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Zwei Stunden. Elin dachte an Cemal. Was er sagen würde, wenn er sie jetzt sehen könnte. In einem Auto. Dann dachte sie nichts mehr. Sie schaute aus dem Fenster und versuchte, die Orientierung zu behalten. Sie fuhren über Nebenstraßen. Bisweilen durchquerten sie ein Dorf oder eine kleine Stadt, deren Namen ihr nichts sagten. An einer Abzweigung war San Gimignano angezeigt, ein Ort, von dem sie schon einmal gehört hatte. Aber Stefano bog in eine andere Richtung ab. Als in östlicher Richtung Florenz ausgeschildert war, fuhr er nach Westen. Und als die ersten Markierungen Pisa auswiesen, änderte Stefano erneut die Richtung und wählte noch kleinere und engere Straßen als bisher.

Es war schon lange dunkel, doch die menschenleere Gegend, die sie jetzt durchquerten, erstreckte sich als tiefschwarzes Niemandsland um sie herum. So seltsam die Situation auch war, empfand sie doch keine Furcht. Zollanger hatte keine Wahl. Er musste wohl so vorsichtig sein. Erstaunlich war nicht die merkwürdige Art der Kontaktaufnahme mit ihr, sondern dass er überhaupt das Risiko einging, sich mit ihr zu treffen. Aber warum tat er das?

Die Scheinwerfer des Wagens beleuchteten abwechselnd Buschwerk und grasbewachsene Böschungen, während Stefano den Wagen um enge Kurven lenkte. Andere Fahrzeuge gab es hier nicht. Plötzlich ging es wieder abwärts. Am Horizont flimmerten die Lichter irgendeiner größeren Stadt, aber in der Ebene dazwischen brannte kein einziges Licht. Stefano hielt auf die dunkle, leere Fläche zu, bis er völlig unvermittelt auf einen Feldweg abbog. Das Auto kroch dahin, wurde aber dennoch erheblich durchgeschüttelt. Nach einigen Minuten wuchs auf einmal die Fassade eines Gebäudes aus dem Dunkel. Stefano hielt an und stieg aus. Der Motor des Wagens lief noch, und die Scheinwerfer beleuchteten den steinigen Weg, auf dem Stefano auf die mächtige Pforte des alten Gebäudes zuging. Elin beugte sich nach vorn, um die Fassade besser mustern zu können. Sie war schlicht, mindestens fünf oder sechs Meter hoch und aus großen Quadersteinen zusammengefügt. Um das Holzportal herum lief ein Steinfries, ansonsten war die Mauer schmucklos.

Elin erkannte im Licht der Autoscheinwerfer, dass sich die Pforte geöffnet hatte. Stefano sprach kurz mit einer Person in einer schwarzen Kutte. Dann balancierte er zwischen den herumliegenden Steinen zum Wagen zurück und setzte sich wieder ans Steuer.

»We are here«, verkündete er. »Please.«

Sie stieg aus. Die Luft war feucht, kühl und angefüllt mit ländlichen Aromen. Außerdem roch es nach Rauch.

Der Mann in der schwarzen Kutte stand an der Pforte und schaute erwartungsvoll zu ihr hin.

»Thank you«, sagte sie.

»Okay«, antwortete Stefano. Er startete den Wagen, legte mit einem krachenden Geräusch den Rückwärtsgang ein und setzte vorsichtig zurück.

Elin erreichte die Pforte im gleichen Moment, als der Lichtkegel von Stefanos Wagen verschwand.

»Willkommen, Elin«, sagte der Mann an der Tür.

»Guten Tag«, erwiderte sie, mehr über die Tatsache verblüfft, dass der Mann Deutsch sprach, als darüber, dass er offenbar wusste, wer sie war.

»Kommen Sie. Sie werden erwartet.«

Ein Kloster, fuhr es ihr durch den Sinn. Sie war in einem Kloster. Die Pforte schloss sich trotz ihrer enormen Größe fast geräuschlos. Sie durchquerten einen großen Innenhof. Nirgends brannte Licht. Aber ein halber Mond stand am Himmel, so dass die Pracht der Fassade des Gebäudes, auf das sie nun zusteuerten, durchaus zu erkennen war. Bevor sie es sich genauer anschauen konnte, hatten sie bereits einen Torbogen durchschritten und bogen auf einen Kreuzgang ab, der an einem Garten entlangführte.

Elins Magen begann zu knurren. Ihr Begleiter schaute sie kurz an, sagte aber nichts, sondern hielt auf eine Holztür am Ende des Ganges zu. Auf dem dahinterliegenden Gang gingen sie an fünf Türen vorbei und blieben vor der sechsten stehen. Der Mönch klopfte an. Dann sagte er:

»Ich bringe Ihnen etwas zu essen. Bis gleich.«

Elin schaute ihm hinterher. Dann öffnete sich die Tür. Vor ihr stand Martin Zollanger.