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Es war gespenstisch. Zieten folgte gebannt dem Lieferwagen, wie er die Rampe in die Tiefgarage hinabfuhr und parkte. Er hatte das Gefühl zu fallen. Sein Verstand hatte immer größere Mühe, diese Vorgänge zu begreifen. Aber was sollte er tun? Vor seinen Augen wuchtete ein Mann in einer Mönchskutte einen Rollkoffer von der Ladefläche und machte sich auf den Weg zum Fahrstuhl. Und was sich in dem Rollkoffer befand, hatte er ja vor ein paar Stunden auf Marquardts Handy gesehen.
Der Zeitcode in der Fußleiste des Monitors machte einen Sprung. Knapp zwanzig Minuten hatte er gebraucht, um diese Scheußlichkeit auf Marquardts Schreibtischstuhl zu arrangieren.
Gleich würde die interessanteste Stelle auf dem Videoband kommen. Er hatte sie sofort bearbeiten lassen, nachdem Aivars nach dem Zwischenfall in der Wohnung des Kommissars zurückgekommen war und ihm die Kassette und den Rucksack dieses Mädchens gebracht hatte. Gleich würde der Mönch kurz direkt in die Kamera schauen.
Zieten wandte kurz den Kopf und musterte Marquardt und Sedlazek, die neben Aivars Ozols saßen und ebenso gebannt wie er verfolgten, wie das Video plötzlich langsamer wurde, um einzelne Einstellungen vergrößert wiederzugeben. Das Nummernschild des Wagens wurde mehrfach eingeblendet. Dann kam das wichtigste Detail überhaupt: Das Gesicht des Mönchs. Allen digitalen Bildbearbeitungskünsten zum Trotz war es ein wenig unscharf geblieben.
Aivars schaute nur einmal kurz hin und nickte.
»Er ist es«, sagte er. »Keine Frage.«
Zieten musterte die engstehenden Augen des Mannes auf dem leicht zitternden Standbild. War dieser Kommissar geisteskrank? Ein Amokläufer? Und was sollte er jetzt tun? Frieser benachrichtigen? Ihn mit der Tatsache konfrontieren, dass der Torso-Mörder und mutmaßliche Entführer seiner Tochter kein anderer als sein Chefermittler war? Aber war Zollanger überhaupt ein Einzeltäter? War das denkbar? Hatte er vielleicht weitere Komplizen innerhalb der Polizei? War Zollanger der Kopf dieser ganzen Geschichte oder nur die Hand?
Das Video war zu Ende. Marquardt erhob sich und schaltete das Deckenlicht wieder ein. Keiner sagte etwas.
Was hatte denn Sedlazek für eine Miene aufgesetzt?
»Ist dir nicht gut, Günther?«, fragte Zieten. Sedlazek antwortete nicht. Zieten schaute zu Marquardt. Der lächelte grundlos – für Zieten, der ihn in- und auswendig kannte, ein klares Zeichen dafür, dass er ziemlich verunsichert war. Aivars schwieg und schaute aus dem Fenster.
»Was für eine verdammte Sauerei habt ihr mir da eingebrockt!«, brach Zieten das Schweigen.
Weder Marquardt noch Sedlazek antwortete. Aivars Gesicht war wie versteinert.
»Es ist jetzt siebzehn Uhr«, fuhr Zieten fort. »Seit drei Stunden ist der Mann untergetaucht. Er hat Akten über Hilger gesammelt. Hilgers Schwester war in seiner Wohnung. Offenbar arbeiten die beiden zusammen. Was in drei Teufels Namen …«
»… das mag ja alles sein, Hajo«, warf Marquardt jetzt ein. «Aber sie haben nichts über uns. Vielleicht ein paar falsche Abrechnungen. Aber mehr nicht. Vielleicht ist er deshalb ausgetickt. Weil es nichts gibt. Wenn du mich fragst, dann ist dieser Zollanger ein frustrierter Bulle, der sich ein perverses Spielchen ausgedacht hat, um uns unter Druck zu setzen, um uns Angst zu machen. Ein Irrer. Er hat nichts. Höchstens Hass und Wut, dass er uns nichts kann.«
»Uwe, er hat meine Tochter!«
Einige Sekunden herrschte Schweigen.
