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Als sie zurückkamen, hatte Dr. Weyrich eine ungefähre Altersschätzung des Lichtenberger Torsos und die mutmaßliche Todesursache durchgegeben: Tod durch Ertrinken. Zollanger gab die Suchparameter »weiblich« und »fünfundzwanzig bis neununddreißig Jahre« alt ein und war froh, dass das System die Fälle vermisster Kinder und Jugendlicher automatisch herausfilterte. Es war eine dieser Fragen, auf die man manchmal bei einem Bier nach Feierabend zu sprechen kam. Für Zollanger war die Entscheidung immer klar gewesen. Vor die Wahl gestellt, den Tod oder das spurlose Verschwinden einer geliebten Person verarbeiten zu müssen, wählte er immer den Tod. Gewissheit konnte man verarbeiten. Ungewissheit war Folter, eine der grausamsten Foltern, die er sich vorstellen konnte. Deshalb hasste er die Vermisstenkartei, diese vom Teufel abgehackten Kurzbiographien.

Der damals Dreizehnjährige begleitete seinen Freund gegen siebzehn Uhr zur Bushaltestelle Seestraße und ist seither verschwunden.

Das damals vierjährige Mädchen spielte vor dem Haus der Großeltern und verschwand zwischen elf und zwölf Uhr.

Solche Sätze konnten ihm die Tränen in die Augen treiben. Die Ohnmacht. Die Sinnlosigkeit. Die Brutalität. Das war das Schlimmste.

Bei den Erwachsenen waren seine Gefühle ähnlich, aber es wühlte ihn nicht so sehr auf wie die Fälle der Kinder. Man konnte davon ausgehen, dass wenigstens manche dieser Personen ihre Spuren selbst verwischt hatten. Die meisten anderen waren mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen. Die Ungewissheit war auch hier gegeben, aber sie löste sich mit den Jahren in der wahrscheinlicheren Gewissheit auf, dass die Person schon lange nicht mehr am Leben war.

Die erste Abfrage aus dem Bundesgebiet ergab sieben Treffer. Wie weit sollte er zeitlich zurückgehen? Wann war die Frau, die sie gestern gefunden hatten, ihrem Mörder begegnet? Denn Sinas originelle Hypothese hatte er bereits auf dem Rückweg ins Dienstgebäude wieder verworfen. Sie hatten es bestimmt mit einem Gewaltverbrechen zu tun, und sei es auch mit einem untypischen. Wenn die Frau vor weniger als vier Tagen verschwunden war, konnte die Kartei sie noch gar nicht erfasst haben, denn da achtzig Prozent aller Vermissten sich nach ein paar Tagen von selbst wieder einfanden, erfasste man die Fälle nicht sofort. Außerdem war denkbar, dass die Frau noch gar nicht vermisst wurde. Es konnte sich um eine ausländische Touristin handeln. Oder eine Person ohne soziale Einbindung. Oder ein Opfer aus dem florierenden Geschäftszweig Frauenhandel. Es gab so viele Möglichkeiten. Die Frau war ertrunken. Ertrunken oder ertränkt worden?

Die Datenbank gab nicht viel her. In Berlin war in den letzten Monaten niemand verschwunden. Der letzte, vor sechs Wochen gemeldete Fall betraf eine sechsundzwanzigjährige Frau aus dem Raum Augsburg. Alle anderen Eintragungen lagen noch weiter zurück. Zollanger druckte die Liste mit den sieben vermissten Frauen der letzten achtzehn Monate aus und legte sie auf dem Schreibtisch ab. Dann meldete sich Thomas Krawczik am Telefon.

»In den Krankenhäusern fehlt niemand«, berichtete er. »Ich habe auch die wichtigsten Bestattungsunternehmen durch. Dort vermisst niemand eine weibliche Leiche.«

»Gut. Hat sich in Lichtenberg noch irgendetwas ergeben?«

»Nein. Und ich wage auch nicht zu raten, was er als nächste Deponie auswählen wird. Wenn es denn der gleiche Täter ist.«

»Darüber zu spekulieren ist wohl etwas früh«, sagte Zollanger.

»Wieso? Er hat noch einen Arm, zwei Beine und den Kopf. Und vielleicht späht er gerade Nachschub aus.«

»Dann können wir es auch nicht ändern«, sagte er und legte auf. Zollanger hätte gerne gewusst, warum Krawczik ihm eigentlich immer so schnell auf die Nerven ging. War es der Ehrgeiz des Hessen? Oder das Feiste, Bübische an ihm? Er war ja ein netter Kerl. Aber Zollanger konnte machen, was er wollte, die Chemie zwischen ihnen stimmte einfach nicht.

Dann fand er den Zettel.

Re: Ihr Termin heute 10:00 Uhr mit Elin Hilger, Schwester des Verstorbenen Eric Hilger (Selbsttötung/Aktenzeichen 1 Kap Js 3412/01). Bez. Hilger um 11:08 Uhr in Ihrer Abwesenheit empfangen und an Staatsanwaltschaft verwiesen. Wird vermutlich nicht erneut vorstellig werden. Gez. Wilkes.

Er las die Nachricht zwei Mal. Er griff zum Telefonhörer, wählte Tanja Wilkes Apparatnummer, legte jedoch wieder auf, bevor sie antwortete. Er schaute aus dem Fenster. Der Himmel war schmutziggrau. Die Luft sah aus wie geronnenes Tageslicht, ein trübes, weißliches Gelee.

Er drückte die Tasten erneut.

»Hat sie gesagt, was sie will?«, fragte er die Sekretärin.

»Sie wollte mit Ihnen über ihren Bruder reden. Eric Hilger. Selbsttötung.«

»Ja. Ich weiß. Aber was genau wollte sie denn?«

»Das Übliche. Sie meint, die Polizei hätte schlecht ermittelt.«

Zollanger hängte auf. Er stand auf, trat ans Fenster und schaute hinaus. Er fühlte sich unwohl. Sein Magen knurrte. Er hätte doch etwas essen sollen. Aber zugleich wusste er sehr gut, dass es andere Gründe gab, warum er ratlos und zweifelnd hier am Fenster stand.

Nach einer Weile bemerkte er, dass er die Notiz in seiner rechten Hand zerknüllt hatte. Er faltete sie wieder auf, strich sie glatt und las sie mehrmals durch. Sie würde wiederkommen, dachte er. Sie würde nicht aufgeben. Und er? Was sollte er tun?