4. BUCH

Wer wollte solche Zeiten nicht beklagen? Und wer könnte so hartherzig sein, solches Unglück nicht zu beweinen? Doch solche Dinge geschehen, weil die Menschen sündig sind und weder Gott lieben noch Rechtschaffenheit. Und die Sünde des Königs war seine übergroße Gier nach Gold und Silber.

Angelsachsenchronik, 1087

Helmsby, Januar 1086

Ine kam aus dem Stall, als er die Pferde im Hof hörte, und zählte verstohlen. Zwei, vier, sechs … sieben. Heiliger Oswald, wo soll ich Platz für all die Gäule finden?

»Willkommen daheim, Thane.«

Cædmon saß ab und reichte ihm die Zügel. »Danke. Wie geht es allen?«

Der Stallknecht hob kurz die Schultern. »Gut. Es ist nur überall zu voll, im Dorf und in der Halle erst recht … ähm.« Er lachte verlegen. »Entschuldigung, Thane. Ich schätze, für den Herrn des Hauses und sein Gefolge ist immer noch Platz.«

Cædmon fuhr fast unmerklich zusammen, denn »Gefolge« war nicht ganz der passende Ausdruck. Doch Prinz Henry lachte nur, zog sich den Helm vom Kopf und sprang aus dem Sattel. »Notfalls kann dein Gefolge ja in der Halle im Stroh nächtigen, Cædmon.«

Ine hatte keine Ahnung, wen er vor sich hatte, und entgegnete kopfschüttelnd. »Da ist auch alles voll.«

Wulfnoth und Ælfric saßen ebenfalls ab, und der jüngere Bruder bemerkte grinsend: »Tja, mein Prinz … Bleibt immer noch der Heuboden.«

Ine starrte den Sohn des Thane mit offenem Mund an, dann den jungen Normannen, stammelte eine Entschuldigung und brachte hastig die Pferde in den Stall. Odric, sein Bruder Elfhelm und Gorm, die Cædmon jetzt meistens begleiteten, folgten ihm mit den übrigen Tieren.

Cædmon führte seine Söhne und seinen Gast Richtung Zugbrücke. »Ich hoffe, du übst Nachsicht, Henry. Ganz gleich, wie mein Stallknecht darüber denkt, wir werden schon ein standesgemäßes Bett für dich finden. Und wer immer es räumen muß, wird es gern tun.«

Der knapp achtzehnjährige Prinz sah ihn von der Seite an und grinste. »Wie kannst du so sicher sein?«

»Weil die Ehre aller Voraussicht nach meine sein wird.«

Lachend überquerten sie die schlüpfrigen, vereisten Bohlen der Brücke. Von dem steilen Erdwall, auf dem der Burgturm sich erhob, löste sich etwas, das wie eine große Schneekugel aussah, und walzte auf sie zu. Vor ihren Füßen rollte es aus und hatte plötzlich Arme und Beine.

»Vater! Du bist zu Hause!«

»Matilda!« Er hob sie hoch und wirbelte sie durch die Luft, wobei die ein oder andere Schneeschicht von ihr abfiel. Sie jauchzte, legte die Arme um seinen Hals und drückte ihre gerötete, samtweiche Kinderwange an seine. »Du kratzt!«

»Und du machst mich ganz naß«, konterte er, setzte sie auf seinen linken Arm und trug sie die Treppe hinauf. »Was wird deine Mutter nur sagen, wenn sie dich so sieht?«

»›Matilda! Wie du wieder aussiehst‹, schätze ich.« So treffend ahmte sie den halb nachsichtigen, halb vorwurfsvollen Tonfall ihrer Mutter nach, daß ihr Vater, ihre Brüder und der Prinz wieder lachen mußten. Cædmon küßte sie verstohlen auf die Wange. Auch wenn er es nie offen zugegeben hätte, gestand er sich selbst doch ehrlich, daß er keinen seiner Söhne so liebte wie dieses kleine Mädchen. Äußerlich glich sie ihm sehr, hatte große, tiefblaue Augen, und die langen blonden Zöpfe erinnerten ihn an Hyld in dem Alter, waren nur einen Ton dunkler, eben von exakt der gleichen Farbe wie seine Haare. Doch sie hatte nicht nur den scharfen Verstand, sondern auch das sanftmütige, großzügige Naturell ihrer Mutter geerbt, und darum machte er sich keine Gedanken, daß die allzu große Nachsicht, mit der die ganze Welt ihr begegnete, sie verderben könnte. Jedes Mitglied seines Haushaltes, vor allem aber seiner Familie, vergötterte Matilda. Seit es sie gab, hatte Ælfric alle Ressentiments, die er seinen ehelichen Geschwistern gegenüber je gehegt haben mochte, stillschweigend begraben, Wulfnoth hatte seine scheinbar so unüberwindliche Scheu vor der Welt abgelegt, je mehr er in die Rolle des großen Beschützerbruders hineingewachsen war, und Richard, der nur ein gutes Jahr älter war als seine fünfjährige Schwester, war ihr glühendster Verehrer und verläßlicher Komplize in allem, was sie ausheckte.

»Wo ist dein Bruder, hm?« fragte Cædmon, während er mit der Schulter die Tür aufstieß und die Halle betrat.

»Bei Bruder Oswald«, klärte sie ihn auf. »Er muß doch jetzt lesen lernen.«

Cædmon nickte zerstreut und sah sich ein wenig entsetzt in seiner Halle um. Es wimmelte von Menschen. Dichtgedrängt saßen sie auf den Bänken, selbst die zusätzlich aufgestellten Tische boten nicht genug Platz. In Gruppen hockten die Leute auf Decken im Stroh, Kinder tobten, Säuglinge plärrten, Hunde bellten, und es herrschte ein wahrhaft babylonisches Stimmengewirr.

»Du lieber Himmel …«, murmelte Cædmon matt. »Ist das ein Jahrmarkt?«

Matilda schüttelte den Kopf. »Nein, Mutter sagt, es heißt ›Einquartierung‹.« Sie hob das Kinn und sah mißfällig zu Henry hinüber. »Wieso lachst du über mich? Wer bist du überhaupt?«

»Das ist Henry fitz William, Matilda, der Sohn des Königs und deiner Patentante«, klärte Wulfnoth sie auf. »Und du mußt ein bißchen höflicher zu ihm sein, denn er ist ein Prinz.«

»Oh.« Sie schlug eine ihrer rundlichen Hände vor den Mund. »Entschuldige bitte, Prinz Henry fitz William.«

Er verneigte sich galant vor ihr. »Nein, du hast schon ganz recht, Matilda. Es war unfein von mir, über dich zu lachen. Ich muß mich entschuldigen.«

Sie strahlte ihn an und klopfte ihrem Vater beiläufig auf die Schulter. »Laß mich runter.«

Cædmon stellte sie auf die Füße, sah sich fasziniert in dem wilden Durcheinander um und suchte unter all den Menschen erfolglos nach seiner Frau.

Matilda hatte derweil ihre großen Brüder nacheinander mit einem sehr feuchten Kuß huldvoll begrüßt, stand nun vor Henry und sah zu ihm auf. »Meine Patentante war deine Mutter?«

Er nickte. »So ist es.«

»Du mußt sehr traurig sein, daß sie gestorben ist.«

Er hockte sich zu ihr herunter und sah ihr in die Augen. »Ja, schon. Aber es ist jetzt über zwei Jahre her, weißt du. Mit der Zeit wird es besser. Man ist jeden Tag ein bißchen weniger traurig.«

»Was allerdings nicht für den König gilt«, murmelte Ælfric auf normannisch.

Cædmon warf ihm einen warnenden Blick zu, aber ehe er etwas sagen konnte, kam Alfred durch das Menschengewirr auf sie zu. »Cædmon!« Lächelnd und ohne seine frühere Unbeholfenheit verneigte er sich vor Henry. »Willkommen in Helmsby, mein Prinz. Jungs.« Er nickte seinen Neffen zu, ehe er sich wieder an Cædmon wandte. »Bitte entschuldige, gestern haben wir noch zehn neue bekommen. Aber ich werde sie schon verteilen, keine Bange. Es dauert nur ein bißchen.«

»Noch einmal zehn?« fragte Cædmon ungläubig. »Wer hat das angeordnet?«

»Rate.«

»Lucien …«

»Natürlich. Wir haben jetzt alles in allem zweiundvierzig … Gäste hier, abgesehen von den Leuten aus Metcombe. Dein Schwager und die schöne Beatrice hingegen beherbergen sieben, heißt es. Allesamt normannische Offiziere, versteht sich.«

Cædmon seufzte. »Und kriegen wir alle über den Winter?«

»Ich denke schon. Wenn wir uns ein bißchen am Riemen reißen und keiner am Honigtopf nascht«, schloß er mit einem vielsagenden Blick auf seine Nichte.

Matilda stand immer noch an Henrys Seite. Der festgepappte Schnee in ihren Haaren und der Kleidung war geschmolzen, und aus ihren Zöpfen tropfte es. Treuherzig lächelte sie zu ihrem Onkel empor, sah dann an ihm vorbei und schnitt eine koboldhafte Grimasse. »Da kommt Mutter.«

Cædmon fuhr auf dem Absatz herum, trat seiner Frau entgegen und schloß sie ungeniert in die Arme. Einen kurzen Moment standen sie eng umschlungen, ohne zu reden, tauschten ein Lächeln tiefster Vertrautheit, und dann machte Aliesa sich los, um die anderen Ankömmlinge zu begrüßen. Schließlich sah sie auf ihre Tochter hinab und schüttelte seufzend den Kopf. »Matilda! Wie du wieder aussiehst.« Sie wunderte sich, warum die jungen Männer über ihre Ermahnung lachten, und erklärte: »Sie wird sich den Tod holen, wenn sie bei der Kälte immerzu in nassen Sachen herumläuft. Wo ist die Amme, Matilda?«

»Ich weiß nicht. Ich hab sie nach dem Frühstück abgehängt und seither nicht mehr gesehen.«

»Ah ja. Nun, Wulfnoth, dann hast du die Ehre, deine Schwester nach oben zu begleiten und dafür zu sorgen, daß sie trockene Sachen anzieht.«

»Ähm … ich?« fragte der Fünfzehnjährige entsetzt.

»Ganz recht. Wie du siehst, haben die Mägde alle Hände voll zu tun. Und da du Matildas Eskapaden so erheiternd findest, darfst du dich ihr noch ein wenig länger widmen. Geh mit Wulfnoth, Engel. Reiß ihm nicht aus und versuch, ihn nicht um den Verstand zu bringen, ja?« Sie fuhr ihrer Tochter liebevoll über den Kopf, und Matilda nahm Wulfnoths Hand und zog ihn quer durch das bunte Treiben zur Treppe.

»Am besten, wir gehen nach oben, und ich lasse uns etwas Heißes heraufbringen«, schlug Aliesa vor. »Ihr müßt ganz durchfroren sein.« Sie wandte sich ab, aber ehe sie ihr folgten, legte Cædmon seinem Ältesten die Hand auf den Arm und nickte auf eine dunkle Ecke am hinteren Ende der Halle zu. »Dort drüben ist deine Mutter mit zweien deiner Brüder, Ælfric. Geh sie begrüßen und vergewissere dich, daß sie alles hat, was sie braucht. Dann komm nach.«

Ælfric wirkte nicht begeistert, folgte dem Wunsch seines Vaters aber widerspruchslos. Mit siebzehn war er immer noch ein Hitzkopf und oft genug ein unbedachter Draufgänger – zwei Gründe, warum Rufus ihn so gern um sich hatte und ihn nur zögerlich für ein paar Tage entlassen hatte –, aber Ælfric hatte viel gelernt in den Jahren am Hof. Manchmal dachte Cædmon, daß der Junge seine eigenen Schwächen besser kannte als die meisten anderen Menschen, und er ging mit der ihm eigenen Sturheit dagegen an.

 

»Wie schön, daß du gekommen bist, Henry.« Aliesa reichte dem Prinzen einen versilberten Becher. Sie saßen an dem Tisch, den es seit einigen Jahren in Cædmons und Aliesas geräumiger Kammer gab, weil sie manchmal gern allein blieben und sich gegenseitig etwas vorlasen oder redeten oder musizierten. »Wie geht es deinem Vater?«

Henry stellte den glühend heißen Becher hastig ab und wärmte sich die Hände lieber über dem Kohlebecken, das gleich neben ihm stand. »Er … na ja. Gesundheitlich geht es ihm besser. Endlich hört er auf Malachias ben Levi und hält eine strenge Diät ein. Er hat zwar nicht an Gewicht verloren, aber die Beschwerden haben nachgelassen. Das hebt auch seine Stimmung. Ein wenig.«

Aliesa lächelte ihn warm an. »Welch ein Glück, daß er dich hat. Du und dein Bruder Rufus müßt ihm ein großer Trost sein.«

»Ja, das glaube ich auch«, warf Cædmon ein. »Aber wie immer versteht es der König, seine Gefühle tief zu verbergen. Jedenfalls seine schöneren Gefühle.«

Sie nickte und drückte kurz seine Hand. »Du mußt Geduld mit ihm haben. Ihr alle müßt das. Er hat so viele Rückschläge erlitten in den letzten Jahren. Erst Odo. Dann der Tod der Königin und Prinz Roberts erneute Rebellion. Und seine Feinde haben ihm keinen Tag Ruhe gegönnt. Es ist verständlich, daß der König verbittert ist.«

»Vielleicht erzählst du das den Leuten von Metcombe, deren Ernte und Häuser er verbrannt hat. Ich bin sicher, sie werden ihn in ihre Gebete einschließen, wenn du ihnen erklärst, wie schwer der König es hat«, antwortete Cædmon sarkastisch.

Henry warf ihm einen unbehaglichen Blick zu. »Aber du weißt doch genau, warum er das getan hat.«

»Ja, Henry, natürlich weiß ich das, aber deswegen muß es mir nicht gefallen, oder?«

Als sie im vergangenen Sommer die Nachricht erreicht hatte, daß König Knut von Dänemark eine Flotte ausrüste, um England zu erobern und den Anspruch auf die englische Krone, den er geerbt zu haben glaubte, durchzusetzen, hatte der König zwei Dinge getan, um Knuts ehrgeizige Pläne zu vereiteln: Er hatte jeden Mann zu den Waffen gerufen, der ihm dienstpflichtig war, und zusätzlich Söldner in England und der Normandie angeworben, so daß er über eine größere Armee verfügte als die, mit der er selbst England erobert hatte. Da die dänische Flotte aber auf sich warten ließ und es unmöglich war, dieses ganze Heer längerfristig an einem Ort zu beköstigen, hatte der König es auf seine Güter und die seiner Vasallen aufgeteilt. So kam Cædmon zu dem zweifelhaften Vergnügen, zweiundvierzig fremde Soldaten, teilweise finstere Gesellen, unter seinem Dach zu beherbergen. Die zweite Maßnahme, die der König ergriffen hatte, war noch ein wenig drastischer: Er gab Befehl, die Dörfer entlang der Ostküste und an den Ufern der schiffbaren Flüsse mitsamt ihren prallgefüllten Scheunen in Schutt und Asche zu legen, damit die Dänen, falls sie vor dem Winter kamen, hungerten. Die Dänen waren nicht gekommen, den Hunger litten statt dessen die unglückseligen Bewohner der verwüsteten Dörfer. Der Sheriff von Norfolk, Lucien de Ponthieu, hatte die Befehle seines Königs ebenso gründlich ausgeführt wie damals in Northumbria.

