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Aivars Ozols hatte etwa drei Stunden mit dem Material verbracht, als ihm allmählich ein Licht aufging.

Er spürte ein erregendes Gefühl in der Magengegend. Dieser Auftrag war so richtig nach seinem Geschmack. Die Scheußlichkeit auf den Tatortfotos rang ihm Respekt ab. Bereits die Emblemdarstellungen hatten ihn neugierig gemacht. Als Droh- oder Erpressernachrichten waren sie außergewöhnlich stilvoll. Aber das hier? Das war geradezu unerhört. Das war kein Durchschnittstäter. Ein Schlauberger konnte sich dumm stellen. Aber ein ungebildeter, primitiver Mensch konnte schwerlich eine kultivierte Maske tragen.

Nach Marquardts Anruf hatte er seinen Morgentee stehen lassen und war sofort losgefahren. Immer noch diese Hilger-Sache! Sechs Monate hatte er sich mit diesem Kerl herumgeschlagen. Und jetzt schon wieder?

Zieten hatte ihm ausführlich geschildert, was geschehen war. Dann waren Ermittlungsakten eingetroffen, und er hatte einen Raum, einen Computer und Zeit bis Mittag gefordert.

Zuerst hatte er sich mit den Emblemen beschäftigt. Es war nicht sonderlich schwierig gewesen, sie zu identifizieren. Er schlug die Sentenzen im Internet nach und stieß schnell auf die entsprechenden Darstellungen. Der Fuchs, der auf einer treibenden Eisscholle gefangen war, stammte aus der Emblemsammlung eines gewissen Joannes Sambucus aus dem Jahr 1564. Offenbar hatte sich das Dargestellte kurze Zeit zuvor bei Regensburg tatsächlich zugetragen. Nullus Dolus Contra Casum. Es gibt keine List gegen den Zufall.Aivars notierte. War Zieten der Fuchs? Behauptete der Versender der Botschaft, ihm durch Zufall auf die Schliche gekommen zu sein, ihn in der Hand zu haben? Eine andere Lesart fiel ihm jedenfalls auf Anhieb nicht ein.

Er wandte sich der nächsten Vignette zu. Vita Mihi Mors Est.Sie wurde einem gewissen Joachim Camerarius zugeschrieben. Aivars erfasste die Quelle, ohne eine klare Idee zu haben, was er damit anfangen würde. Mein Leben ist der Tod, schrieb er unter die Darstellung des Phoenix und meditierte eine Weile darüber, was diese Botschaft dem Adressaten wohl mitteilen sollte. Zieten hatte ein geheimes Dokument erwähnt, das den Codenamen Phoenix trug. Aber war noch ein anderer Bezug denkbar?

Da er diese Frage nicht beantworten konnte, nahm er sich Botschaft Nummer drei vor. Es war, wie er fand, die interessanteste: Pietas Vindictam Avertens.Das Emblem stammte von Barthélémy Aneau aus dem Jahr 1552. Aivars betrachtete fasziniert die davoneilende Frau und den zurückbleibenden Mann, der sich entsetzt über den geschlachteten Leib eines Menschen beugt, dem Kopf und Gliedmaßen abgehackt worden waren. Die lateinische Bildunterschrift kommentierte den Sachverhalt. Das Emblem bezog sich auf Medeas Flucht vor Aietes. Aivars übersetzte den lateinischen Kommentar und unterstrich das Motto:

Als die Colcherin vor Aietes floh und dem Jason folgte, hielt sie den Vater, der sie verfolgte, solcherart auf: Sie zerfleischte den kleinen Apsyrtus, ihren Bruder, und zerstreute seine sterbenden Glieder hinter sich auf den Weg, so dass der fromme Vater, da er die verstreuten Gliedmaßen seines Sohnes einsammelte, aufgehalten wurde und die ruchlose Tochter fliehen konnte. Was bedeutet diese Erzählung? Wohl soviel, dass die Frömmigkeit es oft nicht zulässt, grässliche Übeltaten zu rächen.

Aivars legte die drei Bildbotschaften vor sich hin. List und Zufall? Leben und Tod? Frömmigkeit und Rache? Gab es eine Beziehung der Embleme zum Arrangement der Leichenteile?

