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Als Sina am nächsten Tag ins Büro kam, war niemand da. Alle Schreibtische waren unbesetzt. Sie war von Zimmer zu Zimmer gegangen und hatte schließlich eine Lautsprecherstimme aus dem Besprechungsraum gehört. Dort saßen sie alle versammelt: Brenner und Krawczik, Findeisen und Brodt. Nur Draeger fehlte. Sina setzte sich und schaute Zollanger an, der von der Leinwand herunter sein Geständnis sprach. Der Datenträger war am Morgen per Post gekommen. Mit Poststempel Dresden, wie Brenner ihr später sagte.
Immerhin hatte Zollanger die Korrektheit besessen, nicht nur der Staatsanwaltschaft, sondern auch seinen Kollegen und engsten Mitarbeitern seine bizarre Handlungsweise zu erklären. Als die Aussage zu Ende war, herrschte konsterniertes Schweigen. Sina verließ den Raum, suchte Zollangers altes Büro auf und starrte den Platz an, wo er immer gesessen hatte. Seine persönlichen Gegenstände waren längst entfernt worden. Aber das änderte für sie nichts. Es war sein Schreibtisch, würde immer sein Platz sein. Gerade jetzt.
Sie zog ihre Jacke an, verließ das Gebäude und fuhr nach Moabit. Elin Hilger hatte offenbar noch geschlafen. Erst nach mehrmaligem Klingeln öffnete sie die Tür einen Spalt breit und schaute Sina misstrauisch an. Als Sina ihr erklärte hatte, wer sie war und warum sie gekommen war, ließ sie sie herein. Das Gespräch dauerte knapp eine halbe Stunde. Aber im Grunde war es kein Gespräch. Sina stellte Fragen. Elin antwortete vage, ausweichend oder meist gar nicht, weil sie auf Sinas Fragen keine Antworten hatte.
Natürlich leugnete sie zu wissen, wo Zollanger sich aufhielt. Sina hatte nichts anderes erwartet. Aber als Sina wieder ging, fühlte sie sich dennoch erleichtert. Elin Hilger war auch nur ein Opfer gewesen. Eine weitgehend ahnungslose Figur in der komplizierten Partie, die Martin und Georg Zollanger mit ihren Lebensfragen gespielt hatten.
Es würde ihr keine Schwierigkeiten bereiten, Elin Hilger im Blick zu behalten. Was sie in der Wohnung beobachtet hatte, war eindeutig. Das Mädchen beabsichtigte, Berlin unauffällig zu verlassen. Offenbar per Fahrrad. Oder wie waren die halb gepackten Satteltaschen anderweitig zu deuten? Einen kleinen Peilsender unter Elins Fahrradsattel anzubringen war keine Schwierigkeit. Danach konnte sie nur abwarten.