»Ja«, meldete sich jetzt Sedlazek zu Wort. »Vielleicht. Aber bist du ganz sicher? Und falls es wirklich so ist: Glaubst du wirklich, dass er ihr etwas antut? Was hätte er denn davon? Ich glaube, Uwe hat recht: Er will uns Angst machen. Uns provozieren.«
Zieten ging nervös hin und her.
»Und das soll mich beruhigen? Dass du es nicht glaubst? Der Typ zerstückelt Frauen.«
Es wurde wieder still im Raum.
»Du hast doch herumtelefoniert«, setzte Zieten wieder an. »Weiß man etwas über diesen Mann?«
»Er ist ein alter Genosse«, sagte Sedlazek. »Jahrgang 1940. Dresden. Offiziersschule in Aschersleben. Dann Offizier der mittleren Laufbahn der Organe des Ministeriums des Innern. Bis zum Mauerfall operativer Diensthabender VPKA Schleiz im Rang eines Unterleutnants …«
»Verschone mich bitte mit diesem DDR-Kauderwelsch. Wie wird ein VOPO im Westen Hauptkommissar?«
»Keine Ahnung. Der Mann war wohl ein ganz guter Ermittler. Wahrscheinlich war seine Akte in Ordnung. Die haben uns ja nach dem Ende nicht alle auf den Müll geworfen.«
Die Bitterkeit war unüberhörbar.
»Für das, was du so getrieben hast, bist du noch ganz schön weich gefallen, findest du nicht, Günther?«, gab Zieten kalt zurück.
»Ich arbeite für Sieger«, erwiderte Sedlazek kühl, »genauso wie du, Hajo.«
»Können wir bitte bei der Sache bleiben«, bemerkte Marquardt.
Zieten verkniff sich eine weitere Replik. Das hatte man davon, wenn man sich mit solchen Leuten einließ, dachte er grimmig. Aber jetzt war nicht die Zeit, sich mit Marquardt und Sedlazek zu streiten. Es gab mit den beiden schon Probleme genug. Warum hatte er bloß nicht früher gesehen, was für Ganoven sie im Grunde waren. Diese Vollidioten hatten Hilger ermorden lassen, weil der das Treiben der BIG durchschaut hatte. Davon war er mittlerweile überzeugt. Wenn er nicht aufpasste, würde diese Sache auch noch an ihm kleben bleiben.
»Was wissen wir noch?«, fragte er und riss sich so gut es ging zusammen.
»Geschieden. Keine Kinder. Viel mehr konnte ich in der Eile nicht herausfinden. Es gibt nur einen Berührungspunkt zwischen uns und ihm.«
»Und der lautet?«
»Billroth.«
Zieten setzte sich und rieb sich die Schläfen.
»Wer ist Billroth?«
»LKA«, erklärte Marquardt, »Abteilung Wirtschaftskriminalität.«
Zieten drehte die Augen zum Himmel. »Das wird ja immer besser.«
»Billroth und Zollanger waren befreundet. Vielleicht hat Billroth ihm ein paar Dinge erzählt? Das ist die einzige Erklärung. Wie sonst sollte eine Bulle von der Mordkommission uns überhaupt ins Visier kriegen?«
»Wegen Hilger natürlich«, bemerkte Zieten trocken mit einem Seitenblick auf Aivars. Der hatte begonnen, interessiert zuzuhören. Zietens Bemerkung kommentierte er jedoch nicht.