Er begann, die Elemente aufzulisten und versuchte, Entsprechungen zu finden. Embleme waren schließlich genau das: Bilder aus einer Zeit, als man die Welt in all ihren Erscheinungen noch als erfüllt von heimlichen Verweisen und verborgenen Bedeutungen gesehen hatte.

Stand Torso I in einer heimlichen Beziehung zum ersten Emblem? Aivars ging die Tatortfotos durch und begann damit, das Internet nach allen möglichen Begriffskombinationen zu durchforsten, die sich aus den Emblemen und den Torsi herleiten ließen. Welche symbolische Bedeutung hatte der Kopf eines Ziegenbocks auf dem Leib einer Frau? Was sollte ein menschlicher Arm im Gedärm eines Lammes bedeuten? Gab es eine irgendwie geartete Beziehung zur Phoenix-Legende?

Nach kurzer Zeit hatte er zu jedem Element Dutzende von sich gegenseitig ausschließenden Bedeutungen erfasst. Schon allein die Ziege ergab jede Menge unvereinbarer Sinnzusammenhänge. Er überflog die Liste der Attribute, die er für das Tier gefunden hatte: Genügsamkeit, Fruchtbarkeit, Stärke, Heil, Leben, Wankelmut, Schwäche, Zartheit, Opfer, Bosheit, Sünde. So kam er nicht weiter. Symbolsprache war notorisch widersinnig. Arm im Gedärm eines Lammes, schrieb er. Wiedergeburt? Er lehnte sich zurück und starrte missmutig auf seine Skizzen.

Dann ließ er ein drittes Mal die Tatortfotos durchlaufen. Torso I sah aus der Ferne aus wie ein Höllenfürst. Ein Mischwesen, halb Tier halb Mensch, mit einem prächtigen blauen Umhang. Bild nach Bild erschien auf seinem Monitor, ohne dass Aivars eine Idee kam, wie er weitersuchen sollte. Dann erschien das Lamm. Was hatte es nur mit diesen umwickelten Hinterbeinen auf sich? Er zoomte die Stelle heran. Den Fotografen schien das auch interessiert zu haben. Es gab siebzehn Aufnahmen des Hinterleibes. Die Umwicklung begann im letzten Drittel des Rumpfes. Der Täter hatte festes schwarzes Textilklebeband benutzt. Stand in den Akten Genaueres? Er öffnete die Datei mit den Spurenblättern. Spur Nummer 179 enthielt, was er suchte:

LKA Berlin – 7. Mordkommission

Aktenzeichen: KAP/PS 14 537/01

Delikt: Leichenschändung

Spur Nr. 179

Ort: Club Trieb-Werk, Borsigzeile 44, Berlin Tempelhof. Anhaftung auf Tierkörper (Umwicklung von Hinterleib und Hinterbeinen eines Lammkadavers u.a. zur Fixierung eines Küchenmessers. Spur 183)

Gegenstand: 253 cm Gewebeklebeband der Marke TESA extra Power, 50 mm breit, schwarz

Datum: 07.12.2003 Uhrzeit: 08:37

Beamte(r): H. Findeisen

Er rief Spur Nummer 183 auf:

LKA Berlin – 7. Mordkommission

Aktenzeichen: KAP/PS 14 537/01

Delikt: Leichenschändung

Spur Nr. 183

Ort: Club Trieb-Werk, Borsigzeile 44, Berlin Tempelhof.

Gegenstand: Handelsübliches Spick- und Garniermesser der Marke Zwilling Twin Profection, Klingenlänge 10 cm. Der Griff des Messers wurde mittels Gewebeklebeband (179) zwischen den Hinterhufen des Lammes fixiert. Nur die Klinge ist sichtbar.