Cædmon, Aliesa und Alfred hatten für die betroffenen Dörfer, die zu ihren Ländereien gehörten, einen Notplan aufgestellt und die obdachlosen Menschen vorübergehend auf die Dörfer im Landesinneren verteilt. Die Leute aus Metcombe waren nach Helmsby gekommen. Sowohl im Ort als auch auf der Burg waren alle zusammengerückt. Aber Cædmons Geldreserven schmolzen wieder einmal dahin wie Schnee in der Frühlingssonne, und der König hatte die Steuern erhöht. Der Thane wußte nicht so recht, wie es weitergehen sollte.

Henry rieb sich die Stirn. »Gott, du hast recht. Immer versuche ich, ihn zu verteidigen …«

»Und das ist gut und richtig so«, sagte Cædmon mit Nachdruck. »Vor jedem anderen außer euch beiden tue ich das gleiche. Auch vor Rufus. Du bist der einzige von euch, der seinen Vater genug liebt, daß es nicht schadet, wenn du gelegentlich ein paar offene Worte über ihn hörst. Bei Rufus ist das anders und bei deinen Schwestern auch.« Denn anders als Rufus und vor allem Robert, anders als fast jeder Mann, den Cædmon kannte, hatte Henry keine Angst vor dem König. Warum das so war, hätte er nicht zu sagen vermocht, er wußte nur, daß es der Fall war, und darum konnte er mit Henry anders reden als mit Rufus.

»Ich weiß auch nicht«, fuhr der Prinz unsicher fort und seufzte. »Manchmal … manchmal tut er mir so furchtbar leid. Er ist einsam. Dabei hat er Söhne und zumindest noch einen vertrauenswürdigen Bruder und Freunde, echte Freunde, wie dich oder Montgomery, aber trotzdem ist es so. Ich habe noch nie einen Mann gesehen, der so um seine Frau trauert wie mein Vater.«

»Nein, ich auch nicht«, stimmte Cædmon zu.

»Wieso habe ich das Gefühl, daß ihr beide ihn in Schutz nehmt, um einmal wieder irgend etwas zu entschuldigen, das er getan hat?« fragte Aliesa argwöhnisch.

Cædmon und Henry wechselten einen Blick, und der Thane antwortete seiner Frau: »Die Beratungen des Hofes haben deswegen dieses Mal so lange gedauert, weil der König sich etwas ausgedacht hat, das vollkommen beispiellos ist. Ich bin mir noch nicht sicher, ob es genial oder wahnsinnig ist …«

»Ein bißchen von beidem vielleicht«, sagte Henry.

»Jedenfalls wird es Unmut erregen. Womöglich Schlimmeres.«

»Was hat er vor?« fragte Aliesa. Auch sie kannte den König gut genug, um immer mit allem zu rechnen.

Ehe einer der Männer antworten konnte, wurde ohne Vorwarnung die Tür aufgerissen, und Ælfric stürzte herein. »Vater, komm mit, bitte. Schnell.« Und als Cædmon und Henry aufsprangen, fügte er kopfschüttelnd hinzu. »Nein, ich glaube, es ist besser, du bleibst hier, Henry. Es gibt Ärger mit diesem Gesindel in der Halle.«

Cædmon zog sein Schwert und nickte dem Prinzen zu. »Tu, was er sagt.« Dann folgte er seinem Sohn die Treppe hinunter.

Die Halle sah immer noch aus wie Sodom und Gomorrha, aber im Innenraum des Hufeisens aus Tischen hatte sich eine kleine Freifläche gebildet, um die herum ein dichter Ring von Zuschauern stand. Cædmon drängte sich eilig hindurch, und wer ihm nicht sogleich Platz machte, bekam einen Ellbogen zwischen die Rippen.

Vorne angelangt, erfaßte er die Lage auf einen Blick. Ein ihm unbekannter normannischer Soldat lag reglos am Boden, zwei weitere hielten Alfred an den Armen gepackt, und ein vierter, ein vierschrötiger Kerl mit Glatze, hatte dem Steward das blanke Schwert auf die Brust gesetzt. Cædmon packte den Schwertarm und riß ihn zurück.

»Was geht hier vor? Laßt den Steward los, ihr Strolche, wird’s bald?« Statt zu gehorchen, sprang der Glatzkopf einen Schritt zurück und hob sein Schwert. Ehe Cædmon ihn fragen konnte, ob er noch bei Trost sei, griff der Normanne an. Die Zuschauer brachten sich in Sicherheit, der Ring wurde größer. Cædmon parierte den ungeschickten Schwertstoß ohne jede Mühe, konterte, und als sein Angreifer rückwärts taumelte und die Arme ausbreitete, um das Gleichgewicht zu halten, trat er ihm das Schwert aus der Hand und setzte ihm seine eigene Klinge an die Kehle. Aus dem Augenwinkel sah er eine Bewegung, und noch ehe Alfred warnend seinen Namen rufen konnte, hatte Cædmon mit der freien Linken das Wurfmesser aus dem Schuh gezogen, ließ es aus dem Handgelenk vorschnellen, und es drang tief in die Schulter des Soldaten, der sich seitlich hatte anschleichen wollen. Der Mann schrie auf, wollte die Hand auf die Wunde pressen, und als er an den kurzen Messerschaft stieß, schrie er wieder. Alfred lachte ihn aus, schickte den letzten verbliebenen Normannen mit einem beachtlichen Haken zu Boden, der Cædmon daran erinnerte, daß Ælfric Eisenfaust auch Alfreds Urgroßvater war, und zu spät, aber zu allem entschlossen stürmten Cædmons Housecarls den Ring.

Er betrachtete sie kopfschüttelnd. »Großartig, Männer. Ich bin beeindruckt.«

»Ähm, Verzeihung, Thane, aber wir waren so ausgehungert und …«, begann Odric, doch Cædmon schnitt ihm mit einer Geste das Wort ab.

»Was hat das zu bedeuten?« fragte er den Glatzkopf, der versuchte, einen langen Hals zu machen, um jeden Kontakt mit der Schwertspitze zu vermeiden. Der Mann antwortete nicht.

Alfred wies auf den Bewußtlosen am Boden. »Der verdammte Bastard wollte einer der Mägde an die Wäsche. Er hat ihr Kleid zerrissen. Dieses Pack versteht einfach nicht, was ein Nein bedeutet. Ich hab ihn mir vorgenommen, und da sind seine drei Kumpane über mich hergefallen. Es tut mir leid, daß du damit belästigt worden bist, Cædmon. Es kommt nicht wieder vor. Heute war mit Sicherheit das letzte Mal, daß ich unbewaffnet in die Halle hinuntergekommen bin.«

»Ist so was schon öfter passiert?« fragte der Thane.

»Ab und an. Diese vier sind die Schlimmsten. Sie stehlen auch Essen. Notfalls den Kindern.«

Cædmon wandte sich an den Glatzkopf. »Zu wem gehört ihr?« fragte er auf normannisch.

»Hugh de Ryes.«

»Kenne ich nicht. Wo ist er?«

»Beim Sheriff von Norfolk.«

»So, Hugh de Ryes residiert also in Fenwick, und sein Lumpenpack schickt er nach Helmsby, ja?« Er ließ die Waffe sinken und ruckte sein Kinn zur Tür. »Raus mit euch.« Er wies auf den Mann am Boden. »Vergeßt ihn nicht, und nehmt jeden mit, der zu euch gehört. Na los, worauf wartet ihr?«

Der Glatzkopf hob entrüstet das Kinn. »Das könnt Ihr nicht machen! Dazu habt Ihr kein Recht, wir sind hier einquartiert! Befehl des Königs!«

»Dann schlage ich vor, du gehst zum König nach Gloucester und beschwerst dich. Oder geh zu Hugh de Ryes, mir ist es gleich, aber wenn ihr nicht auf der Stelle verschwindet, lasse ich jeden von euch auspeitschen. Dazu habe ich das Recht, weißt du.« Jedenfalls nahm er das an. Es gab keinen Präzedenzfall für eine Situation wie diese.

Die Normannen waren klug genug, es lieber nicht darauf ankommen zu lassen. Murrend hoben sie ihren besinnungslosen Kameraden auf, holten ihr Zeug und machten sich davon.

»Odric, Edwin, geht ihnen nach und vergewissert euch, daß sie wirklich verschwinden.«

Die beiden Housecarls eilten davon.

Cædmon wandte sich an seinen Steward. »Ich denke, es wäre ratsam, wenn wir unsere eigenen Leute zu einem Wachdienst einteilen, Alfred. Solange wir so viele Fremde in Helmsby haben, müssen andere Regeln gelten als sonst.«

»Ich glaube, du hast recht, Thane.«

»In der Halle ist es zu voll. Quartiere so viele wie möglich in die Außengebäude aus, den Heuboden, die Futterscheune, die Viehställe, das Brauhaus und so weiter. Aber gekocht und geheizt wird nur hier, wir wollen keine Brände. Steck die englischen und normannischen Soldaten nicht zusammen, das gibt nur Ärger. Dann ruf die Housecarls zusammen und jeden Mann aus Helmsby und aus Metcombe, der dir geeignet scheint, und teil sie zur Wache ein, Tag und Nacht. Ab sofort wird das Bier verdünnt, ich will nicht, daß hier irgendwer betrunken ist. Ähm, das gilt selbstverständlich nicht für deinen Vater, aber er muß diskret sein. Wo ist er überhaupt?«

»Wo schon? Bei Tante Edith in Blackmore, natürlich.«

Cædmon grinste. »Er ist noch ganz schön unternehmungslustig für sein Alter, oder? Ich glaube, wir trinken nicht genug, Vetter. Also weiter: Wer sich nicht zu benehmen weiß oder deine Befehle mißachtet, wird bestraft oder vor die Tür gesetzt. Hab keine Scheu, hart durchzugreifen. Das hier sind Söldner, keine harmlosen Bauern, die in den Krieg ziehen, weil sie im Fyrd dienen müssen. Wenn du davon ausgehst, daß jeder dieser Kerle dir bedenkenlos die Kehle durchschneiden würde, um an deine Börse zu kommen, tust du sicher einigen unrecht, aber du lebst länger. Die meisten dieser Kerle sind Abschaum, verstehst du. Der König befiehlt, daß wir diesen Abschaum in unser Haus aufnehmen und unsere Frauen und Töchter ihre Gesellschaft erdulden müssen, aber ich will verdammt sein, wenn ich unter meinem eigenen Dach nicht mehr ruhig schlafen kann.«

Alfred hatte in regelmäßigen Abständen genickt. »In Ordnung. Es soll alles so geschehen, wie du gesagt hast.« Er atmete tief durch und lächelte plötzlich befreit. »Gott, bin ich froh, daß du nach Hause gekommen bist, Thane.«

Cædmon klopfte ihm grinsend die Schulter. »Nach dem, was ich eben gesehen habe, würde ich sagen, du kommst auch ganz gut allein zurecht. Was anderes, Alfred. Wann ist das nächste Folcmot?«

»Am Sonnabend. Übermorgen. Warum?«

Cædmon seufzte. »Diese Einquartierung ist nichts, verglichen mit dem, was der König sich als nächstes ausgedacht hat. Aber darüber reden wir später. Laß uns erst für ein bißchen Ordnung in der Halle sorgen.«

»Einverstanden.« Alfred winkte Gorm und Elfhelm und die anderen zu sich, und sie steckten die Köpfe zusammen.

Cædmon wandte sich an seinen Ältesten, der die ganze Szene aus der vorderen Zuschauerreihe verfolgt hatte. »Gut gemacht, Ælfric.«

»Ach, ich weiß nicht«, sagte der junge Mann niedergedrückt. »Ich hätte das gleiche tun können wie du. Aber als sie Alfred überwältigten, dachte ich, sie würden ihn töten.«

»Das hätten sie auch getan. Und dich vielleicht auch. Ich weiß, daß du gut und schnell bist, aber für solches Gelichter braucht man ein bißchen mehr Erfahrung als du hast.«

Ælfric nickte mit einem etwas gedämpften Grinsen. »Vor allem hab ich keine solche Wurfhand wie du. Ich werde nie begreifen, wie du das machst.«

Cædmon lachte leise. »Gönn mir meine kleinen Geheimnisse. Sieh nur, da sind Bruder Oswald und Richard.«

Der Zuschauerring hatte sich aufgelöst, sobald die Vorstellung vorüber war, und so hatten der schmächtige Mönch und der kleine Junge keine Mühe, zu ihnen zu gelangen. Cædmon trat ihnen ein paar Schritte entgegen.

»Richard!« Er hob seinen Erben hoch, küßte ihm die Stirn und stellte ihn wieder auf die Füße. Richard war, so wußte Cædmon, kein Freund von Gefühlsbekundungen in der Öffentlichkeit, ließ sich überhaupt nur von seiner Mutter und seiner Schwester freiwillig küssen, und auch das bloß, wenn niemand zusah. Er hatte keinen leichten Stand als jüngster Sohn des Thane, pochte bei jeder Gelegenheit auf seine Männlichkeit und konnte es nicht erwarten, endlich groß zu werden wie Ælfric und Wulfnoth.

Er machte einen formvollendeten kleinen Diener vor seinem Vater, strich sich die Haare aus der Stirn und strahlte ihn dann aus diesen bestürzend grünen Augen an. »Willkommen zu Hause, Vater.«

»Danke, mein Junge.« Cædmon begrüßte auch Bruder Oswald und befragte Lehrer und Zögling nach ihrem Befinden.

»Es könnte kaum besser sein«, erwiderte Oswald, legte Richard die Hand auf die Schulter und sah auf ihn hinab. »Nur mit den Buchstaben will es noch nicht so recht klappen, nicht wahr? Wir haben einen ausgesprochen wachen Verstand, aber wir treiben uns lieber am Fluß und im Wald herum.«

Cædmon zwinkerte Richard verschwörerisch zu. »Offenbar kommst du in der Hinsicht mehr auf deinen Vater als auf deine Mutter.«

Richard wechselte diplomatisch das Thema. »Ist Wulfnoth auch mit dir gekommen?«

»Ja. Und Prinz Henry. Komm mit nach oben. Du auch, Oswald. Es gibt Neuigkeiten, zu denen ich gern deine Meinung hören würde.«

 

Die Hundertschaft von Helmsby bestand aus Metcombe, Helmsby und einer Handvoll kleiner Weiler in der näheren Umgebung, und so waren fast alle Männer, die sich einmal im Monat zum Folcmot in Helmsby versammeln mußten, ohnehin schon dort. Die übrigen stellten sich im Laufe des Samstag morgen ein. Alle, die beim Gerichtstag nichts zu suchen hatten, schickte Cædmon aus der Halle. Er riet den Frauen und Kindern und Unfreien, sich warm anzuziehen und für die Dauer des Folcmot in die Kirche zu gehen, denn dort sei genug Platz für alle. Den einquartierten Söldnern riet er, im Dorf ja keinen Ärger zu machen. So saß er schließlich allein mit seiner Frau, seinem Steward, seinen älteren Söhnen und dem greisen Vater Cuthbert an der hohen Tafel in der Halle, und die freien Männer der Hundertschaft hockten auf den Bänken oder im Stroh.