»Das war Selbstmord, verdammt noch mal«, rief Sedlazek aufgebracht. »Die Mordkommission hat gar nicht zu Hilger ermittelt. Die haben sich nur mal die Akten angeschaut, weil die Familie Ermittlungen zu Fremdverschulden gefordert hat. Aber natürlich haben sie nichts gefunden. Die Staatsanwaltschaft hat alles eingestellt.«
»Außerdem gibt es zeitlich überhaupt keinen Zusammenhang«, ergänzte Marquardt. »Billroth ist letztes Jahr gestorben, irgendwann vor Weihnachten. Herzinfarkt. Wir haben erst im Januar erfahren, dass er Nachforschungen über uns angestellt hat. Er hat sie übrigens schon bald wieder eingestellt. Hilger hat sich erst ein dreiviertel Jahr später umgebracht. Wie soll es da also einen Zusammenhang geben?«
»Was machen Hilgers Akten dann bei Zollanger? Und stand da nicht auch eine Akte über Billroth?«
Die Frage war an Aivars gerichtet. Der nickte.
»Und das hier?« Zieten trat an den Tisch und betrachtete den Inhalt von Elins Rucksack, der geordnet dalag. Ihr Personalausweis lag neben ihrer Brieftasche. Daneben ein USB-Stick, ein Plastikumschlag mit drei SIM-Karten, ein Stapel Computerausdrucke, Lippenfettstift, Wollhandschuhe und weitere persönliche Gegenstände.
Zieten nahm die Computerausdrucke und betrachtete sie Blatt für Blatt. Hatte sie das alles von ihrem Bruder? Hatte er sie eingeweiht? Was wollte das Mädchen mit diesen Abrechnungsdaten? Wusste sie, was diese Dokumente bedeuteten? Die Informationen waren teuer, aber nicht wirklich gefährlich. Abrechnungsbetrug war nichts als eine Art illegales Glücksspiel. Wenn man erwischt wurde, gab man den Fehler zu und bezahlte. Wenn nicht, was häufig der Fall war, gewann man nebenher ein kleines Vermögen durch die Dummheit von Mietern, die nicht imstande waren, Betriebskostenabrechnungen zu lesen.
Die BIG hatte ganz andere Probleme. Und die Frage war, ob das Mädchen auch darüber Bescheid wusste.
Er blätterte weiter und stieß auf die Fotoserie: Großformatige Aufnahmen von einem Ast und eine ganze Reihe von Nahaufnahmen von einem Seil. Eine handschriftliche Notiz des Mädchens gab es auch: In der Nähe des Tatorts wurden drei gleich lange Seilstücke gefunden, die nach Art und Beschaffenheit mit dem Strangmaterial identisch sind, deren Zusammenhang mit der Selbsttötung indessen nicht geklärt ist.Der Satz klang so, als stammte er aus dem offiziellen Polizeibericht. Zieten nahm Foto für Foto zur Hand und studierte die Abbildungen. Dann fiel sein Blick auf eine weitere Notiz. Nur drei Zeilen. Aber sie ließen ihn schaudern. BIG macht horrende Verluste. Warum schießt TBG immer neue Mio. nach? 1997 134 Mio., 1998 167 Mio., 1999 227 Mio., 2000 487 Mio.?? Phoenix-Vorlage total unverständlich? An Billroth schicken?
Er warf Marquardt das Blatt hin.
»Hilger hatte eine Menge Informationen«, gestand Marquardt zu, nachdem er die Passage gelesen hatte. »Aber wir haben ihn ruhiggestellt, nicht wahr, Aivars? Du hast ihn doch unter digitale Quarantäne gestellt. Seit März waren wir überall drin: in seinen Handys, seinen E-Mails, seinen Kontobewegungen. Er konnte sich nicht mehr unbeobachtet bewegen. Und er wusste das auch.«
»Wie konntet ihr sicher sein, dass er nicht doch etwas gegen euch plante?«
»Ganz einfach: Wir hatten ihn an den Eiern«, sagte Sedlazek. »Da halten die Leute normalerweise still. Und er hielt ja still. Bis er die Nerven verlor. Nicht wahr, Aivars?«
Aivars hatte die ganze Zeit aus dem Fenster geschaut. Jetzt drehte er den anderen den Kopf zu und sagte nur: »Brauchen Sie mich noch, meine Herren?«
Ein perplexes Schweigen folgte.
»Ansonsten würde ich mich gern auf die Suche nach Herrn Zollanger machen, wenn Sie nichts dagegen haben.«
Er stand auf, nahm seine Jacke und verließ den Raum.