Datum: 07.12.2003 Uhrzeit: 08:39

Beamte(r): H. Findeisen

Immer wieder ließ Aivars die Bilder über den Schirm laufen. Was war das nur? Ein Lamm mit einem Stachel? Er gab »Lamm« und »Stachel« in die Suchmaschine ein. Das Ergebnis war der übliche Internetsalat. Ein Traditionsweinhaus Stachel empfahl Rhön-Lamm mit Beilage. Eine Stachel GbR hielt ihre Jahresversammlung im Wirtshaus Lamm ab. Auffällig war, wie oft Jesus als Lamm Gottes auftauchte, häufig in Verbindung mit dem Stachel der Sünde oder des Todes. Aivars klickte eine der theologischen Seiten an und las den Eintrag.

O Tod, wo ist dein Stachel, o Grab, wo deine Siegesmacht? Des Todes Stachel ist die Sünde, und die Kraft der Sünde ist das Gesetz. Drum Dank sei dir Gott, der uns den Sieg gegeben hat durch Christum unsern Herrn. Würdig ist das Lamm, das da starb, und hat versöhnet uns mit Gott durch sein Blut …

Aivars verzog den Mund. Diese Art Text erfüllte ihn stets mit einem milden Ekel. Aber irgendetwas daran erschien ihm beachtenswert. Er betrachtete erneut Torso I und die Embleme. Der Täter mochte Rätsel. Und offenbar Rätsel, die sich auf ferne Jahrhunderte bezogen. Ein Torso mit Ziegenkopf. Ein Lamm mit einem Stachel. Er lud die Aufnahmen von Torso III auf seinen Bildschirm: die geflügelte Gestalt mit Tierkralle. War dies eine Harpyie? Oder die Travestie eines Engels?

Je länger er die Figuren betrachtete, desto stärker wuchs in ihm die Überzeugung, dass er in diese Richtung suchen musste. Er hatte es mit mythologischen Chiffren zu tun. Oder mit Bezügen zu Fabelwesen. Aber warum? Zu welchem Zweck? Das Spiel reizte ihn zunehmend, aber es begann ihn zu irritieren, dass er nicht vorankam. Das Lamm. Der Stachel. Das musste doch aufzulösen sein.

Er versuchte erneut mehrere Kombinationen aus den Begriffen Lamm/Schaf und Stachel. Ohne Ergebnis. Dann musterte er wieder den Hinterleib des toten Tieres. War das überhaupt ein Stachel? Ja, durchaus, aber kein gewöhnlicher. Er war schwarz und lang, sehr lang. Wie von einem Skorpion! Ein Lamm mit einem Skorpionstachel? Gab es eine solche Figur in der Mythologie? Aivars gab die Kombination ein. Die ersten Seiten führten erwartungsgemäß zur Astrologie. Zum einen gibt es Skorpiongeborene, die sanft wie ein Lamm sind …, las er. Die nächste Eintragung war ebenso nutzlos: Tschechische Gemeindeflaggen: Tierwelt (Löwe, Adler, Lamm, Skorpion, Hahn, Ziege, Hirsch, Pferd).

 

Doch plötzlich stutzte er: Unter einem kryptischen Eintrag, der fast nur aus Zahlen bestand, hatte die Suchmaschine einen interessanten Satzstummel gefunden: … auf dem Schoß ein Lamm mit dem Schwanz eines Skorpions.

Aivars lächelte und leckte seine Oberlippe. Es war ein Tick von ihm. Eine Art und Weise, seine Emotionen unter Kontrolle zu halten. Na endlich, dachte er, und klickte zweimal auf den Link. Es war eine Dissertation. Ambrogio Lorenzettis Freskenzyklus. Universität Zürich. Das PDF-Dokument öffnete sich. Nach wenigen Sekunden hatte er per Stichwortsuche die Textstelle gefunden:

Fraus, der Betrug, ist dargestellt als Höfling mit falscher Pfote und Krallenfüßen. Proditio, der Verrat, erscheint indessen mit Kopfbedeckung in der Figur des guten Bürgers, auf dem Schoß ein Lamm mit dem Schwanz eines Skorpions.

Fraus. Proditio. Aivars begann fieberhaft, sich Notizen zu machen. Der Leichenschänder inszenierte Allegorien des Bösen. Merkwürdig. Eine Wandmalerei als Inspirationsquelle für ein Verbrechen. Der Täter erschien ihm immer interessanter.