»Es ist ein harter Winter für uns alle«, sagte Cædmon, nachdem er die Versammlung begrüßt hatte, »und ich kann nicht versprechen, daß der Frühling viel besser wird. Unsere Scheunen und Geldbeutel sind fast leer, und ich weiß, daß viele von euch fürchten, daß die Vorräte nicht über den Winter reichen. In solchen Zeiten gedeihen Neid und Mißgunst leider besonders gut, und ich appelliere an euch alle, euch des göttlichen Gebots der Nächstenliebe zu erinnern und dieses Folcmot vorläufig mit kleinlichen Nachbarschaftstreitigkeiten zu verschonen, denn wir haben genug ernste Sorgen. Und noch ein Gebot möchte ich euch in Erinnerung rufen: Du sollst nicht stehlen. Der Steward und ich sind uns einig, daß Diebstahl in schlechten Zeiten wie diesen noch unverzeihlicher ist als sonst, und darum wird jede hier verhandelte Aneignung fremden Eigentums bis auf weiteres als schwerer Diebstahl betrachtet. Das heißt, der überführte Dieb kommt nicht mit Rückgabe des Diebesgutes oder Zahlung einer Entschädigung davon, sondern wird dem Sheriff und dem Gericht der Grafschaft überstellt. Ich nehme an, damit seid ihr alle einverstanden.«

Nicken und zustimmendes Gemurmel waren die Antwort.

Cædmon wandte sich an Alfred. »Sei so gut, verhandele du die laufenden Sachen.«

»Vor zwei Monaten hat Wulfstan of Barton seinen Nachbarn Cyneheard Rotschopf beschuldigt, ihm eine Kuh gestohlen zu haben«, begann Alfred ohne Vorrede. »Weder damals noch zum nächsten Folcmot ist Cyneheard erschienen, um zu der Anschuldigung Stellung zu nehmen. Ist er heute hier?« Er sah fragend in die Richtung, wo die Männer aus dem kleinen Dorf Barton zusammenstanden. Ein schmächtiger, auffallend rothaariger Mann trat vor und schüttelte den Kopf. »Nein.«

Alfred seufzte. »Du bist sein Bruder. Cynewulf, richtig?« Der Steward kannte jeden freien Mann der Hundertschaft mit Namen, wußte, wer mit wem verwandt und verschwägert war, und hatte alle laufenden und vergangenen Rechtsstreitigkeiten im Kopf. Cædmon fand, sein Vetter hatte ein erstaunliches Gedächtnis.

Der Mann aus Barton nickte. »So ist es. Und ich und jeder aufrechte Mann aus Barton ist gewillt zu schwören, daß mein Bruder kein Dieb ist.«

»Du weißt genau, daß das nichts nützt, solange er hier nicht erscheint. Richte ihm aus, nächsten Monat ist seine letzte Gelegenheit. Kommt er zur dritten Vorladung wieder nicht zum Folcmot, wird er ein Gesetzloser. Sag ihm, er soll es sich gut überlegen. In Zeiten wie diesen erschlägt ein Mann den anderen nur für die Kleider, die er am Leib trägt, und einen Gesetzlosen kann jeder ungestraft töten. Nächster Fall. Edmund Zimmermann beschuldigte Osfrith Lügner, ihm den Preis für ein neues Scheunentor schuldig geblieben zu sein. Da Osfrith ein bekannter Eidbrecher ist, konnte er die Klage nicht durch einen Unschuldsschwur abwenden, und ein Gottesurteil mußte entscheiden. Vater Cuthbert, wie steht es damit?«

»Edmund wählte die Feuerprobe. Osfrith hat vorschriftsmäßig drei Tage zuvor gefastet und sich dem Gottesurteil dann vorschriftsgemäß unterzogen«, krächzte der alte Priester. »Die Wunde war nach drei Tagen nicht brandig und ist inzwischen sauber verheilt.«

Alfred nickte. »Somit ist Osfrith unschuldig.« Er ignorierte das empörte Geraune aus der Umgebung des Zimmermanns und sah zu Cædmon. »Das war’s.«

Cædmon wandte sich an die Versammlung. »Wer eine Klage vorzubringen hat, möge nun sprechen.«

Offa Offason, der älteste Sohn des Schmieds, erhob sich von seinem Platz und trat vor die hohe Tafel. Er trug eine Binde über dem linken Auge. »Winfrid Fischer hat mir ein Auge ausgeschlagen, Thane«, verkündete er erbittert.

Ungläubig sah Cædmon zu Winfrid, einem kaum achtzehnjährigen jungen Mann, der als Waise in Vater Cuthberts Haus aufgewachsen und das friedfertigste Wesen war, das Cædmon sich vorstellen konnte. »Winfrid?« fragte er.

Der Junge bedachte seinen Kläger mit einem nachsichtigen Grinsen. »Du warst sternhagelvoll und bist unglücklich in einen Weißdornbusch gefallen, Offa. Schön, der Busch steht vor meiner Hütte, aber gefallen bist du, und gesoffen hast du auch ohne mein … Einwirken.« Es gab Gelächter.

Offa verschränkte die Arme und trat wütend einen Schritt näher an die Tafel. »Ich schwöre, daß er’s getan hat, und ich will Wergeld für mein Auge!«

Cædmon versuchte, nicht zu zeigen, wie sehr er den Sohn des Schmieds verabscheute, wie groß seine Mühe war, ihm zu glauben. Er war sicher, Winfrid sagte die Wahrheit: Offa hatte den Verlust des Auges seiner Trunkenheit zuzuschreiben, wollte aber ein Geschäft daraus machen. Doch was Cædmon glaubte oder nicht, war ohne jeden Belang.

»Also bitte, schwöre.«

»Ich schwöre vor Gott und allen Heiligen, daß ich nicht aus Haß oder Mißgunst oder unrechtmäßiger Habgier Klage erhebe«, begann Offa. Er leierte die festgeschriebene Formel ausdruckslos herunter. »Und ich schwöre vor Gott und allen Heiligen, daß Winfrid mir das Auge ausgeschlagen hat und mir ein Wergeld zusteht.«

»Das Wergeld beträgt zwanzig Schilling«, sagte Cædmon. »Wie steht es, Winfrid? Willst du zahlen?«

Der Junge schüttelte den Kopf. »Ich könnte nicht, selbst wenn ich wollte. Und ich bin unschuldig.«

»Du hast Zeit bis zum nächsten Folcmot, zwölf Eidhelfer zu finden.« Um sich zu entlasten, reichte es nicht, daß der Beschuldigte selbst seine Unschuld beschwor, sondern er brauchte Männer, die wiederum die Richtigkeit seiner Worte beschworen. Da Winfrid keinerlei Verwandtschaft hatte, die ihn hätte unterstützen können, würde er vielleicht Mühe haben, die zwölf Männer zu finden, denn niemand übernahm das Amt eines Eidhelfers leichtfertig. Aber notfalls würde Cædmon dem Jungen helfen, genügend Fürsprecher zu finden. Das war nicht verboten.

»Sonst noch jemand?« fragte Cædmon, und als niemand sich zu Wort meldete, fuhr er fort: »Bevor wir zur Planung für das Winterpflügen und anderen Angelegenheiten von allgemeinem Interesse kommen, muß ich euch etwas mitteilen.«

»Wie wär’s zur Abwechslung mal mit einer guten Neuigkeit, Thane?« rief eine biergeölte Stimme aus den hinteren Reihen und erntete Applaus und Gelächter.

Cædmon winkte grinsend ab und wurde gleich wieder ernst. »Vielleicht beim nächsten Mal, Byrtnoth«, antwortete er. »Hört zu: Der König möchte wissen, wie es um England und die Engländer bestellt ist. Er möchte wissen, wem wieviel Land gehört, wieviel Vieh, wie viele Sklaven, wie viele Mühlen, wieviel Wald oder Weideland, wer wem wieviel Pacht schuldet und so weiter und so fort. Er will wissen, wie diese Dinge zu Zeiten von König Edward standen, wie im Jahr der Eroberung, wie heute.«

»Warum will er nicht wissen, wie es zu Zeiten von König Harold war?« rief eine andere Stimme, und wieder gab es Beifall und Gejohle.

Gott, dachte Cædmon ungehalten, warum können sie nicht ein wenig disziplinierter sein und einfach zuhören? Warum können sie nicht wenigstens hin und wieder einmal ein ganz kleines bißchen normannischer sein? Aber er ließ sich seine Verärgerung nicht anmerken, sondern fuhr fort: »Darum wird der König Männer ausschicken, die durchs Land reisen und eine Befragung durchführen. Das betrifft jeden von euch und mich ebenso, auch jeden Earl, Abt oder Bischof. Für jedes Dorf werden sechs vertrauenswürdige Männer bestimmt, die vor diesen Beamten des Königs eine beeidete Aussage über ihre Vermögensverhältnisse und die ihrer Nachbarn machen. Wer diese Männer sein sollen, werde ich mir gründlich überlegen und lasse es euch nächsten Monat wissen. Die Beamten des Königs werden alles, was sie erfahren, aufschreiben, und ihre Aufzeichnungen werden in der Kanzlei des Königs zusammengetragen.«

Es war totenstill geworden. Cædmon wechselte einen Blick mit Aliesa, ehe er die brisanteste seiner Neuigkeiten aussprach: »Nach der Auswertung dieser Aufzeichnungen werden die Steuern neu berechnet.« Es gab einen Tumult. Die Männer sprangen von den Bänken auf, redeten aufgeregt durcheinander, schimpften, gestikulierten wild und machten ihrer Empörung Luft. Viele riefen Fragen zu Cædmon hinüber. Er wartete, bis der Lärm erstarb, und als es beinah wieder still war, sagte er betont leise: »Ich verstehe eure Besorgnis, und ich kann auch nicht behaupten, daß ich über die ganze Sache besonders glücklich bin. Aber weder ihr noch ich werden gefragt. Und es ist letztlich auch keine solche Katastrophe. Sie werden herkommen, ihre Fragen stellen, eure Antworten aufschreiben und wieder verschwinden. Nur eins müßt ihr beherzigen: Ihr dürft sie unter gar keinen Umständen anlügen. Denkt daran, daß ihr eure Aussagen unter Eid macht, wie hier beim Folcmot. Wer lügt, versündigt sich nicht nur gegen den König, sondern auch gegen Gott. Wie Gott das ahnden wird, weiß ich nicht. Der König wird jeden Meineidigen blenden und kastrieren lassen. Es werden Normannen sein, die kommen. Also seid möglichst höflich und laßt euch eure Erbitterung nicht anmerken, um so schneller verschwinden sie wieder. Fragen?«

Sie hatten eine Menge Fragen, und Cædmon antwortete geduldig, soweit er dazu in der Lage war. Aber welche Angaben zu einem Feld gemacht werden sollten, dessen Eigentümerschaft umstritten war, ob die Beamten des Königs vor oder nach dem Schlachten kommen würden und vor allem, wie genau die Steuern in Zukunft berechnet werden sollten, all das wußte Cædmon auch nicht.

»Aber was geht es den König an, wie viele Schafe ich besitze? Oder wie viele Tage Arbeit pro Woche ich Euch für das Land schulde, das ich von Euch gepachtet habe, Thane? Wieso will er das wissen?«

»Das weiß ich nicht, Byrtnoth. Aber er ist der König und kann von jedem seiner Untertanen erfragen, was immer seine Neugier erweckt.« »Mich kann er ruhig fragen, ich habe nichts zu verbergen«, verkündete der Müller von Metcombe. Hengest war ein alter Mann geworden, aber er stand immer noch aufrecht, seine Stimme war nach wie vor kräftig, und sein Wort hatte unverändert Gewicht bei den Nachbarn. »Alles, was ich je besessen habe, hat er mir schon genommen, dieser verfluchte, räuberische Bastard!«

Cædmon sah ihm in die Augen. »Wir werden Metcombe wieder aufbauen, wie wir es immer getan haben, und ich habe euch gesagt, ich werde euch mit Saatgut unterstützen, so gut ich kann. Darüber hinaus dulde ich in meiner Halle keine Beleidigungen gegen König William.« Er tat sein möglichstes, um den Leuten die Furcht vor dem Besuch der königlichen Beamten zu nehmen und sie zu besänftigen, aber inwieweit ihm das gelungen war, würde er wohl erst wissen, wenn die normannischen Beamten nach Helmsby kamen. Viele Männer wirkten zufrieden und gehobener Stimmung wie am Ende eines jeden Folcmots, als die Versammlung sich schließlich auflöste und sie sich auf dem kürzesten Weg zum nächsten Bierfaß machten. Aber viele Gesichter waren auch verschlossen und finster.

 

»Ich wußte nicht, daß sie meinen Vater so hassen«, sagte Henry beklommen. Auf Cædmons Vorschlag hin hatte er auf der oberen Treppenstufe gehockt und das ganze Folcmot belauscht. Cædmon fand es wichtig, daß der Prinz erfuhr, wie es um die Volkesseele bestellt war. Sie saßen im kleinen Kreis in Cædmons und Aliesas Kammer, die sie Henry für die Dauer seines Besuches überlassen hatten.

»Das stimmt nicht, die meisten hassen ihn nicht«, widersprach Aliesa. »Er ist seit zwanzig Jahren ihr König und hat sie bis jetzt immer vor den Dänen beschützt. Sie haben sich längst an ihn gewöhnt, und sie wissen ihn auch zu schätzen. Aber niemand hat es gern, wenn ein anderer in seinen Angelegenheiten herumschnüffelt und sehen will, was und wieviel er besitzt. Das verletzt den Stolz vieler Menschen.«

»›Herumschnüffeln‹ ist wohl kaum der richtige Ausdruck«, widersprach Henry hitzig. »Hier geht es um die Grundlage zur Berechnung der rechtmäßigen Steuereinnahmen der Krone!«

Wulfnoth brachte ihm einen Becher. »Hier, mein Prinz.«

Henry trank und verzog das Gesicht. »Met. Das Zeug ist zu süß für meinen Gaumen, Wulfnoth.«

»Aber es besänftigt«, erwiderte der Junge ernst.

Henry sah stirnrunzelnd zu ihm auf und lachte plötzlich. »Wackerer Wulfnoth. Du hast so eine vornehme Art, mir zu sagen, daß ich mich schlecht benehme.« Er verneigte sich reumütig vor Aliesa. »Ich wollte dich nicht anfahren. Es … hat mich nur gekränkt, daß der alte Mann meinen Vater einen ›verfluchten räuberischen Bastard‹ genannt hat.« »Denk nicht, mir ging es anders«, sagte sie.

Cædmon stand mit verschränkten Armen am Fenster. »Hengest ist und bleibt unbelehrbar. Er ist alt und lebt in der glorreichen angelsächsischen Vergangenheit. Er ist ein Aufrührer, aber er spricht nicht für die Mehrheit, glaub mir, Henry. Doch es ist, wie Aliesa sagt, die Pläne des Königs treffen die Menschen an einer empfindlichen Stelle. Je mehr Leute bei der ganzen Geschichte einen kühlen Kopf bewahren, um so besser.«

»Es wird Widerstand gegen die Befragungen geben«, sagte Alfred besorgt. »Vielleicht nicht hier, aber ganz sicher anderswo. Vieles wird davon abhängen, wie die Beamten Eures Vaters die Leute behandeln, mein Prinz. Wie vernünftig und geduldig sie sind.«

»Nun, wenigstens ein vernünftiger, geduldiger Mann wird dabeisein«, sagte Cædmon zur Decke. »Darüber hinaus gescheit, gutaussehend, unerschrocken … was noch? Ach ja. Bescheiden, natürlich.«

Alle starrten ihn verständnislos an. »Wen meinst du?« fragte Ælfric. Bruder Oswald lachte in sich hinein. »Ich fürchte, sie haben dich nach deiner Beschreibung nicht erkannt, Cædmon.«

»Du?« rief Aliesa verblüfft aus. »Der Thane of Helmsby soll mit den königlichen Schreibern durch England vagabundieren und Schafe zählen? Welcher Narr hat sich diesen Unsinn ausgedacht?«

»Ich war der Narr«, eröffnete Cædmon ihr ungerührt. »England wird für die Erhebung in sieben Bezirke unterteilt. Sieben Gruppen machen sich auf den Weg, um die Befragung durchzuführen. Eine Gruppe deckt Norfolk, Suffolk und Essex ab. Die werde ich begleiten. Vorausgesetzt, die Dänen kommen nicht vorher.«

»Aber warum willst du das tun?« fragte der Prinz verwundert.

