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Desmond Naeve hatte sie eine halbe Stunde vor Mitternacht an einem Nebeneingang abholen und in sein Büro bringen lassen. So blieb ihnen die Warterei auf der Sandpiste vor dem Gebäude erspart. Nach der Länge der Schlange zu schließen, hätten sie mindestens eine Stunde in der Kälte gestanden und sich mit Sicherheit einen gehörigen Schnupfen geholt.

»Das ist ja hier wie früher am Grenzübergang Friedrichstraße«, bemerkte Udo Brenner kopfschüttelnd, während sie an den Wartenden vorbei auf den VIP-Eingang zumarschierten.

Desmond Naeve empfing sie persönlich in seinem Büro. Das Wummern der Bässe drang bis hierher. Der Engländer erklärte ihnen kurz, welche Partys heute Nacht im Gange waren.

»Und hier hinten können Sie sich umziehen«, sagte er zum Abschluss.

»Umziehen?«, wunderte sich Zollanger.

»Ja klar. Oder wollen Sie vielleicht so dort hinein? Das wäre ziemlich auffällig.«

Naeve öffnete einen Schrank. »Hier, bedienen Sie sich.«

»Ich habe was dabei«, sagte Sina und verschwand im Nebenraum. Zollanger und Brenner schauten sich überrascht an. Naeve bemerkte ihre Unsicherheit.

»Am besten nehmen Sie Militärhosen, ein schwarzes Unterhemd und vielleicht ein Lederhalsband. Da unten sind Henkersmasken, aber die sind ziemlich warm. Außerdem sieht man schlecht. Springerstiefel stehen hier drüben.«

Sina sah fabelhaft aus, als sie wieder zum Vorschein kam. Wie eine Edelpunknutte. Sie trug hochhackige Stiefel, schwarze Strümpfe, einen hautengen schwarzen Minirock und ein hochgeschlossenes schwarzes Netztop. Sie hatte sich etwa zwei Pfund Lidschatten um die Augen geschmiert und grinste.

»Na, ihr seht ja direkt mal ganz sexy aus«, sagte sie, als sie Brenner und Zollanger erblickte. Brenner rollte mit den Augen. Dabei stand ihm das schulterfreie T-Shirt ziemlich gut.

»Ich wusste gar nicht, dass du so viel in die Muckibude gehst«, spottete Zollanger ein wenig neidisch.

»Gartenarbeit«, sagte Brenner. »Würde dir auch nicht schaden. Bisschen frische Luft dann und wann.«

Zollanger fühlte sich an seine Militärzeit bei der NVA erinnert. Da hatte er das letzte Mal diese widerlichen Hosen und Stiefel getragen, in denen man den Sohlenabdruck des Vorgängers noch spürte. Und der moderige, ranzige Geruch. Unvergesslich. Und mit so etwas ging man heutzutage zu Sexpartys. Er lief ein paar Schritte auf und ab und hatte das Gefühl, Ruderboote an den Füßen zu tragen.

»Toll sehen Sie aus«, sagte Naeve zufrieden. »Da werden Sie bestimmt Ihren Spaß haben. Hier entlang, bitte.«

Sie stiegen eine Treppe hinab bis zu einer Stahltür. Kaum geöffnet, hämmerten die Techno-Schallwellen ungehindert auf sie ein. Im Nachhinein wunderte sich Zollanger, wie wenig von dem Höllenlärm zu Naeves Büro durchgedrungen war. Kurz darauf standen sie in der Haupthalle. Aber sie war nicht wiederzuerkennen. Die zueinander versetzten Ebenen waren noch da. Natürlich auch die Treppen, die sie verbanden, und die von der Decke herunterhängenden Stoffbahnen. Aber letztes Mal war es hier hell, ruhig und leer gewesen. Jetzt sah man kaum die Hand vor Augen. Die Musik empfand Zollanger wie Schläge. Bewegen konnte man sich entweder mit der Masse oder nur sehr beschwerlich, indem man sich durch schwitzende Körper drängelte.