Kurz darauf hatte er Gewissheit. Es gab keinen Zweifel. Genau hier lag der Schlüssel, auf der Wandbemalung des Rathauses von Siena. Aivars hatte kein Problem gehabt, eine Abbildung des Freskos zu finden, und zoomte nun die Einzelheiten heran. Für Torso II hatte zweifellos Lorenzettis Proditio Pate gestanden:

Torso III war ebenso eindeutig. Alles war vorhanden: die gezackten Flügel, die Embleme auf der Brust, die verkrüppelte Hand, die Tierkralle unter dem grünen Mantelsaum. Kein Zweifel. Auf dem Schreibtischsessel saß Seine Höllische Hoheit: Fraus. Betrug.

Blieb noch Torso I. Hier hatte sich der Emblem-Mörder einige Freiheiten genommen. Eine weibliche Figur mit Ziegenkopf suchte man auf dem Fresko vergebens. Aber es war durchaus ein Ziegenbock vorhanden: Er kauerte zu Füßen eines Ungeheuers. Aivars betrachtete das schielende Monstrum, dem Teufelshörner aus dem Kopf und mächtige Wildschweinhauer aus dem Unterkiefer wuchsen. Es war die zentrale Figur: Tyrannis.

Warum war er hier vom Original abgewichen?, fragte sich Aivars. War der Transport eines Torso und einer ganzen Ziege zu aufwendig? Oder hatte er es vorgezogen, den menschlichen Kopf für Torso III zu nutzen und daher Torso I abgeändert? Hieß das, dass er unter Materialknappheit litt? Wie viele Leichen standen ihm zur Verfügung?

Einzeltäter?, schrieb Aivars nach einer Weile auf seinen Notizblock. Dann kam ihm sein ganzer Triumph wieder zweifelhaft vor. Wenn diese Torsi wirklich Chiffren waren, an wen waren sie adressiert? Welchen Sinn sollte es haben, derart verschlüsselte Arrangements zu erzeugen? Wer konnte dergleichen entziffern? Oder war es ein geisteskranker Täter, Bewohner einer grotesken Phantasiewelt, in der diese Monstren erzeugt wurden?

Und wer war der Täter? War er jung? Alt? Männlich? Weiblich? Aivars schaute sich erneut die Embleme an. Plötzlich kam ihm eine Idee. Er loggte sich in eine Datenbank ein und stellte eine Reihe von Datensätzen zusammen. Es war ein Schuss ins Dunkle. Ein Versuch. Aber dieser Täter war nicht jung. Er war alt. Seine Symbolsprache hatte wenig mit der heutigen Welt zu tun. Also würde er auch nicht die Instrumente der Gegenwart benutzen.

Nach kurzer Zeit hatte er achtundzwanzig Datensätze zum Stichwort »Ambrogio Lorenzetti« gesammelt. Er ging zum Telefon, führte ein kurzes Gespräch und gab die Daten durch. Dann wartete er. Er trank einen Kaffee, spazierte nachdenklich durch das schöne Büro, das Zieten ihm zur Verfügung gestellt hatte, kehrte jedoch immer wieder an seinen Schreibtisch zurück, um sich das Fresko anzuschauen.

Um 11:34 Uhr meldete sein Computer eine neue E-Mail. Er öffnete sie und überflog die Nachricht, die sein Hacker ihm geschickt hatte. Es war die gleiche Liste, die er vor zwanzig Minuten durchgegeben hatte. Aber unter jedem Datensatz standen nun Nummern, Daten und Namen. Er überflog die Namen. Und plötzlich begann er zufrieden zu grinsen. Das war unmöglich. Und doch war es so. Er griff nach den Ermittlungsakten, um sicherzugehen, dass er sich nicht geirrt hatte. Aber es gab keinen Zweifel. Er hatte ins Schwarze getroffen. Wahrhaftig! Ein echter Insider! Wie heimtückisch. Wer wäre darauf gekommen. Er erhob sich wieder, streckte sich und blickte auf die Uhr. Viertel vor zwölf. Nicht schlecht für einen kurzen Vormittag. Dann ging er zur Tür, um Zieten und die anderen hereinzurufen.