»Um für die normannischen Schreiber und die englischen Bauern zu übersetzen. Ihnen zu helfen, einander zu verstehen, im wörtlichen wie auch in jedem anderen Sinne.« Er sah den Prinzen an. »Dafür hat dein Vater mich in seinen Dienst genommen, weißt du.«

 

Die Dänen hatten sich untereinander zerstritten, berichteten die Spione des Königs frohlockend, und daher im Augenblick keine Zeit, in England einzufallen. König Knut hatte offenbar Mühe, seine Schiffsbesatzungen beisammenzuhalten. Die sonst so unerschrockenen Dänen fürchteten sich vor einem Krieg mit dem unbesiegbaren William, und jede Nacht verschwanden ein paar Dutzend Soldaten aus Knuts Lager. Also machte Cædmon sich, wie verabredet, mit den königlichen Kommissaren auf die Reise. Seine Anwesenheit bei den Befragungen erwies sich in der Tat als segensreich und half den Leuten, ihren Argwohn und ihre Furcht zu überwinden. Trotzdem war es oft schwierig und unerfreulich. Es gab Widerstand bis hin zu blutigen Zwischenfällen. Eine solche Erhebung hatte es nie zuvor gegeben, niemand hatte je von Vergleichbarem gehört, und dementsprechend groß waren Argwohn und Empörung. Außerdem war es mühsamer, als Cædmon gedacht hätte, denn die normannischen Schreiber waren nicht selten ratlos, welche lateinischen Worte sie für die angelsächsischen Stände und die Eigenheiten des englischen Besitzrechtes anwenden sollten. Erschöpft und erleichtert kam er Mitte Juni nach Hause.

»Hast du dich so gelangweilt, daß dir graue Haare gewachsen sind, oder ist es nur Staub?« erkundigte Aliesa sich, als sie ihn in der Halle begrüßte, und lachend klopfte sie ihn ab, ehe sie zuließ, daß er sie an sich zog.

Wie immer drückte er die Nase in ihre Haare und atmete tief durch. »Man sieht auf der Straße kaum die Hand vor Augen vor lauter Staub«, erklärte er. »Wir hatten unterwegs nicht einen Tag Regen. Wie war es hier?«

Sie schüttelte den Kopf. »Keinen Tropfen. Das trockenste Frühjahr, das East Anglia je erlebt hat, meint Alfred. Er sorgt sich um die Ernte.« »Alfred sorgt sich immer um die Ernte«, entgegnete Cædmon und nahm von einer der Mägde dankend einen Becher entgegen. Seine Kehle war wie ausgedörrt. Während er trank, sah er sich um. »Wie wunderbar leer es geworden ist.«

Sie folgte seinem Blick. »Gott sei Dank, ja. Die einquartierten Soldaten sind allesamt nach Norwich abkommandiert worden, und die Leute aus Metcombe sind nach Hause gegangen, um ihre Häuser wieder aufzubauen und ihre Felder zu bestellen.«

Er nickte. »Ich weiß. Ich war ja dort. In Begleitung deines Bruders übrigens. Die Sheriffs waren gehalten, die Kommissare zu begleiten, und wie immer nahm Lucien seine Pflichten sehr ernst.«

»Habt ihr gestritten?« fragte sie besorgt.

Cædmon stellte den leeren Becher auf dem Tisch ab und setzte sich. »Nein. Wie du weißt, sind wir seit Jahren höflich zueinander. Meistens. Beatrice ist wieder guter Hoffnung, hat er erzählt.«

Sie nahm neben ihm Platz und ergriff seine Hand. »So wie ich.«

Sein Kopf ruckte hoch. »Ist das wirklich wahr? Gott, ich brauche dich nur anzusehen, und schon ist es passiert.«

Aliesa lachte leise. »Vielleicht liegt es daran, daß du mich jedesmal ›erkennst‹, wenn du mich ansiehst.«

Cædmon grinste verlegen und sagte nichts. Er hatte ein schlechtes Gewissen. Nach Matilda hatte Aliesa zwei Fehlgeburten gehabt. Inzwischen war sie fünfunddreißig, und mit jedem Jahr wurde das Risiko größer. »Es wird Zeit, daß damit Schluß ist«, murmelte er schließlich unbehaglich.

Sie hatte Mühe, sich ein süffisantes Lächeln zu versagen. »Ich werde dich zu gegebener Zeit an diesen guten Vorsatz erinnern.«

»Und wie geht es dir?«

Sie winkte ab und wechselte das Thema. »Der König wünscht, daß du so bald wie möglich zu ihm nach Westminster kommst. Eadwig war kurz nach Pfingsten zwei Tage hier und brachte die Nachricht.«

Cædmon raufte sich die Haare. Er wollte nicht. »Ich lasse dich jetzt nicht gern allein«, gestand er.

»Das brauchst du auch nicht. Die Einladung gilt für uns beide. Eadwig sagt, der Hof sei wieder einmal prächtig gewesen, und am Pfingstsonntag hat der König Henry zum Ritter geschlagen. Wulfnoth sei außer sich vor Stolz auf seinen Prinzen …«

»Aliesa, laß mich alleine zum König gehen. Ich werde dich entschuldigen. Ich müßte nicht einmal lügen, ich sehe doch, daß du nicht wohl bist.«

Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Das kommt nicht in Frage. Mach dir keine Gedanken. Ich bin nie wohl, wenn ich schwanger bin, das hat nichts zu bedeuten. Aber du warst über drei Monate fort, und ich will nicht, daß wir uns gleich wieder trennen müssen.«

»Nein, das gefällt mir auch nicht«, räumte er ein. »Aber es wäre besser so, glaub mir. Der König wird … immer schwieriger. Immer düsterer. Und er haßt es, zwei glücklich verheiratete Menschen zu sehen.«

Aliesa erhob sich, um ihm auf diplomatische Weise zu sagen, daß sie nicht weiter über das Thema zu debattieren gedachte. »Ich muß mit Irmingard und der Amme reden und ein paar Vorbereitungen treffen. Wir sehen uns zum Essen. Und wenn du ausnahmsweise einmal einen Rat von deiner Frau annehmen willst, Cædmon: Nimm ein Bad.«

Winchester, Juli 1086

»Wie nett, daß Ihr meiner Einladung schon gefolgt seid, Thane«, grollte der König, gestattete Cædmon aber mit einer nachlässigen Geste, sich zu erheben.

»Wir haben Euch in Westminster knapp verpaßt, Sire. Dort sagte man uns, Ihr seiet in London. Als wir zum Tower kamen, eröffnete uns der Kommandant, ihr seiet bereits nach Oxford aufgebrochen und …«

»Ja, vielen Dank, ich bin über meinen Aufenthalt während der letzten Wochen durchaus im Bilde. Habt Ihr irgendwelche Einwände dagegen, daß ich mein Land und meine Güter inspiziere?«

»Ähm … ich glaube nicht, Sire.«

William sah ihm in die Augen. Nichts regte sich in seinem feisten Gesicht, aber der Blick der schwarzen Augen war eine solche Drohung, daß Cædmon der Schweiß ausbrach. Er biß sich auf die Zunge und rief sich ins Gedächtnis, daß der König allen Humor verloren hatte, den er je besessen haben mochte, und daß bissige Bemerkungen in seiner Gegenwart lebensgefährlicher denn je waren.

William war fett geworden. Rufus hatte bei einem der Gelage, die er so gern mit seinen Vertrauten abhielt, einmal bemerkt, sein Vater sehe aus wie eine aufgeblasene Kröte. Cædmon hatte ihm eindringlich geraten, die Zunge zu hüten und seinen Weinkonsum einzuschränken, doch Rufus hatte wie meistens die Wahrheit gesagt. Niemand vermochte zu erklären, wovon der König so dick geworden war. Seit dem Tod der Königin aß und trank er noch lustloser als früher. Unter den Engländern ging das Gerücht, er fresse all das Gold und Silber, das er dem Volk abpreßte… Doch seine Leibesfülle ließ William nicht gutmütig wirken, wie es bei so vielen anderen dicken Menschen der Fall war. Zusammen mit seiner enormen Körpergröße machte sie ihn nur noch massiger, gewaltiger und bedrohlicher. Jeder, dem der König entgegentrat, mußte den Instinkt niederringen, zurückzuweichen.

Aber jetzt ließ William Cædmon noch einmal vom Haken. Er lehnte sich in seinem ausladenden Sessel zurück und schlug die Beine übereinander. »Was haltet Ihr vom Tower?«

Cædmon brauchte seine Begeisterung nicht zu heucheln. »Er ist großartig. Eine Burg aus weißem Stein. Ich muß gestehen, als die Bauarbeiten anfingen, konnte ich mir nichts Rechtes darunter vorstellen. Aber Eure Baumeister haben nicht zuviel versprochen. Schönheit und Stärke lassen sich durchaus verbinden. Der Tower of London ist ohne Zweifel Eure schönste Burg, Sire, und uneinnehmbar.«

William betrachtete ihn einen Augenblick versonnen, neigte den Kopf ein wenig zur Seite und sagte: »Ich wünschte, es gäbe mehr Engländer wie Euch, die so bereitwillig von den Normannen lernen. Stolz nicht mit Halsstarrigkeit verwechseln.«

Cædmon deutete ein Kopfschütteln an. »Alle Engländer lernen von den Normannen, genau wie umgekehrt. Und was Halsstarrigkeit angeht, stehen Normannen den Engländern in nichts nach, meine ich.« »Vielleicht habt Ihr recht. Wenn man meinen Bruder Odo und meinen Sohn Robert betrachtet, sieht es in der Tat so aus. Seid so gut, schenkt mir einen Becher Cidre ein, Thane.«

Ich bin zwar nicht dein Mundschenk, aber bitte, meinetwegen, dachte Cædmon, trat an den Tisch unter dem kleinen Fenster und füllte einen mit Edelsteinen besetzten Silberpokal aus einem passenden Krug.

»Wünscht Ihr, daß ich ihn vorkoste, Sire?«

William grinste humorlos. »Nein. Der Diener, der ihn gebracht hat, hat das vorhin getan, und Ihr seid beinah der einzige Mann auf der Welt, dem ich nicht zutraue, Gift in meinen Becher zu rühren.«

Cædmon wußte nicht, ob er geschmeichelt oder beleidigt sein sollte, und reichte William den Pokal kommentarlos.

»Erzählt mir von der Erhebung, Cædmon. Waren meine Untertanen kooperativ? Meine Beamten ihrer Aufgabe gewachsen?«

»Nein und nein«, wäre die ehrliche Antwort gewesen, aber Cædmon drückte es ein wenig diplomatischer aus. Er schilderte die Schwierigkeiten, auf die sie gestoßen waren, sagte aber abschließend: »Trotz alldem bin ich sicher, daß die Ergebnisse hinreichend präzise sind, um ihren Zweck zu erfüllen. Und soweit ich es beurteilen kann, haben die Menschen wahrheitsgemäße Angaben gemacht, weil sie Euren Zorn fürchteten.«

Der König trank. »Gut.«

»Vielen hat schon die Befragung angst gemacht. Und natürlich war es ihnen unheimlich, daß alles, was sie sagten, aufgeschrieben wurde. Ein Priester in Colchester fragte, ob es dieses Buch sei, das der Engel beim Jüngsten Gericht aufschlagen werde. Es gab Gelächter, aber das Wort hat die Runde gemacht. Im ganzen Osten nennen sie es das ›Domesday Book‹ – das Buch vom Tage des Weltenendes.«

William verzog spöttisch einen Mundwinkel. »Das wird es zumindest für all jene sein, die unrichtige Angaben gemacht haben.«

»Und wie geht es mit der Auswertung voran?« fragte Cædmon neugierig.

»Langsamer als mir lieb ist. Aber mein erster Eindruck ist, daß ich recht zufrieden sein kann. England ist ein ertragreiches, alles in allem wohlgeordnetes und gut bewirtschaftetes Land.«

Cædmon nickte. Zu der gleichen Erkenntnis war er auch gekommen und hatte bei sich gedacht, was zwanzig Jahre Ruhe vor dänischen Überfällen doch für einen Unterschied machten. Das war zweifelsfrei Williams Verdienst. Vor allem auf dem Land ging es den meisten Leuten besser als vor der Eroberung, trotz der hohen Steuern. Nur in Northumbria, wo die Todesreiter gewütet hatten, sah es anders aus. Die königlichen Beamten, die die Erhebung dort im Norden durchführten, hatten weite Landstriche nach wie vor entvölkert vorgefunden und nur einen einzigen Satz eingetragen: Hoc est wasta – Dies ist ein Ödland. »Trotzdem werde ich noch einmal neue Kommissionen zusammenstellen, die die Erhebung überprüfen sollen«, unterbrach der König seine Gedanken. »Und dieses Mal werden es nur Fremde sein, die die Leute befragen. Nicht ihr Sheriff, ganz sicher nicht ihr Thane.«

Cædmon war erschrocken. »Aber … das werden die Leute nicht verstehen. Sie …«

»Was sollte mich das kümmern? Ich selber werde bis zum Eintreffen der verdammten dänischen Flotte durchs Land reisen und mich vergewissern, daß meine Anweisungen befolgt werden.«

»Sire, Ihr provoziert Unruhen.«

Erstaunlich behende schoß der König aus seinem Sessel hoch. »Ah ja? Nun, vielleicht sollte ich bekanntmachen lassen, daß ich bis zum Abschluß der Erhebung den Thane of Helmsby als Geisel behalte und ihn blenden lasse, sobald der erste Engländer sich meinen Kommissaren widersetzt!«

Cædmon spürte den altvertrauten heißen Stich der Angst, den Williams Drohungen ihm seit jeher verursachten, aber er hatte zumindest gelernt, seine Empfindungen vor ihm zu verbergen. »Nur blenden, mein König? Das geschieht so vielen Engländern jeden Tag, es wird niemanden sonderlich beeindrucken.«

Einen Augenblick fürchtete er, seine Flucht nach vorn habe ihn ins Verderben geführt. Williams Augen wurden trüb, sein berüchtigter Jähzorn, der ihn in den vergangenen Jahren mehr beherrschte denn je, drohte hervorzubrechen, und dann war alles möglich, wußte Cædmon, dann konnten mit unglaublicher Schnelligkeit die fürchterlichsten Dinge geschehen. Aber diesmal hatte er Glück. Der König beschränkte sich darauf, den kostbaren Silberpokal in seine Richtung zu schleudern. Cædmon duckte sich kurz, und das Geschoß sauste über seinen Scheitel hinweg. Ein klebriger, nach Äpfeln duftender Schauer ging auf ihn nieder, ehe der Becher scheppernd von der Wand abprallte und dann unrund, eingedellt über die Steinfliesen rollte.

»Geht mir aus den Augen, ehe ich mich vergesse«, riet der König tonlos.

 

Die Prinzen, Eadwig und Cædmons Söhne waren zur Jagd in den Neuen Forst geritten, so daß der Thane erst abends in der Halle Gelegenheit bekam, sie zu begrüßen.

»Cædmon!« Rufus umarmte ihn herzlich. »Gott sei Dank, der Löwenbändiger ist zurück.«

»Sag das nicht«, knurrte der Angesprochene verdrossen.

