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Ulla Zieten hatte ihr Montagsprogramm weitgehend hinter sich gebracht. Sie war spät aufgestanden, hatte im Wintergarten ihres Hauses gefrühstückt und sich über die Morgensonne gefreut, die eine halbe Stunde lang durch die Scheiben fiel, bevor heraufziehende Wolken das schöne Schauspiel beendeten. Ihr Mann war längst im Büro, so hatte sie die geräumige Herrlichkeit der Bankiersvilla für sich. Um halb zwölf lenkte sie ihren Audi TT Richtung Innenstadt, gab den Wagen im Kempinski Hotel zum Waschen, was nicht unbedingt notwendig, aber praktisch war, weil sich auf diese Weise die lästige Parkplatzsuche erledigte. Außerdem hatte sie eine Schwäche für den herben Duft des Lederreinigungsmittels, das dort verwendet wurde.

Ulla Zieten verbrachte eine Stunde bei ihrer Nagelspezialistin, schaute dann bei Caltus und Spranger herein, einem neuen Modegeschäft, über dessen Qualität und Güte sie sich noch keine endgültige Meinung gebildet hatte, weshalb sie regelmäßig die neuesten Auslagen prüfte. Dann verspürte sie einen leichten Hunger, vermutlich ausgelöst durch Lily’s Austernbar, an der sie vorübergekommen war. Zwölf fines de claire und ein Gläschen Sancerre später machte sie sich auf den Weg zu Genzman, um Gardinenstoff anzuschauen, und schließlich blieb sie wie üblich eine ganze Weile vor den Cartier-Vitrinen stehen.

Ulla Zieten brauchte nichts weniger als neue Gardinen. Und was sie mit der fünften oder sechsten Cartier-Uhr hätte anfangen sollen, war ebenfalls ihr Geheimnis. Aber darum ging es nicht. Schönheit verdiente einfach ihre Beachtung. Teure Schönheit.

Das Geschäft von Cartier war auch die Station ihres Stadtbummels, wo sie es als merkwürdig zu empfinden begann, dass ihre Tochter sich nicht meldete. Das erste Mal hatte sie Inga angerufen, als sie den Audi im Kempinski geparkt hatte. Es war gar kein Anruf im eigentlichen Sinne gewesen. Sie waren ja erst für sechzehn Uhr verabredet. Sie hatte das nur noch einmal bestätigen, die Verabredung telefonisch endgültig der Wirklichkeit einverleiben wollen. Das war zwar überflüssig, aber das machte man ja neuerdings so. Man bewegte sich nicht mehr über große Zeiträume hinweg aufeinander zu, ohne sich in regelmäßigen Abständen telefonisch zu versichern, dass beide noch auf dem richtigen Kurs waren. Und man sah ja, wie leicht etwas dazwischenkommen konnte. Warum, verflixt noch mal, meldete Inga sich nicht?

Ein zweites Mal hatte sie nach der Maniküre bei ihrer Tochter angerufen, nachdem sie nach einem enttäuschten Blick auf ihr Handy festgestellt hatte, dass Inga nicht zurückgerufen hatte. Eine dritte Nachricht hatte sie beim Austernessen abgesetzt. Die vierte vor der Cartier-Vitrine schenkte sie sich jetzt. Stattdessen holte sie ihren Wagen vom Kempinski ab und lenkte ihn direkt nach Steglitz, wo sie gegen sechzehn Uhr eintraf. Sie hatte eine Parkkarte für Ingas Tiefgarage. Ingas Wagen stand auf seinem reservierten Platz. Schlief das Mädchen vielleicht noch?, fragte sich Ulla Zieten, während sie verärgert einparkte. War sie vielleicht krank und hatte ihr Handy nicht angeschaltet?

Ulla Zieten stieg aus, warf einen flüchtigen Blick auf Ingas Auto und ging zum Fahrstuhl. Warum war sie nur so unruhig? Weil Inga nicht dazu neigte, sie einfach zu versetzen. Aber gut. Gleich würde sie ihr wohl erklären, warum sie weder zurückgerufen hatte noch, wie gestern verabredet, auf dem Weg zu Caltus und Spranger war. Oder war sie vielleicht nicht allein?