Sie schafften es noch, mimisch zu vereinbaren, sich in einer Stunde an der gleichen Stelle wieder zu treffen. Dann wurde ihre kleine Gruppe vom Strom der herumirrenden Club-Besucher aufgerieben.

Zollanger hatte die Treppe nach oben nehmen wollen, wurde jedoch nach unten abgedrängt und fand sich kurz darauf neben der großen Bar im Erdgeschoss wieder. Soweit er sehen konnte, waren nur Männer hier. Er zwängte sich zwischen nackten Oberkörpern hindurch in die Vorhalle und stand plötzlich an der Garderobe. Hier betrat also das normale Volk den Club. Er lehnte sich gegen die Wand und beobachtete den Eingang. Fast alle Besucher hatten Gepäck dabei. Sie passierten die Schleuse und verschwanden in einem Umkleideraum. Manche trugen einfach nur Stiefel oder Turnschuhe und eine Unterhose, wenn sie wieder daraus hervorkamen, andere eine komplette Ledermontur. Dazwischen gab es jegliche Abstufung. Vor allem Lederhosen ohne Gesäßteil schienen recht beliebt zu sein.

Ein Hüne, der direkt neben dem Eingang zur Haupthalle stand, zog Zollanger in den Bann. Der Mann musste fast zwei Meter groß sein. Er trug Springerstiefel, schwarze Boxershorts, die mehr zeigten als verhüllten, und ein eng anliegendes Lederkorsett mit allerlei Ösen. Sein Kopf steckte in einer schwarzen Gasmaske. Der Körper war perfekt. Durchtrainiert. Haarlos. In seinen Strümpfen steckte ein Päckchen Zigaretten. Aber er rauchte nicht. Er stand da, die Arme über der Brust gekreuzt, und schien auf irgendetwas zu warten. Zollanger konnte den Blick nicht von ihm nehmen. Es waren viele bizarre Typen hier, aber dieser stach heraus.

Immer mehr Menschen quollen zum Eingang herein. Frauen hatte Zollanger bisher noch keine ausmachen können. Aber nach Naeves Auskunft kamen die ja über das Tanzwerk herein. Das war die heutige Aufteilung: hier die Böhzen Onkelz, da die Garstigen Tanten.

Der Ort hatte etwas von einem Bergwerk, sinnierte Zollanger. Die Leute, die hierherkamen, legten eine Art Minenkluft an und ließen sich einen Schacht hinabfallen, der nicht in physische, sondern in psychische Sedimente führte, in tiefliegende Schichten sexueller Gier. Merkwürdig war nur, wie unaufgeregt das alles vonstatten ging. Ja, es dauerte eine ganze Weile, bis Zollanger begriff, was ihn am meisten frappierte: Es war die Lockerheit hinter der martialischen Fassade.

Vor ihm auf einer Sitzgruppe, die den Eingangsbereich von der Garderobentheke trennte, saßen zwei Männer in eindeutiger Weise aufeinander und unterhielten sich mit einem eben erst eingetroffenen Dritten, der noch Klamotten aus der Oberwelt trug. Kopulieren und Konversation, dachte Zollanger befremdet. Gleichzeitig. Es wäre ihm im Traum nicht eingefallen, aber so wie es hier geschah, wirkte es auch nicht besonders schockierend. Ja, das war das eigentlich Merkwürdige. Schon nach wenigen Minuten in dieser bizarren Halle machte das alles einen eher banalen Eindruck. Es lag keine Spannung in der Luft. Nur eine gelöste, fast beiläufige Körperlichkeit, die es nicht eilig hatte.