Rufus lachte übermütig. Es war ein schönes, ansteckendes Lachen. Cædmon dachte manchmal, daß Rufus die Persönlichkeiten beider Eltern in eigentlich unvereinbarer Weise in sich trug und dieses arglose, herzliche Lachen eine der schönsten Gaben war, die seine Mutter ihm vermacht hatte.

»Kaum zurück, und schon seid ihr wieder aneinandergeraten?« mutmaßte der Prinz. »Du solltest dir endlich abgewöhnen, ihn unnötig zu reizen, weißt du. Eines Tages wird er eine seiner Drohungen wahrmachen.«

Cædmon nickte grimmig. »So wie der Löwe früher oder später immer seinen Wärter zerfleischt.«

»Was hat es denn gegeben?« fragte Aliesa. Anders als Rufus konnte sie nie über Cædmons Reibereien mit dem König lachen. Sie fürchtete immer, daß Williams Zorn – die einzige Schwäche, bei der er kein Maß kannte – sie alle eines Tages ins Unglück stürzen würde.

Cædmon winkte verlegen ab. »Es war nicht der Rede wert.«

Rufus streifte Aliesa mit einem ungehaltenen Blick. Vermutlich bemerkt er sein Stirnrunzeln nicht einmal, fuhr es Cædmon durch den Kopf. Der Prinz war wirklich kein großer Freund von Frauen, war im Umgang mit ihnen noch unbeholfener als Guthric und schien sie meist als lästige Plage zu empfinden, etwa so wie eine Schar lärmender Kinder. Henry hingegen verneigte sich galant vor Aliesa, schien wie immer beglückt, sie zu sehen, und fragte ehrlich besorgt: »Geht es dir nicht gut? Du kommst mir sehr blaß vor.«

Sie legte ihm lächelnd die Hand auf den Arm. »Es ist ein heißer Sommer, mein Prinz, und Hitze bekommt mir nicht. Aber davon abgesehen erfreue ich mich bester Gesundheit.«

»Ist sie schwanger?« raunte Ælfric seinem Vater in eher englischer Direktheit ins Ohr.

Cædmon nickte beinah unmerklich.

Eadwig, der ein paar Schritte zur Linken mit Leif und Wulfnoth stand, hob den Kopf und lauschte. »Da kommt der König«, verkündete er leise.

Der kleine Kreis löste sich auf, stob fast schuldbewußt auseinander. Tuschelnde Gruppen erregten heutzutage leicht Williams Argwohn. Die Prinzen nahmen ihre Plätze an der hohen Tafel ein, Cædmon, Aliesa und Eadwig die ihren oben an der linken Seite, und die Knappen Ælfric und Wulfnoth begaben sich ans untere Ende.

Ein eher schlichtes Fischgericht wurde aufgetragen. Außerhalb der drei Hoffeste im Jahr wurde an Williams Tafel in den letzten Jahren fast kärglich gespeist, vor allem freitags. Der Bischof von Sarum, der als Gast an der hohen Tafel saß, stierte lustlos auf den faden Kabeljau hinab.

»Ich bedaure, daß die Speisen in meiner Halle nicht nach Eurem Geschmack sind, Monseigneur«, sagte William mit einem trügerischen Lächeln.

Der Bischof fuhr schuldbewußt zusammen. »Aber ganz und gar nicht, Sire …« Wie zum Beweis schob er sich hastig einen vollen Löffel in den Mund.

»Dann ist es ja gut«, erwiderte William. »Es ist bedenklich, wenn ein Bischof gar zu großen Wert auf Tafelfreuden und anderen weltlichen Tand legt.«

»Da gebe ich Euch vollkommen recht«, pflichtete der Bischof bei.

Der König nickte zufrieden und fuhr im Plauderton fort: »Enthaltsamkeit ist der einzige Pfad zur Tugend, so will es mir scheinen. Ich kannte einmal einen Bischof, der den Versuchungen des Fleisches einfach nicht widerstehen konnte, ganz gleich, ob es sich um Erdbeeren oder schöne Frauen handelte. Und wißt Ihr, wo er heute ist?«

»Vater, bitte«, murmelte Henry an seiner Seite seufzend.

Der König ignorierte seinen Sohn und sah seinem Gast unverwandt in die Augen.

Der Bischof, ein älterer Mann, der noch ein wenig wohlbeleibter war als William, ließ den Löffel langsam sinken. Die Hand bebte. Das runde Vollmondgesicht war bleich geworden. Er wußte sehr genau, von welchem Bischof der König gesprochen hatte. Was er hingegen nicht wußte, war, was er sich hatte zuschulden kommen lassen, warum William ihm so unmißverständlich drohte. Nach den Gesetzen, die der König gemeinsam mit Lanfranc und in Übereinstimmung mit den Wünschen des Papstes in England eingeführt hatte, konnte er über keinen Bischof oder Mönch oder Priester richten. Doch seit Odos Verhaftung fühlte sich kein Kirchenmann mehr vor der Willkür des Königs sicher.

»Sire, wenn ich irgend etwas getan habe, das Euer Vertrauen in mich erschüttert hat …«

»Es gibt keinen Mann unter meinen Vasallen oder in meinem Kronrat oder in meiner Familie, dem ich noch uneingeschränkt traue, Monseigneur«, entgegnete der König lapidar.

»O mein Gott, Sire, wie könnt Ihr so etwas sagen?« murmelte Henry, der sich an die himmelschreienden Ungerechtigkeiten, die sein Vater neuerdings so bedenkenlos äußerte, noch nicht gewöhnt hatte.

»Noch ein Wort und du verläßt die Halle, Henry«, fauchte William, ohne ihn anzusehen.

»Ja, es ist besser, du hältst den Mund«, riet auch Rufus seinem Bruder eindringlich.

Der Bischof schüttelte den Kopf, als habe er einen Schlag ins Gesicht bekommen. »Aber Sire … Jeder Eurer Vasallen, jeder Eurer Untertanen ist Euch treu ergeben! Haben sie Euch nicht alle einen Treueid geschworen?«

»Und wer hätte ihn nicht irgendwann gebrochen?« konterte der König unbeeindruckt.

»Roger de Montgomery, Guillaume de Warenne, Robert de Beaumont«, begann Henry aufzuzählen, und auf einen wortlosen, aber mörderischen Blick seines Vaters hin erhob er sich und ging zum Ausgang, wobei er unbeirrt fortfuhr: »Ralph Baynard, de Mandeville, Cædmon of Helmsby, Lucien de Ponthieu, der Erzbischof von York, der Bischof von Durham, der Earl of …« Seine Stimme verhallte, und in der unangenehmen Stille, die in der Halle zurückblieb, tauschten Cædmon und Aliesa ein sehr verstohlenes Lächeln.

»Sire, wenn Ihr das Vertrauen in die Ergebenheit Eurer Vasallen verloren habt, gebt ihnen Gelegenheit, ihren Eid zu erneuern«, bat der Bischof. Henrys unerschrockener Widerstand hatte ihm offenbar geholfen, sein fettgepolstertes Rückgrat wiederzufinden, aber das Mißtrauen, welches der König pauschal gegen seinen Adel ausgesprochen hatte, schien ihn wirklich zu erschüttern.

William schnaubte und schob seine Eintopfschale unberührt von sich weg. »Wie stellt Ihr Euch das vor?«

Der Bischof zuckte die Schultern. »Nichts leichter als das. Ruft sie alle zu Eurem nächsten Hof zusammen.«

»Der nächste Hof ist aber leider erst zu Weihnachten, Monseigneur, und das Fest gedenke ich dieses Jahr in der Normandie zu begehen.« »Dann beruft einen außerplanmäßigen Hof ein, ehe Ihr auf den Kontinent geht.« Plötzlich kam dem Bischof ein Gedanke, und seine Augen leuchteten auf. »Erweist mir die Ehre und haltet Hof in Sarum, Sire. Laßt meine Stadt der Schauplatz des neuen, unverbrüchlichen Treueids all Eurer englischen Vasallen sein!«

Das mürrische Gesicht des Königs hellte sich plötzlich auf. »Das scheint mir eine ganz wunderbare Idee zu sein, Monseigneur. Und ich weiß Eure Einladung wirklich zu schätzen. Ihr ahnt ja nicht, welche Summen drei Hoffeste pro Jahr verschlingen.«

Der Bischof starrte ihn mit offenem Mund an, vollkommen überrumpelt. Natürlich hatte er mit seinem Vorschlag nicht sagen wollen, daß er die horrenden Kosten einer solchen Versammlung übernehmen wollte. Plötzlich bildeten sich Schweißperlen auf seiner Stirn, aber noch ehe er auf eine Erwiderung sinnen konnte, ehe er auch nur ganz begriffen hatte, daß er auf schamlose Weise in eine Falle gelockt worden war, kam der jüngste der Prinzen im Laufschritt zurück in die Halle. »Henry, das ist ganz und gar unentschuldbar!« donnerte der König, und Cædmon fragte sich, wer außer ihm erkannte, wie ratlos das Verhalten seines Jüngsten den König machte, wie sehr es ihm imponierte.

Henry hob die Rechte und schnitt dem König beinah das Wort ab. »Ich weiß, Sire, aber meine Neuigkeiten sind so gut, daß ich hoffe, Ihr werdet mir noch ein letztes Mal vergeben.«

William preßte die Lippen zusammen und verschränkte die Arme. »Darauf rechne lieber nicht. Ich höre.«

»Ein Bote aus Canterbury ist gerade eingetroffen«, begann Henry. »Der Erzbischof hat Nachricht von einem seiner … Nachrichtensammler aus Dänemark bekommen. König Knut ist tot, Vater.«

William sprang wie fast jeder andere in der Halle von seinem Platz auf. »Ist das sicher?«

Henry nickte. »Es ist keine schöne Geschichte. Wäre es nicht eine solch glückliche Fügung für England, gäbe sie wirklich keinen Anlaß zur Freude. Der König von Dänemark wurde von seinen Widersachern verraten und gefangengenommen und in die Stadt Odense gebracht. Und in der dortigen Kirche wurde er ermordet.«

Es gab einen kleinen Aufruhr in der Halle. Die Menschen redeten aufgeregt durcheinander. Nicht nur der König bekreuzigte sich und erbat Gottes Gnade für den gemeuchelten Herrscher der gefürchteten Dänen, doch genau wie alle anderen empfand er vor allem Erleichterung. Lächelnd legte er seinem Jüngsten die Hände auf die Wangen und küßte ihm zum Zeichen seiner Vergebung die Stirn. »Gottes Wege sind wahrhaftig unerforschlich, Henry. Aber wir sollten ihm danken, daß er diese Gefahr von uns abgewendet hat, und mit neuer Entschlossenheit und zum Preise seines Namens wollen wir uns all den anderen stellen, die noch auf uns warten.«

Darauf erhoben alle gern ihre Becher. Plötzlich war die Stimmung in der Halle gelöst, beinah euphorisch. Nur Eadwig hatte den Kopf gesenkt und weinte um den König von Dänemark.

Helmsby, August 1086

Während der Gewitter der letzten Nächte hatten sich große Pfützen im Innenhof der Burg gebildet. Doch das Gras war und blieb verbrannt. Jetzt nach dem Regen hatte es eine dunkle, bräunliche Farbe angenommen und verströmte einen betörenden Duft, wie von nassem Heu.

Cædmon führte Frison in den Stall. Niemand war dort, also überließ er es Odric und Elfhelm, die ihn begleitet hatten, sein Pferd und ihre eigenen zu versorgen.

Als er auf die Zugbrücke zuging, erwartete ihn wie so oft der Steward am Tor.

»Willkommen daheim, Thane.«

»Danke, Alfred. Wie steht es hier mit der Rinderpest?«

Sie überquerten die Brücke, und Alfred schüttelte mutlos den Kopf. »Es ist schrecklich, Cædmon. Sie krepieren schneller, als wir die Kadaver von den Weiden holen können.«

»Was ist mit unseren eigenen Tieren?«

Sie stiegen die Treppe hinauf, und Alfred hielt ihm die Tür auf. »Wir haben noch zwei Milchkühe und ein Kalb und keinen einzigen Ochsen mehr.«

Die Halle war wie ausgestorben. Das trübe Licht des wolkenverhangenen, schwülen Augusttages fiel durch die kleinen Fenster auf verwaiste Tische und kalte Asche im Herd.

Cædmon sank auf die erstbeste Bank nieder, als sei plötzlich die Kraft aus seinen Beinen gewichen. »Alle sechzehn Ochsen verendet? Und nur zwei Kühe übrig? Von fünfundzwanzig?«

Alfred setzte sich neben ihn und ließ den Kopf hängen. »Ja. Das entspricht etwa dem Durchschnitt. Von zwanzig Tieren sterben neunzehn.« »Gütiger Himmel …« Cædmon fuhr sich ratlos mit der Hand über Kinn und Hals. Das war eine Katastrophe.

»Ich hole dir einen Becher Bier, Cædmon. Hier ist niemand. Ich habe jeden, der ein Paar Hände hat, auch Greise und Kinder auf die Felder geschickt, um von der Ernte zu retten, was eben noch zu retten ist.« Die anhaltende Trockenheit während des Frühjahrs und des Sommers war schon schlimm genug gewesen, doch die Unwetter, die fast gleichzeitig mit der Erntezeit begonnen hatten, hatten den größeren Schaden angerichtet.

Cædmon schüttelte den Kopf und legte seinem Vetter die Hand auf die Schulter. »Laß nur, ich mach’ das selbst. Ich bin sicher, du willst wieder an die Arbeit. Weißt du, wo meine Frau ist?«

Alfred wies auf die Treppe. »Bei Bruder Oswald und den Kindern.« »Gut. Ich gehe sie begrüßen, und dann komme ich und helf ’ dir.«

»Ælfric und Wulfnoth hast du nicht mit heimgebracht? Oder Eadwig?« fragte der Steward und bemühte sich ohne großen Erfolg, den leisen Vorwurf aus seiner Stimme herauszuhalten. Alfred fand, in einer Krise wie dieser sollte jeder Mann der Familie nach Hause eilen.

Cædmon erhob sich und schüttelte den Kopf. »Der König geht bald auf den Kontinent und nimmt seine Söhne mit. Die Prinzen ihrerseits nehmen ihre Ritter und Knappen mit. Darum konnte keiner von ihnen nach Hause kommen. Es ist nicht ihre Schuld, weißt du.«

»Nein, natürlich nicht. Vermutlich können wir von Glück sagen, daß der König dich nicht auch noch mitnimmt.«

 

Aliesa sagte das gleiche, als sie am Abend nebeneinander im Bett saßen und endlich in Ruhe reden konnten. »Und ich bin froh und dankbar, daß der König dich hierläßt, aber ich habe Mühe zu glauben, daß er es aus Rücksichtnahme und Herzensgüte tut. Was ist es? Habt ihr gestritten?«

Cædmon warf ihr einen ungläubigen Blick zu. »Gestritten? Wer mit dem König ›streitet‹, reitet nicht frei und unversehrt nach Hause. Nein, nein. Es hat nichts zu bedeuten; schließlich hat er mich meistens hiergelassen, wenn er auf dem Kontinent war. Er wirbt schon wieder neue Truppen an. Wenn alles vorbereitet ist, wird er nach mir schicken, hat er gesagt.«

»Wenn was vorbereitet ist?«

Cædmon antwortete nicht sofort. Donner grollte in der Ferne, und er sah zerstreut, mit gerunzelter Stirn zum Fenster, ehe er schließlich sagte: »Ich weiß es nicht. Ich glaube, niemand weiß es. Sowohl der Bruder des Königs, Robert, als auch Montgomery haben mich im Vertrauen gefragt, ob ich ihnen irgend etwas über Williams Pläne sagen könnte. Aber was immer es ist, es muß etwas Gewaltiges sein.«

»Du meinst, deswegen hat er euch alle letzte Woche nach Sarum kommen lassen, um ihm einen neuen Eid zu schwören?«

Er nickte. Es donnerte wieder, schon viel näher.