Ulla Zieten zögerte, als sie endlich vor der Wohnungstür ihrer Tochter stand. Sollte sie klingeln? Hatte Inga vielleicht unvorhergesehenen Herrenbesuch? Sie zog ihr Handy aus der Tasche und drückte die Wahlwiederholung. Drei Sekunden später erklang gut hörbar das charakteristische Nokia-Klingeln hinter der Wohnungstür. Es klingelte sieben Mal, dann meldete sich die Sprachmailbox. Dies war der Moment, da Ulla Zietens Unruhe in milde Panik umschlug. Wo war Inga? Ihre Knie wurden ein wenig weich. Ihr Atem ging schwerer. Ihr Herzschlag wurde schneller. Sie klingelte. Dann klopfte sie gegen die Tür. Keine Reaktion.

Und nun rief sie ihren Ehemann an.

»Hans-Joachim«, sagte sie ohne Umschweife. »Weißt du, wo Inga steckt?«

»Nein, meine Liebe, das weiß ich nicht. Ich dachte, du triffst sie heute.«

»Ich stehe vor ihrer Haustür. Wir waren um vier verabredet. Sie ist nicht gekommen. Also bin ich zu ihr gefahren. Aber sie ist nicht da.«

»Hast du sie angerufen?«

»Was meinst du denn. Natürlich. X-mal. Ihr Handy liegt in ihrer Wohnung. Das Auto steht in der Garage. Aber sie reagiert einfach nicht.«

Hans-Joachim Zieten schaute sich im Spiegel an. Er hatte nämlich die Angewohnheit, vor wichtigen Unterredungen strengste Körperpflege zu üben. Er putzte seine Zähne, überprüfte seine Frisur, jagte unerwünschten Härchen in Nase und Ohren nach, cremte seine immer ein wenig trockenen Hände ein und musterte seine Fingernägel. Tadellos gekleidet und gepflegt zu sein war eine seiner ältesten Marotten. Wenn er schon in dieser primitiven Stadt und Zeit leben musste, dann bitte schön mit Stil. Die Unterredung, die gleich vor ihm lag, war außerdem von so außerordentlicher Wichtigkeit, dass die zehn Minuten Maskenübung vor dem Spiegel wirklich kein Luxus waren. Und ausgerechnet dabei hatte Ulla ihn gestört.

»Aha«, rief er beruhigt. »Ulla. Zisch einfach wieder ab, okay. Wenn du dir nicht den Zorn deiner Tochter zuziehen willst.«

»Was meinst du damit …?«

»Ganz einfach. Inga ist dreiundzwanzig und möchte vermutlich nicht gestört werden, wenn sie überhaupt zu Hause ist. Verstehst du?«

Die drei Sekunden Schweigen am anderen Ende nutzte er dazu, ein Nasenhaar zu entfernen, das ihn schon länger gekitzelt hatte. Die Pinzette bekam es zu fassen. Aber bevor er dazu kam, es mit einem kurzen Ruck herauszuziehen, blaffte Ulla ihn durch das Telefon an.

»Du schickst sofort Jörg mit dem Zweitschlüssel hierher, ja? Hier stimmt etwas nicht. Ich warte.«

Hans-Joachim Zieten legte sein Handy ab. Er erwischte das flüchtige Haar, hielt die Pinzettenspitze ein paar Sekunden unter fließendes Wasser und verstaute sie dann sorgfältig in einem dunkelroten Necessaire. Danach warf er einen letzten Blick in den Spiegel, fand alles wunderbar und verließ das Badezimmer. Erst dann aktivierte er eine einprogrammierte Nummer.

»Jörg? Wo sind Sie? Tegel. Hm. Hören Sie. Kommen Sie bitte kurz ins Büro in die Mommsenstraße. Ich hinterlege an der Rezeption einen Schlüssel für Sie, der gleich nach Steglitz muss. Meine Frau erwartet Sie dort. Adresse lege ich dazu. Und … bitte rufen Sie sie an, dass Sie auf dem Weg sind, ja? Danke.«

Dann stellte er das Gerät auf Vibrationsalarm und versenkte es in seiner rechten Innentasche.