29
Es war bereits halb zwei Uhr morgens, aber Elin las noch immer. Neben ihr auf dem Schreibtisch stand ein Teller mit den eingetrockneten Resten einer Linsensuppe, auf dem sich Apfel- und Bananenschalen stapelten. Sie hatte vermutlich schon mehr als zwei Liter Tee getrunken, aber was sie wach hielt, war nicht der Tee. Es waren Erics Dateien. Es waren Hunderte. Mit den meisten konnte sie nicht viel anfangen. Sie würde einen Wirtschaftsfachmann brauchen, um zu verstehen, was diese ganzen Zahlenlisten zu bedeuten hatten. Aber auf der dritten Festplatte hatte sie endlich etwas gefunden, das sie verstand. Es war nur eine Skizze. Nach den Speicherdaten zu schließen, hatte Eric das Dokument im Mai erstellt und im Juni und Juli immer wieder daran geschrieben. Sie hatte die Aufzeichnungen schon zigmal gelesen und war immer wieder an diesem Passus hängengeblieben:
BIG macht nur Verluste. Warum schießt Zieten-Bank immer neue Mio. nach? Zietens Einfluss auf TBG? Prüfen? Was hat TBG von solchen Deals?
1997 34 Mio.
1998 67 Mio.
1999 27 Mio.
2000 87 Mio.!!!
Zieten-Bank ist Melkmaschine für TBG-Kohle. Geld wird v.a. an BIG weiterverschoben. Unterlagen an Anton Billroth? Oder lieber warten? Was bedeutet Phoenix?
Elin verstand kein Wort. Nur eine Abkürzung kannte sie: BIG. Das stand für diese Berlin Investment Group, Erics ehemalige Firma. Für die hatte er die ganze EDV entwickelt und betreut. Aber wer war TBG?
Hagens Warnungen klangen ihr im Ohr. Aber sie konnte ihn nicht jetzt mitten in der Nacht aufsuchen und ihn bitten, ihr ein sauberes Internetcafé zu nennen. Sie loggte sich von Erics Laptop aus ins Internet ein und gab TBG in die Suchmaske ein. Wie zu erwarten, ergab das Tausende von Treffern. Sportvereine. Firmen. Produkte. Sie probierte es mit der Verknüpfung von BIG und TBG. Das Ergebnis sah schon besser aus.
»Berlin Investment Group dank Treubau-Gesellschaft weiterhin auf Wachstumskurs.«
Die Schlagzeile stammte von 1999. Die anderen versprengten Meldungen über die beiden Finanzinstitute enthielten zu viel Bankenlatein, als dass Elin viel damit hätte anfangen können. Allein die Meldungen vom Oktober 2002 waren eindeutig.
14. Oktober: »TBG dementiert Schieflage der BIG.«
17. Oktober: »Interne Prüfung erhärtet Insolvenzverdacht der BIG.«
20. Oktober: »BIG zahlungsunfähig.«
Elin schrieb die Meldungen ab. Was war diese BIG überhaupt? Sie brauchte fast eine Stunde, bis sie endlich Namen gefunden hatte. Irgendwo in den Tiefen des Internets hatte die Suchmaschine eine Handelsregistereintragung vom Februar 1992 aufgespürt und dort zwei Namen aufgespießt: Uwe Marquardt, Günther Sedlazek. Persönlich haftende Gesellschafter der Berlin Investment Group. Sie schrieb die Namen auf und gab BIG und Billroth in die Suchmaschine ein. Aber die Korrelation ergab kein Ergebnis. Lediglich die Seiten zur BIG, die sie alle schon geprüft hatte, tauchten wieder auf. Danach folgten seitenweise Fundstellen zu allen Billroths dieser Welt. Sie erweiterte die Suche um den Vornamen. Anton Billroth ergab einen Treffer. Es war nur eine halbe Zeile aus einer Zeitungsmeldung: »… Polizeihauptkommissar Anton Billroth (1939–2002). Völlig unerwartet …« Elin öffnete den Artikel, einen Nachruf aus einem Journal namens »Polizeidienst«.
Anton Billroth ist tot. Das Landeskriminalamt Berlin – Abteilung Wirtschaftskriminalität – trauert um seinen verdienten Mitarbeiter, Polizeihauptkommissar Anton Billroth (1939–2002). Er verstarb nach kurzer Krankheit völlig unerwartet am 17. Dezember 2002. Wir alle trauern um einen lieben Kollegen und zuverlässigen Mitarbeiter. Unser tiefes Mitgefühl gilt seiner Familie.
Elin übertrug die wichtigsten Daten auf ihren Notizblock. Was hatte dieser Name in Erics Aufzeichnungen verloren? Hatte er den Mann gekannt? Sie setzte den Stift ab und lehnte sich nach hinten. Wo war ihr Bruder da nur hineingeraten? Sie schloss den Ordner und öffnete den nächsten. Er enthielt drei Dateien. Sie klickte auf die erste mit der Bezeichnung ACCESS. Ein Textdokument öffnete sich. Es enthielt nichts als Nummern.
DE14 011 243 110 030 000/0933/Elin1412
DE43 259 853 980 070 000/0933/Elin1412
Gen – 6372
Log – 3437
Gar – 8652
Elin musterte irritiert die letzten Buchstaben und Ziffern in den ersten beiden Zeilen. Ihr Vorname und ihr Geburtstag? Was sollte denn das? Sie starrte auf die Zahlen. Dann dämmerte ihr, worum es sich handelte. Es waren Bankkonten! IBAN-Codes. Sie sequenzierte die Nummern.
DE/140 112 431/10 030 000/0933/Elin1412
DE/432 598 539/80 070 000/0933/Elin1412
Kontonummer, Bankleitzahl, PIN und Passwort. Die Suche nach den Banken über die Bankleitzahl dauerte dank Internet weniger als zwei Minuten. Elin gab den Namen der ersten Bank ein und klickte auf Online-Banking. Die Maske erschien und verlangte Kontonummer und PIN. Elin füllte die Felder aus. Eine Tastatur erschien. Elin klickte die Buchstaben und Zahlen an. Im nächsten Moment erschien das Hauptmenü Kontoführung. Elin klickte auf »Kontenübersicht«.
Saldo: 43.115,95 Euro (DM 84.327,46)