»Wie war es?« fragte sie neugierig.

Cædmon hob kurz die Schultern. »Es war … sehr bewegend. Perfekt inszeniert, wie immer. Ich glaube, auch William selbst war gerührt zu erleben, wie zwei- oder dreihundert Männer vor ihm niederknieten und ihm in tiefster Inbrunst ihre Treue schworen.«

»So viele?« staunte sie.

»Ja. Nicht nur die Kronvasallen waren aufgerufen, den Eid zu leisten, sondern auch die bedeutenderen unter den Aftervasallen.« Er lächelte schwach. »Es waren englische Thanes dabei, die noch nie bei Hofe gewesen waren, und sie haben mich keinen Moment aus den Augen gelassen und alles getan, was ich tat. Guthric hat sie schließlich beiseite genommen und ihnen erklärt, daß es eine Marotte von mir sei, das Kinn an der Schulter zu reiben, wenn etwas mir Unbehagen bereite, keine geheimnisvolle normannische Sitte, die es nachzuahmen gelte …«

Aliesa lachte.

»Stimmt das?« fragte er noch immer ungläubig. »Habe ich so eine Marotte?«

Sie legte die Hand auf seine Wange und küßte ihn. »Aber natürlich! Das weißt du nicht? Immer schon, seit ich dich kenne. Leg sie nicht ab, Liebster. Sie ist so wunderbar.«

Er brummte gallig, ehe er fortfuhr: »Jedenfalls war es ein denkwürdiges Ereignis und hat, soweit ich es beurteilen kann, seinen Zweck erfüllt. Der König scheint wieder größeres Vertrauen in die Treue seiner Vasallen zu haben, umgekehrt ist auch den unwilligsten Hinterwäldlern unter seinen Vasallen von neuem bewußt geworden, was Königswürde und Lehnstreue bedeuten. Sie werden ihm folgen, ganz gleich, welche Teufelei er wieder ausheckt, und das weiß er. Gehobener Stimmung hat er Sarum verlassen. Alle waren gehobener Stimmung. Alle außer dem Bischof, versteht sich. Ich würde sagen, er ist ruiniert.«

Ein greller Blitz zuckte auf und beleuchtete für einen Augenblick die gespenstischen Wolkentürme am Nachthimmel. »Wenn es mit dem Wetter so weitergeht, werden wir das bald alle sein«, murmelte Aliesa beunruhigt.

 

Das Gewitter tobte schlimmer als alle, die Cædmon je erlebt hatte. Selbst Onkel Athelstan erklärte am nächsten Morgen, er könne sich an nichts Vergleichbares erinnern.

Der Donner war ein anhaltendes Dröhnen, das sich allenthalben zu einem ohrenbetäubenden Poltern steigerte, wenn einer der Blitze ein nahes Ziel gefunden hatte. In kurzen Abständen zuckten sie am pechschwarzen Himmel auf, der Wechsel zwischen Finsternis und ihrem grellen Licht schmerzte in den Augen. Der Wind heulte mit Furienstimmen, trieb den dichten, prasselnden Regen durchs Fenster herein, und die Balken der Halle ächzten unter seinem Ansturm. Cædmon und Aliesa saßen auf dem Bett, starrten unverwandt nach draußen, hielten sich eng umschlungen und fürchteten sich. Und als sie schon glaubten, das Unwetter lasse nach, als der Wind abflaute und der Donner zu verhallen schien, fing es an zu hageln.

Cædmon sprang vom Bett auf und stürzte ans Fenster.

»O nein. Bitte nicht …«

Die Blitze zeigten ihm ein Bild des Schreckens: Riesige Körner prasselten trommelnd auf die Erde nieder, manche dick wie Hühnereier. Minutenlang schleuderte der Himmel sie herab, bis sie den Hof und das Land, so weit das Auge reichte, mit einem tödlichen weißen Teppich bedeckten und jede Ähre in den Boden gestampft hatten, die noch auf dem Feld stand.

»Gott, was tust du?« flüsterte Cædmon heiser. »Schlägst du das Land mit Plagen, weil das Herz des Königs verstockt ist?«

Aliesa trat neben ihn. Ohne es zu merken, hatte sie schützend die Hände um ihren gewölbten Bauch gelegt. »Cædmon?«

Er sah sie an. »Erst die Viehseuche. Dann der Hagel. Was kommt als nächstes? Heuschrecken?«

Er bekam die Antwort schneller, als ihm lieb war. Es klopfte an der Tür, und Alfred rief: »Thane?«

Cædmon hörte an der Stimme, daß sein Vetter eine Hiobsbotschaft brachte, und kniff einen Moment die Augen zu. »Komm rein, Alfred.«

Die Tür flog auf. Alfred stand mit einer Öllampe auf der Schwelle, sein Gesicht wirkte fahl in ihrem schwachen, zuckenden Schimmer. »Cædmon, der Blitz hat die Scheune getroffen. Sie brennt lichterloh. Das bißchen Korn, das wir hatten, ist dahin.«

Cædmon hörte Aliesas halb unterdrückten Schreckenslaut und legte einen Arm um ihre Schultern. Aber mehr Trost hatte er ihr nicht zu bieten. Er dachte fassungslos, mit welch schwindelerregender Schnelligkeit ein wohlhabender Mann an den Bettelstab kommen und alle Sicherheit, die man sich vorgaukelte, zum Teufel gehen konnte.

»Wir werden hungern«, sagte er.

 

Am nächsten Morgen ritten Cædmon und Alfred ins Dorf und am Ouse entlang bis nach Metcombe, um festzustellen, wie groß die übrigen Schäden waren, während Aliesa, Irmingard, Onkel Athelstan und Bruder Oswald versuchten, die verängstigten Menschen auf Burg und Gut zu beruhigen und erste Maßnahmen für den bevorstehenden Hungerwinter zu treffen. Ab sofort wurden alle Lebensmittel streng rationiert und sämtliche Vorratsräume verschlossen. Nur in Aliesas Begleitung konnte die Köchin jetzt ihre Zutaten zusammensuchen, niemand mehr zwischen den Mahlzeiten in die Vorratskammer schleichen und sich ein Stück Brot oder einen Schluck Bier genehmigen.

Richard, Matilda und die anderen Kinder merkten natürlich, daß die Erwachsenen besorgt waren und sich eigenartig verhielten. Matilda war ungewöhnlich still, sah sich mit riesigen, unruhigen Augen um und wich nicht von der Seite ihrer Mutter. Richard versuchte, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen, aber selbst das kärgliche Frühstück, das Helen ihm vorsetzte, brachte er nicht herunter. Cædmon nahm ihn kurzerhand mit, setzte ihn vor sich in den Sattel und erklärte ihm unterwegs, was passiert war. Er fand, es hatte keinen Sinn, seinem Sohn etwas vorzumachen, er würde früher oder später ja doch merken, daß sie für den Winter nicht genug zu essen hatten. Besser, er machte sich damit vertraut.

»Aber wir haben Geld«, erinnerte der Junge ihn. »Können wir kein Korn kaufen?«

»Wir haben nicht viel Geld«, entgegnete Cædmon. »Wir mußten dem König hohe Steuern zahlen, verstehst du. Und weil ganz England von der Mißernte betroffen ist, wird Getreide teuer. Außerdem müssen wir wenigstens acht neue Ochsen kaufen, denn wenn wir im Winter nicht pflügen können, werden wir nie wieder etwas ernten.« Er brach unvermittelt ab, als ihm aufging, daß durch das Rindersterben vermutlich auch die Preise für Ochsen in die Höhe schnellen würden.

»Bekommst du nach der Ernte denn nicht neues Geld?« fragte Richard. »So viele Bauern schulden dir Pacht.«

»Aber sie leiden unter der Mißernte genau wie wir, und auch ihre Ochsen sind verendet. Außerdem müssen sie irgendwie den Zehnten für die Kirche aufbringen und zusätzlich den St.-Peters-Penny, den der König jedes Jahr zu Michaelis erhebt und dem Papst in Rom schickt. Nein, ich denke, mit Pachteinnahmen sollten wir lieber nicht rechnen.« Richard hatte noch eine Idee. »Was ist mit unserem Wald? Kannst du nicht jagen gehen?«

Cædmon wechselte einen Blick mit Alfred, ehe er sagte: »Nein, Richard, das darf ich nicht.«

»Aber wieso das denn nicht?« fragte der Junge verständnislos. »Der Wald gehört dir!«

»Streng genommen gehört mir gar nichts und dem König alles.« Und William hatte die Forstgesetze noch einmal verschärft: Keiner seiner Vasallen durfte in den Wäldern, die zu seinem Lehen gehörten, jagen, wenn er keine königliche Urkunde besaß, die ihm dieses Privileg zugestand. Eine solche Erlaubnis bekam man, wenn man das Glück hatte, den König in einem günstigen Augenblick darum zu bitten – und wenn man gewillt und in der Lage war, den Preis für eine solche Urkunde zu zahlen. Auf Cædmon traf weder das eine noch das andere zu. Ehe eines seiner Kinder oder sonst jemand in der Halle verhungerte, würde er vermutlich trotzdem in seinem Wald auf die Jagd gehen, aber wenn Lucien de Ponthieu, der als Sheriff die Einhaltung der Forstgesetze zu überwachen hatte, ihn erwischte, dann käme er in Teufels Küche. Ein Mörder konnte von König William eher Gnade erhoffen als ein Wilderer.

»Wir haben immer noch den Fluß und das Moor«, sagte er zu Richard. »Hab keine Angst, mein Junge. Es wird ein harter Winter, daran kann es keinen Zweifel geben, aber wir werden schon zurechtkommen. Wir sind immer noch um vieles glücklicher dran als die einfachen Bauern, denn auch wenn alle Kühe verendet sind, haben wir immer noch unsere Schweine und Ziegen, und wir können auch ein paar Schafe schlachten.« Aber seine Schafherden waren in den vergangenen Jahren schon geschrumpft, weil er immer Tiere hatte verkaufen müssen, um die Steuern zu bezahlen, und jedes geschlachtete Schaf bedeutete einen Einkommensverlust in kommenden Jahren. Das war keine Lösung. Zu viele Menschen aßen an seinem Tisch, als daß er sie alle nur mit Fleisch hätte über den Winter bringen können. »Es gibt auch noch andere Möglichkeiten. Dein Patenonkel Alfred hier zum Beispiel versteht sich auf Pilze. Wenn es Herbst wird, kannst du mit ihm in den Wald reiten, und er bringt dir bei, welche eßbar sind. So kommen wir schon bis in den November, wenn ihr genug sammelt.«

»Ja, ich könnte weiß Gott Hilfe beim Pilzesammeln gebrauchen«, stimmte Alfred zu. »Ich kann doch auf dich zählen, Richard?«

»Natürlich!« versprach der Junge eifrig, offenbar dankbar, daß es etwas gab, das er tun konnte, um die drohende Not zu lindern.

Cædmon wurde ganz warm ums Herz. Er fuhr seinem Sohn mit der schwieligen Hand durch die rabenschwarzen Locken und wies dann geradeaus. »Siehst du, da ist schon unsere Kirche.«

Alfred sah mit zusammengekniffenen Augen nach vorn. »Und ganz in der Nähe steigt Rauch auf.«

 

Das Unwetter hatte alle Leute erschüttert, und auch im Dorf waren zwei Scheunen in Flammen aufgegangen. Mit leeren Händen kamen die Bauern von ihren Feldern zurück, manche weinten. Nichts war übrig. Kein Halm hatte den Hagel überdauert.

In Metcombe bot sich ihnen das gleiche Bild des Jammers, und sie erfuhren, daß Hengest vom Blitz erschlagen worden war. Als habe Gott sich überlegt, daß er, wenn er schon die ganze Ernte zunichte machte, den Müller eigentlich auch gleich mitnehmen konnte.

Cædmon fand Gytha mit ihren fünf Söhnen in der Mühle um den Tisch versammelt. Reglos, wie erstarrt saßen sie auf der Bank, die beiden kleineren Jungen weinten leise.

Als sie Cædmon eintreten sah, stand Gytha langsam auf und machte einen unentschlossenen Schritt in seine Richtung. »Der Wind hatte die Schindeln vom Dach gerissen, und der Hagel kam herein«, erklärte sie. »Ich hab ihm gesagt, es sei zu gefährlich, aufs Dach zu klettern, aber er hat nicht auf mich gehört. Er hat nie auf mich gehört.«

Zögernd streckte er die Arme aus, und sie kam tatsächlich, legte den Kopf an seine Schulter und schloß die Augen. »Was soll ich nur tun, Cædmon?« flüsterte sie. »Wie kriege ich fünf hungrige Jungen über den Winter ohne einen Mann, der für sie sorgt?«

»Komm nach Hause«, sagte er ohne zu zögern. »Bring deine Söhne nach Helmsby.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ihr habt ja selbst nichts.«

»Es wird schon gehen. Und was würdest du hier anfangen? Du kannst die Mühle nicht alleine weiterführen.«

»Ich werde es tun«, stieß der Älteste der Jungen wütend hervor. »Und ich werde meine Mutter und Brüder über den Winter bringen, wir brauchen Eure Almosen nicht!«

»Still, Hengest«, sagte seine Mutter. Aber ihre Stimme klang sanft. Cædmon betrachtete den ältesten Sohn des Müllers. »Wie alt bist du? Zwölf? Dreizehn?«

»Vierzehn.«

»Wie auch immer. Du bist zu jung. Ihr kommt nach Helmsby und bleibt dort.«

Der Junge hatte den Kopf zwischen die Schultern gezogen. »Nein.« Langsam löste Cædmon sich von Gytha und machte einen Schritt auf ihren Sohn zu. Aber sie nahm seinen Arm und hielt ihn zurück. »Nein, bitte. Sei ihm nicht böse. Er … er trauert um seinen Vater, und er fühlt sich für uns verantwortlich. Das mußt du doch verstehen.«

Cædmon betrachtete den Jungen kühl. »Du wirst tun, was ich sage, und mir nicht noch einmal widersprechen. Nach der nächsten Ernte suche ich einen Müller für Metcombe, der die Mühle führt und dich das Handwerk deines Vaters lehrt, bis du alt genug bist, sie zu übernehmen. Ist das klar?«

Der junge Hengest starrte noch einen Moment trotzig vor sich hin. Dann nickte er. »Ja, Thane.«

»Gut. Dann packt euer Zeug zusammen und macht euch auf den Weg.« Gytha begleitete ihn nach draußen. »Deine Frau wird bestimmt nicht begeistert sein, wenn wir kommen«, sagte sie unglücklich. »Es wird sein wie mit deiner Mutter früher.«

Cædmon legte für einen Augenblick die Hand auf ihre Wange. Gythas Gesicht war verblüht, ihr Haar ergraut, und sie hatte schon ein paar Zähne verloren. Sie konnte noch keine vierzig sein, aber sie war eine alte Frau. Doch wenn er ihr in die Augen sah, entdeckte er immer noch das stille, zierliche Mädchen, das nach Rauch und Milch roch, und eine eigentümlich wehmütige Zärtlichkeit überkam ihn.