Der Mann mit der Gasmaske erregte wieder Zollangers Aufmerksamkeit. Ein Mann in grünen Militärhosen war vor ihn hingetreten. Zollanger sah seinen nackten Oberkörper nur von hinten. Er war ebenfalls gut trainiert, aber korpulent. Sein Kopf war rasiert, sein Rücken über und über tätowiert. Er trug irgendeine Lederkordel mit sich herum. Im nächsten Moment erkannte Zollanger, dass es eine Hundeleine war. Er hakte sie am Korsett des Gasmaskenmannes fest und führte ihn ab. Herr und Hund steuerten auf die Haupthalle zu.

Zollanger folgte ihnen, blieb aber zurück, als die beiden in einem der Stofftunnel verschwanden. Er zwängte sich durch die Leiber zur Bar, spürte jedoch plötzlich das Vibrieren seines Handys. Es war eine SMS von Sina.

Wo bist du?

 

Haupthalle Bar, textete er zurück

 

Und du?

 

Lab-Oratory. Fundort Torso II. Komm her.

 

O.k.

Er verzichtete auf ein Bier und machte sich auf den Weg. Er spürte die Bässe der dröhnenden Musik wie wuchtige Schläge. Wieder streifte er verschwitzte nackte Oberkörper. Hin und wieder erntete er Blicke, die auffordernd oder interessiert wirkten, aber er erwiderte sie nicht und wurde auch in Ruhe gelassen. Alles ganz entspannt.

Er brauchte fast fünf Minuten, bis er die Haupthalle durchquert hatte und den an die Wand gesprühten Lab-Oratory-Richtungsanzeiger erreicht hatte. Von einem Moment zum anderen schlug die Stimmung um. War es die relative Ruhe, die hier herrschte? Kleine Gruppen von Männern standen beieinander. Zollanger ignorierte so gut er konnte, womit sie beschäftigt waren, und versuchte, den Weg zu der Nische wiederzufinden, in der sie vor ein paar Tagen den Kadaver entdeckt hatten. Aber die Dekoration war verändert worden. Unvermittelt fand er sich in einem Raum wieder, an den er sich nicht erinnern konnte. Es herrschte völlige Dunkelheit. Aber er spürte, dass er nicht allein war. Allmählich passten sich seine Augen an, und er erkannte Schemen. Vereinzelt hörte er Geräusche, ein Schaben, den Klang einer Gürtelschnalle.

Er kehrte um, gelangte auf den Gang hinaus und entdeckte endlich die Nische, die er eigentlich gesucht hatte. Zwei Schritte weiter, und er stieß auf Sina. Sie stand an der Wand und wies ihn mimisch an, weiterzugehen und selbst nachzusehen. Er sah, dass drei Männer in dem Metallhäuschen standen. Sie rauchten und unterhielten sich leise. Zollanger ging auf sie zu. Sie beachteten ihn nicht. Er trat auf das Gitter und schaute nach unten. Zwei Männer lagen dort. Sie waren nackt und eindringlich miteinander beschäftigt. Der nasse Steinboden unter ihnen glänzte. Zollanger atmete flach. Dann machte er kehrt und ging zu Sina zurück. Er nahm sie am Arm und führte sie in den Hauptgang hinaus.

»Warst du schon drüben, bei den garstigen Tanten?«, wollte er wissen.

Sie nickte. »Ja, kurz.«

»Und? Gibt es da wesentlich anderes zu besichtigen als hier?«

»Nein. Frauen eben«, sagte sie. »Ähnliche Verkleidung, aber weniger SM. Insgesamt vielleicht etwas ruhiger.«

»Bilde ich es mir ein, oder kennst du dich mit diesen Partys aus?«

»Nein. Ist mein erstes Mal. Aber man hört ja davon.«

Zollanger zuckte zusammen.

»Was ist?«, fragte Sina.

Er zog sein Handy aus der Tasche und schaute auf das Display.

»Udo«, sagte er und starrte konsterniert auf den kleinen Bildschirm, der in der Dunkelheit blau leuchtete. »Wir sollen sofort kommen. Notruf aus der Zentrale.«

»Was ist denn los?«

»Es sieht so aus, als hätten wir Torso drei.«