandexperiment.«

Sina verzog das Gesicht. Die Richtung, die das Gespräch eingeschlagen hatte, passte ihr nicht. Daher sagte sie jetzt: »Unser Torso-Mörder will uns also die Fäulnis und Dekadenz der Welt vor Augen führen? Ihre Verkommenheit und Vertiertheit?«

»Möglich«, antwortete Zollanger.

»Er hat Probleme mit diesen Erscheinungen«, spekulierte sie weiter. »Es geht ihn eigentlich einen Scheißdreck an, wer sich zudröhnt. Was kümmert es ihn, wer wann wem was wo und wie hineinsteckt? Aber er sieht das nicht so.«

Woher kamen diese Worte?, fragte sie sich erschrocken. Was redete sie da nur? Aber Zollanger schien ihre krasse Wortwahl gar nicht bemerkt zu haben.

»Nein«, entgegnete er. »Für ihn hängt das alles zusammen. Er glaubt nicht, dass man nach Mitternacht Mr. Hyde spielen und am nächsten Morgen wieder Dr. Jekyll werden kann.«

»Das heißt, das Private ist für ihn gesellschaftlich. Und umgekehrt.«

»Eben. Ein unverbesserlicher Ossi, der auf Maßhalten und Anstand pocht. Wer shoppen und ficken sagt, der muss auch Kinderporno und Frauenhandel sagen.«

Sina atmete tief durch. Doch bevor sie etwas erwidern konnte, klingelte Zollangers Handy. Sina schaute ihn fragend an. Zollanger starrte auf den kleinen Bildschirm.

»Findeisen«, sagte er. Dann drückte er auf die Antworttaste. »Hier Martin. Was ist? Wo seid ihr?«

Zollanger stand plötzlich auf.

»Seid ihr sicher?«

Sina erhob sich sofort, ging zum Tresen und bezahlte. Als sie zurückkam, stand Zollanger nachdenklich am Tisch.

»Was ist?«, fragte sie.

»Wir sind offenbar ein Stück weiter.«

»Und? Al-Quaida?«

»Nein. Frauenhandel. Die haben eine Spur. In Cottbus.«