»Nein, so wird es nicht sein. Aliesa ist nicht wie meine Mutter, auch wenn sie Normannin ist, du wirst sehen. Außerdem bist du die Mutter meiner Söhne, Gytha, du hast keinen Grund, dich wie eine Bettlerin zu fühlen.«

Sie lächelte traurig. »Wie geht es ihnen? Ælfric und Wulfnoth?«

»Prächtig. Du kannst stolz auf sie sein.«

»Sind sie in Helmsby?«

Er schüttelte den Kopf. »Sie begleiten den König und die Prinzen in die Normandie.«

»In den Krieg?« fragte sie erschrocken.

»Ich bin nicht sicher. Aber ganz gleich, wo er sie auch hinbringt, sie werden auf jeden Fall genug zu essen haben. Ich sorge mich im Moment mehr um das Wohl der Kinder, die hier zu Hause geblieben sind.«

Helmsby, Januar 1087

Es klopfte leise, und Irmingard steckte den Kopf durch die Tür. »Schläft sie?« fragte sie leise.

Cædmon sah auf und nickte. »Wie steht es mit Onkel Athelstan?« Irmingard senkte den Blick. »Heute morgen schien das Fieber ein wenig gesunken. Aber jetzt brennt er wieder. Er vergeht vor meinen Augen. Nein, ich fürchte, er schafft es nicht. Aber mein Schwiegervater ist ein alter Mann«, fügte sie hastig hinzu. »Deine Frau ist in den besten Jahren. Das ist etwas anderes.«

Er nickte wiederum, auch wenn sie beide wußten, daß schon jüngere und robustere an diesem tückischen Fieber gestorben waren. Am Tag des heiligen Königs Edmund im November hatte Aliesa ein gesundes Mädchen zur Welt gebracht. Die Geburt war reibungsloser verlaufen als alle vorherigen, aber sie kam nur langsam wieder zu Kräften, und ehe sie ganz wiederhergestellt war, hatte das Fieber sie erwischt.

Irmingard zögerte, dann gab sie sich einen Ruck. »Es tut mir leid, daß ich dich damit behellige, aber Alfred sagt, ich müsse mit dir reden. Es ist soweit. Unsere Vorräte sind erschöpft. Morgen früh kann ich allen noch etwas vorsetzen, morgen abend ist Schluß. Das einzige, was wir noch haben, ist Honig. Du mußt etwas tun, Cædmon.«

Ihre Mitteilung ließ ihn scheinbar unberührt. Aber nach einem kurzen Schweigen sagte er: »Ist gut. Morgen reite ich auf die Jagd, es bleibt uns nichts anderes übrig.«

 

Sie hatten getan, was sie konnten. Nüsse, Bucheckern, sogar Eicheln gesammelt, aus denen man eine Art Mehl herstellen konnte. Es schmeckte bitter, aber es machte satt. Die Pilze hatten sie tatsächlich über den Oktober gebracht. Zwiebeln, Äpfel und weiße Rüben hatten bis Weihnachten gereicht, den letzten Käse hatten sie am Dreikönigstag gegessen, an diesem Abend das letzte Pökelfleisch. Doch kurz vor der Jahreswende hatte eisige Kälte eingesetzt, und der Ouse und alle Seen und Tümpel waren zugefroren. Die Leute schlugen Löcher ins Eis, um zu fischen, aber die Ausbeute war mager. Und als die Menschen glaubten, daß es schlimmer nicht mehr werden könne und Gott nun endlich mit ihnen fertig sei, waren die ersten Fieberfälle aufgetreten. Rasend schnell wie ein Feuer im Schilf verbreitete die Epidemie sich unter den geschwächten Menschen und raffte sie dahin. Als Cædmon erkannte, wie groß die Ansteckungsgefahr war, hatte er Aliesa mit Bruder Oswald und den Kindern nach Ely schicken wollen. Er hoffte, daß die Seuche die abgelegene Klosterinsel noch nicht erreicht hatte. Aber der Schnee machte eine Überquerung der Sümpfe unmöglich.

Nachdem Irmingard sie allein gelassen hatte, betrachtete er wieder eingehend das Gesicht seiner Frau. Es war bleich und mager, aber das war nichts Besonderes – jeder in Helmsby war derzeit bleich und mager. Was ihn bannte, war das Bild des Friedens, das sie bot. Sie lag auf der Seite, das Gesicht ihm zugewandt, eine Hand unter der Wange. Die langen, geschwungenen Wimpern, die ihn von Anfang an so entzückt hatten, lagen wie ein hauchfeiner Schleier oberhalb des ausgeprägten Jochbeins, und ihr Mund lächelte.

Unendlich behutsam, schüchtern wie der Knabe, der sich vor zweiundzwanzig Jahren in sie verliebt hatte, legte er die Hand auf ihre Stirn. Unverändert. Sie glühte. Heute war der letzte Tag der zweiten Woche. Er wußte, wenn das Fieber morgen oder übermorgen nicht zurückging, war sie einer der hoffnungslosen Fälle.

Als es wieder an der Tür zu ihrer Kammer klopfte, rechnete er mit Alfred, aber tatsächlich war es die Amme, die auf seinen leisen Ruf hin hereinhuschte. Die kleine Marie schlief in ihren Armen.

Cædmon stand hastig von der Bettkante auf und trat ihr entgegen. »Hab ich dir nicht gesagt, daß du die Kinder auf keinen Fall herbringen sollst?« fuhr er sie an, gedämpft, aber unmißverständlich scharf.

Die Amme war ein vierzehnjähriges Mädchen aus dem Dorf, dessen eigenes Kind gleich nach der Geburt gestorben war. Viele Neugeborene waren diesen Winter gestorben, und die jungen Frauen hätten alle nur zu gern die Aufgabe der Amme für Cædmons jüngste Tochter übernommen, denn auf der Burg war die Not nicht so groß wie bei ihnen. Cædmon und Aliesa hatten sich für die junge Annot entschieden, weil sie kräftiger schien als die anderen und reichlich Milch hatte. Doch Erfahrung mit Kindern hatte sie nicht – es war ihr Erstgeborenes gewesen, das sie verloren hatte –, und sobald etwas schiefging, fing sie an zu heulen. So wie jetzt.

»Verzeiht mir, Thane, ich …«

Er riß sich zusammen, nahm ihren Arm, führte sie auf den Gang hinaus und schloß die Tür. »Was ist es?«

»Ich weiß nicht.« Sie schüttelte den Kopf und schluchzte. »Ich … Kommt mit. Bitte!«

Von bösen Vorahnungen erfüllt, folgte er ihr zu der kleinen Kammer, die die Amme und die drei Kinder bewohnten. Das Mädchen führte ihn zu dem Bett, das Matilda und Richard teilten, und wies stumm darauf.

Cædmon beugte sich darüber. Richard schlief ruhig und friedlich. Aber Matilda hatte ihre Decke weggestrampelt, warf sich rastlos auf den Rücken und starrte mit glasigen Augen zu ihm auf.

»Vater … mir ist so heiß. Und mein Kopf tut so weh.«

Ein so gewaltiger Schrei des Protests braute sich in Cædmons Brust zusammen, daß er einen Augenblick nicht sicher war, ob er ihn niederringen konnte. Er biß sich die Zunge blutig und hob das kleine Mädchen auf. Fast meinte er, ihre Haut müsse ihn versengen. Sie brannte. »Ich hab geträumt«, murmelte sie.

Cædmon fühlte erst ihre Stirn, dann legte er die Hand auf ihre magere Brust. Ihr Herz raste wie wild.

»Ich nehme sie mit«, flüsterte er der Amme zu. »Leg dich schlafen, Annot.« Und Matilda fragte er: »War es ein böser Traum, Engel?«

»Ich weiß nicht. Von einem Schiff. Ein weißes Schiff. Es war wunderschön. Aber es hat mir angst gemacht … es war ein Todesschiff …« Ein eisiger Schauer überlief ihn. Er wußte genau, daß er das schon einmal gehört hatte, auch wenn er sich nicht entsinnen konnte, wann und wo. Er küßte die glühend heiße Stirn. »Hab keine Angst mehr. Alles ist gut.« »Bleibst du bei mir heute nacht?«

»Ja.«

Sie schlief ein, aber nicht beruhigt, es war eher, als gleite sie tiefer in die Fieberwelt hinab und sei ihm plötzlich fern und entrückt.

Er brachte sie zu Aliesa, legte sie aber nicht zu ihr, sondern hüllte sie in eine warme Decke und hielt sie auf dem Schoß, versuchte sie mit seiner Nähe durch den Nebel des Fiebers zu erreichen. Doch Matilda schien immer tiefer zu sinken, und er spürte, daß sie immer heißer wurde. Ihr kleines Gesicht war gerötet und feucht, die blonden, wirren Locken klebten an ihrem Kopf. Nach gut einer Stunde fiel sie in einen Fieberkrampf, und Cædmon preßte den Unterarm vor den Mund, um nicht zu heulen wie ein waidwundes Tier.

Er hörte, wie die Tür sich öffnete, und sagte, ohne aufzusehen: »Holt Bruder Oswald her.« Dann spürte er plötzlich kühle Hände, die ihm sein Kind aus den Armen nehmen wollten, riß die Augen auf und drückte den kleinen Körper behutsam an sich. »Nein …«

»Cædmon, ich bin’s.«

Er blinzelte. »Hyld?«

»Gib sie mir. Schnell. Jede Minute zählt.«

Ohne zu zögern legte er sein Kind seiner Schwester in die Arme, vergewisserte sich mit einem schnellen Blick, daß Aliesa nach wie vor schlief, und folgte Hyld auf den Flur hinaus und zur Treppe.

»Was tust du? Wo bringst du sie hin?«

Sie antwortete nicht, durchquerte mit eiligen Schritten die Halle und sagte: »Erik, halt mir die Tür auf.«

Ihr Mann, der ein bißchen verloren in der nächtlichen Halle stand, kam der Aufforderung nach und folgte ihr gemeinsam mit Cædmon in die eisige, sternklare Nacht hinaus. Hyld lief behende die Stufen hinab, ließ sich an deren Fuß auf die Knie fallen, streifte Matildas Hemd hoch und legte das Kind in den Schnee.

Erschrocken schrie Matilda auf.

»Hyld, bist du besessen, was tust du da …« Cædmon wollte einschreiten, aber eine Pranke umfaßte sein Handgelenk und hielt ihn zurück. »Laß sie«, riet Erik eindringlich. »Unseren Jüngsten hat sie so auch durchgekriegt. Sie weiß, was sie tut.«

Cædmon versuchte nicht länger, sich loszureißen. Er wandte den Kopf ab, damit sein Schwager nicht sah, daß er weinte, und blickte immer noch ein wenig entsetzt auf seine Schwester hinab, die sein armes, krankes Kind mit Schnee zudeckte. Matilda wimmerte leise.

Plötzlich überkam Cædmon eine so bleierne Erschöpfung, daß er sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Er sank auf die unterste Treppenstufe, ohne sich um den verharschten Schnee zu scheren, der sie bedeckte, und fragte: »Wie in aller Welt kommt ihr hierher? Was tut ihr hier?«

»Wir klopfen an dein Tor und erbitten Obdach, Schwager«, antwortete Erik ernst. »Hyld, unsere Emma, unser kleiner Knut und ich.«

»Dann seid willkommen. Nur die Küche hat hier in jüngster Zeit ein wenig nachgelassen. Wenn du Lust hast, kannst du morgen mit mir auf einen Wildererzug reiten, das ist doch sicher nach deinem Geschmack …« Er merkte, daß er dummes Zeug redete, verstummte abrupt und fragte dann: »Was ist passiert?«

»Ja, habt ihr es denn nicht gehört?«

»Was?«

»London ist abgebrannt, Cædmon.«

 

Es dauerte ein Weilchen, bis er Näheres erfuhr. Erst brachte er Hyld, die Matilda in den Armen hielt, zu Aliesa. Seine Schwester versprach, sich um Mutter und Tochter zu kümmern. Hyld hatte längst nicht alle Geheimnisse der Heilkunst von ihrer Mutter gelernt, aber in den Jahren ihrer Kindheit, da sie Marie auf Krankenbesuchen begleitet hatte und ihr zur Hand gegangen war, hatte sie unweigerlich allerhand Wissenswertes erfahren. Auch in London hatte die Fieberepidemie gewütet, und sie hatte die Kranken in der Nachbarschaft versorgt. So reichte ein kurzer Blick auf Aliesa, um Cædmon zu beruhigen: Seine Frau würde durchkommen. Zu Matildas Chancen wagte sie sich nicht zu äußern, es war noch zu früh. Aber sie gab sich hoffnungsvoll.

Cædmon weckte Irmingard, die ihren Bruder selig in die Arme schloß und ihm den Weg zu Eadwigs leerer Kammer wies. Die sechsjährige Emma und ihr vierjähriger Bruder Knut waren auf einem der beiden Karren eingeschlafen, die sie von London hergebracht hatten. Nachdem die Kinder zu Bett gebracht worden waren, setzten Cædmon und Erik sich an den Tisch in der Halle und redeten.

»Bist du durstig?« fragte Cædmon gedämpft. Entlang der Wände lagen reglose, schlafende Gestalten. »Ich fürchte, ein Becher Wasser ist alles, was wir zu bieten haben.«

Erik hob abwehrend die Hand, und auf Cædmons Bitte hin berichtete er von dem Feuer, das die große Handelsstadt an der Themse fast vollständig zerstört hatte. »Es heißt, es sei in der Nähe von St. Paul ausgebrochen. Niemand weiß es genau. Es spielt auch keine Rolle. Die Stadt liegt in Schutt und Asche. Es sieht beinah so aus, als wären die Dänen eingefallen«, bemerkte er nicht ohne Ironie. »Trockene Kälte birgt größere Feuergefahr als ein heißer Sommer, sagt man, weil die Leute versucht sind, an den unmöglichsten Orten ein Feuer anzuzünden, um sich zu wärmen. Warst du jemals in London, Cædmon?«

Der Thane nickte. »O ja. Ich habe für den König oft Botschaften in die Stadt gebracht. Außerdem war ich mit Beatrice Baynard verlobt. Ihre Familie lebt in London, und hin und wieder scheuchte der König mich hin, um sie zu besuchen.«

»Dann weißt du, wie dichtgedrängt die Häuser dort standen. Und alle aus Holz. Das Feuer raste einfach von Dach zu Dach … Es war furchtbar. Panik, Plünderungen, was du dir nur denken kannst. Ralph Baynards steinerne Festung und der Tower sind beinah die einzigen Gebäude, die noch stehen. Als wir sahen, daß auch unser Viertel am Hafen nicht verschont bleiben würde, haben wir auf zwei Wagen geladen, was uns sinnvoll erschien, und mit den Karren im Hof gewartet. Unser Hof war groß, eine Freifläche, verstehst du: Sicherheit. Aber es ist erschütternd, dein Haus um dich herum abbrennen zu sehen, das kannst du mir glauben.« Cædmon nickte wortlos. Er hatte Kopfschmerzen und verspürte einen leichten Schwindel. Er wußte nicht genau, wie viele Tage es her war, daß er zuletzt etwas gegessen hatte. Vier oder fünf, schätzte er. Er war erschöpft und am Ende seiner Weisheit, aber Eriks Bericht faszinierte ihn auf eine seltsame, kranke Art. Es war merkwürdig tröstlich, von den Schicksalsschlägen zu hören, die andere getroffen hatten.

»Gab es viele Tote?«

»Hunderte. Etliche sind in ihrer Angst in den Fluß gesprungen und ertrunken. Viele sind verbrannt. Und es gab einen Moment in unserem Hof, wo ich dachte, es würde uns auch erwischen.«

Cædmon atmete tief durch. »Welch ein Glück, daß du zu Hause warst. Es hätte ebensogut passieren können, während du auf See bist.«

Erik lächelte ein wenig wehmütig und schüttelte den Kopf. »Ich fahre nicht mehr zur See, Cædmon. Die Zeiten sind endgültig vorbei.«

»Aber … wieso?«

»Ich leide an Gicht. Es kommt von einer Stunde zur nächsten. Plötzlich bin ich ein Krüppel.« Er lachte leise, hob den Kopf und sah Cædmon in die Augen. »Eine gerechte Strafe, denkst du nicht?«

Cædmon schüttelte den Kopf. »Nein. Du schuldest mir schon lange nichts mehr.«

»Tja.« Erik strich sich verlegen über den Bart. »Wie auch immer. Ich kann nicht mehr hinausfahren, und zumindest Hyld ist glücklich darüber. Aber ich will mich nicht beklagen. Ich habe immer noch meine drei Schiffe. Meine Söhne, Harold und Guthrum, fahren jetzt unter meinen Kapitänen, aber eines Tages werden sie das Kommando führen. Ich schätze, es ist richtig so. Das ist der Lauf der Dinge.«

Es war einen Moment still, ehe Cædmon fragte: »Wie alt bist du?« Erik hob langsam die Schultern. »Ich weiß es nicht. Aber noch keine vierzig, glaub’ ich.«

»Und … hast du viel verloren? Im Feuer?«

Unverändert weiße Zähne blitzten auf, als das Piratengrinsen sich zeigte. »Nein. Ich habe alles retten können, was wirklich von Wert ist. Hast du die Karren gesehen, die ich mitgebracht habe?«

Cædmon nickte. Der eine hatte die Kinder und ein paar verheißungsvoll klimpernde Beutel und persönliche Habseligkeiten enthalten. Der andere war hoch mit Rinderhäuten beladen.

»Aber wenn es eine Ware derzeit im Überfluß gibt in England, dann ist es Rindsleder«, bemerkte er. »Schließlich ist beinah jede Kuh im Land verreckt.«

»Die Tierhäute sind nur Tarnung. Darunter sind Weizensäcke.«

Cædmon erstarrte. »Weizen?«

Erik warf ihm einen kurzen Blick zu und nickte. »Ich hab ihn letztes Jahr gekauft, weil ich eine neue Grönlandfahrt geplant hatte. Aber dann wurde es immer schlimmer mit der Gicht, und ich mußte einsehen, daß ich mein Vorhaben nicht mehr durchführen kann. Dann … kam die Mißernte, und die Kornpreise schnellten in die Höhe. Aber ich konnte nicht.« Er lachte verschämt. »Es kam mir so schäbig vor, mit dem Hunger und der Not Geld zu machen. Also habe ich meinen Weizen nicht verkauft.« Er hob den Kopf und sah Cædmon direkt an. »Nimm ihn. Als Dank dafür, daß du uns aufnimmst, daß du meine Frau und meine Kinder immer hier willkommen geheißen hast, wenn ich fort war, immer gegen den Willen deiner Mutter.« Er unterbrach sich kurz, ehe er brüsk knurrte: »Verflucht, Cædmon, zier dich nicht. Niemand in Helmsby muß mehr hungern, es sei denn, du opferst die Leute deinem Stolz. Ich kann diesen Weizen einfach nicht verkaufen, es wäre falsch. Also tu mir den Gefallen und nimm ihn.«

Cædmon lächelte befreit. »Meinetwegen. Wenn dir soviel daran liegt …« Sie lachten. So laut, daß manch hungriger Mann in der Halle erschrocken aus wirren Träumen auffuhr und Zeuge wurde, wie der Thane und der berüchtigte dänische Pirat, der sein Schwager war, sich lachend in die Arme sanken.

 

Der bitterkalte Hungerwinter forderte im ganzen Land hohen Tribut. Die Priester mahnten das Volk zur Umkehr. Gott sei im Zorn über England gekommen, um die Menschen Demut und Frömmigkeit zu lehren, und nur durch Abkehr von Laster und Sünde und Hinwendung zur Rechtschaffenheit könne er besänftigt werden.

Cædmon glaubte nicht, daß er und die Seinen rechtschaffener oder weniger lasterhaft waren als die Leute der nächsten Hundertschaft, aber in Helmsby hatte die Not ein Ende, und sein Onkel war das einzige Opfer der Fieberepidemie, das es in seiner Familie zu beklagen gab. Athelstan starb, nachdem Bruder Oswald ihm die Letzte Ölung erteilt und Alfred ihm den letzten Becher Met eingeflößt hatte, den sie noch besaßen, am selben Tag, als Aliesa zum erstenmal aufstehen konnte und Matildas Fieber endlich zu sinken begann.

Jeder in der Halle und im Dorf betrauerte Onkel Athelstans Hinscheiden, vor allem natürlich sein Sohn, doch Alfred selbst war es, der bei der Totenfeier aussprach, was alle dachten: Athelstan of Helmsby war nicht gestorben, ohne sich seinen großen Lebenstraum erfüllt zu haben; er hatte das letzte Faß bis auf den letzten Tropfen geleert.

Hyld brachte Aliesa und Irmingard bei, wie man mit Schneepackungen und Wadenwickeln das Fieber bekämpfen konnte, und die drei Frauen waren von früh bis spät unterwegs und kümmerten sich um die Kranken. Nachdem der Hunger ein Ende hatte, hatte sich auch die Epidemie bald ausgetobt. Helen, die alte Köchin, war eins der ersten Fieberopfer geworden, und Gytha übernahm vorläufig ihr Amt. Umsichtig teilte sie die neuen Vorräte ein, und Cædmon borgte Geld von Erik und kaufte Lucien de Ponthieu, dem reichsten seiner Nachbarn, ein paar Fässer Pökelfleisch ab. Früh im Jahr setzte die Schneeschmelze ein, und sie erlebten einen ungewöhnlich milden März.

»Ich denke, das Schlimmste haben wir hinter uns«, sagte Cædmon. Er stand am Fenster, spürte die laue Frühlingsbrise auf den Wangen und reckte sich in der warmen Morgensonne.

Aliesa strich mit zwei Fingern über seine rechte Schläfe, wo über den Winter die ersten silbrigen Strähnen aufgetaucht waren. Wegen seiner blonden Haare fiel es kaum auf; man sah es nur, wenn das Licht in einem bestimmten Winkel darauf fiel. Aber sie hatte es gleich bemerkt. »Und wir haben sogar unsere kleine Marie über den Winter gebracht«, antwortete sie. »Am Tag ihrer Geburt hatte ich kaum Hoffnung für sie.«

Cædmon nickte. Viele Kinder waren gestorben, in manchen Familien gar zwei oder drei. »Ich weiß, ich sollte glücklicher sein. Trotzdem. Ich kann immer noch nicht richtig fassen, wie es zu all dem kommen konnte. Daß wir so mir nichts, dir nichts ins Elend geraten konnten.« Er sprach bedächtig und leise, aber er hatte Mühe, seinen Zorn zu beherrschen. »Ist das wirklich alles, was es mir eingebracht hat, zwanzig Jahre meines Lebens William, diesem gottverfluchten Bastard, zu schenken?«

Aliesa legte den Arm um seine Taille und folgte seinem Blick, sah auf die Wiesen und die Felder mit der fetten, schwarzen Erde hinaus und weiter bis zum Fluß. »Was sonst hättest du tun können? Du hast immer gesagt, daß jeder, der dazu in der Lage ist, seinen Beitrag zur Verständigung zwischen Engländern und Normannen leisten muß. Das hast du, mehr als jeder andere. Und der König hat dir auf die einzige Art gedankt, die er versteht. Du hältst mehr Land in East Anglia, als irgendeiner deiner Vorfahren je hatte.«

»Das ist wahr. Aber wem er viel gibt, von dem nimmt er auch viel. Er hat uns in den letzten Jahren so ausgepreßt, daß wir keinerlei Rücklagen hatten.« Er hob seufzend die Hände und ließ sich auf die Truhe unter dem Fenster sinken. »Wahrscheinlich habe ich alles falsch gemacht. Etienne hatte recht. Ich hätte Sheriff von Norfolk werden können. Dann stünde ich anders da, das kannst du mir glauben. Lucien und Beatrice und ihre Kinder haben jedenfalls den Gürtel nicht enger schnallen müssen.«

Aliesa setzte sich neben ihn und nahm kopfschüttelnd seine Hand. »Was für einen Unsinn du redest, Cædmon. Du hast das Amt nicht gewollt, weil du nicht der verlängerte Arm des Königs sein wolltest. Die Entscheidung ist heute noch genauso richtig wie eh und je. Und ich bin sicher, wenn der König es dir heute anböte, würdest du ablehnen.« Er dachte darüber nach und nickte langsam. »Solange William König ist, ja, vermutlich.«

Sie hob die Schultern. »Also? Was quält dich?«

Er sah verlegen auf seine Schuhspitzen hinab. »Dein Bruder hat mir ein paar häßliche, aber leider wahre Dinge gesagt, als ich letzten Monat bei ihm war. Daß du nie in eine solche Lage geraten wärest, wenn du keinen Engländer geheiratet hättest. Daß du unter deinem Stand geheiratet hast. Und daß Etienne dir mehr zu bieten gehabt hat.«

Sie lachte leise, legte die Arme um seinen Hals und sah ihn an. Die graugrünen Augen leuchteten, schienen beinah zu sprühen von einer Heiterkeit, die er nicht so recht verstand, und dann drückte sie die Lippen auf sein Ohr und flüsterte: »Aber ich wollte dich

Rouen, Juli 1087

Der Hof der großen Burg glich einem Ameisenhaufen, in den ein mutwilliges Kind einen Stock gestoßen hatte. Es wimmelte von Soldaten, Pferden und Karren, und alle schienen ziellos umherzulaufen.

»Grundgütiger Himmel, welch ein unnormannisches Durcheinander«, murmelte Cædmon verwundert und saß ab.

Seine Housecarls folgten seinem Beispiel und sahen sich neugierig um. Der eine oder andere hatte staunend den Mund geöffnet. Sie alle waren zum erstenmal in der Normandie und hatten nie zuvor eine so gewaltige Burg gesehen.

Cædmon tippte Odric auf die Schulter und wies nach links. »Dort hinten ist der Pferdestall. Ihr werdet vermutlich keinen Platz für die Tiere mehr finden, aber vielleicht jemanden, der euch sagen kann, wo ihr sie hinbringen könnt. Bleibt zusammen und fangt keinen Streit mit den normannischen Söldnern an. Nach der Vesper treffen wir uns hinter der Kapelle, und ich werde euch hoffentlich sagen können, wo ihr die müden Häupter betten könnt.«

Odric nahm ihm Frisons Zügel aus der Rechten. »In Ordnung, Thane.« Cædmon wandte sich ab, kämpfte sich durch das Gewühl zum Eingang des Turms und stieg die Treppe zur Halle hinauf. Auch hier ging es zu wie auf dem Jahrmarkt, aber einer der ersten Menschen, den Cædmon entdeckte, war sein Bruder.

»Eadwig!«

Eadwig sah stirnrunzelnd auf und strahlte, als er ihn erkannte. »Willkommen in der schönen Normandie, Thane.«

»Heißen Dank, aber ich wäre viel lieber zu Hause geblieben.«

Eadwig grinste und klopfte ihm die Schulter. »Wer wär’ das nicht. Doch wir können den König ja schlecht nur mit diesen normannischen Schlappschwänzen in den Krieg ziehen lassen, oder?«

Sie setzten sich auf eine Bank, wo gerade zwei Plätze freigeworden waren. »Was ist passiert?« fragte Cædmon.

»Ich nahm an, das wüßtest du. Oder hat eine Stimme dir im Traum gesagt, du solltest mal herkommen und nach dem Rechten sehen?« »Nein, Guthric. Er kam auf dem Weg nach York zu Hause vorbei und sagte, es gebe Ärger im Vexin, und der König habe Lanfranc Nachricht gesandt, er solle alle verfügbaren Männer nach Rouen schicken. Das ist alles, was ich weiß. Ich bin sofort mit zwanzig meiner Männer aufgebrochen. Also?«

»Hugh Estevel und Ralph Mauvoisin, zwei französische Ritter, die zu den Besatzungstruppen von Mantes gehören, haben mit ihren Horden mehrfach die Grenze überschritten und sind in der Normandie eingefallen. In der Gegend von Évreux und Pacy haben sie das Land verwüstet, Bauern und Vieh abgeschlachtet und so weiter. Danach haben sie sich ins Vexin zurückgezogen, aber der König ist nicht gewillt, sich diese Beleidigung kommentarlos gefallen zu lassen.«

»Und dafür stellt er ein Heer auf?« fragte Cædmon verständnislos. »Weil Philip von Frankreich über die Grenze gespuckt hat?«

»Philip von Frankreich? Oder Prinz Robert?« entgegnete Eadwig vielsagend.

Cædmon nickte versonnen. Nach dem erneuten Zerwürfnis mit König William vor vier Jahren war sein ältester Sohn in aller Offenheit an den Hof nach Paris gegangen, und seither war immer schwer zu sagen, ob es Philip oder Robert oder beide zusammen waren, die Williams Macht zu schmälern oder ihn zu provozieren versuchten – bislang erfolglos.

Eadwig verschränkte die Arme. »Zehn Jahre hält Philip jetzt das Vexin besetzt. Ich dachte, William hätte sich längst damit abgefunden. Aber offenbar habe ich mich geirrt.«

»Du solltest ihn besser kennen. Mit so etwas findet er sich niemals ab. Er war nur in diesen zehn Jahren immer von so vielen Seiten bedrängt, daß er sich nie darum kümmern konnte. Aber es bleibt eine Tatsache, daß das Vexin ihm ebenso lehnspflichtig ist wie dem König von Frankreich. Sein Vater hat Philips Vater zu seinem rechtmäßigen Thron verholfen und zum Dank das halbe Vexin erhalten. Die Normannen haben es nicht erobert, verstehst du, es war eine Gabe für treue Dienste. Das ist ein Prinzip, an das William unerschütterlich glaubt, darum beleidigt diese Sache ihn so.«

»Das ist mir neu«, entgegnete Eadwig überrascht. »Ich glaube auch nicht, daß Rufus es weiß.«

»Ihr müßt ja auch nicht alles wissen«, erwiderte Cædmon grinsend, wurde aber gleich wieder ernst. »Trotzdem ist es merkwürdig. Wie viele Männer hat er wohl?«

Eadwig zuckte mit den Schultern. »Hier auf der Burg wenigstens vierhundert. Draußen vor der Stadt ist ein Zeltlager, aber ich weiß nicht, wie viele dort sind.«

»Ich bin daran vorbeigekommen. Ich würde schätzen, drei- bis viertausend.«

»Du meine Güte … Das ist ein Erobererheer!«

Cædmon nickte. »Da könntest du durchaus recht haben.«

 

Er fand den König in düsterer Stimmung.

»Das wurde ja wohl auch langsam Zeit!«

»Ich bitte um Verzeihung, Sire, aber die Nachricht, daß Ihr mich zu sprechen wünscht, hat mich gerade erst erreicht.«

»Ja. Ich hätte diesem Schwachkopf von Diener sagen sollen, daß er Euch vermutlich bei diesem verfluchten Verräter Godwinson findet.« Cædmon verzichtete darauf, ihn daran zu erinnern, daß Wulfnoth Godwinson kein Verräter war, oder ihm zu erklären, daß es auf der Burg derzeit drunter und drüber ging, so daß es durchaus Stunden dauern konnte, jemanden zu finden. Statt dessen sagte er gar nichts, und der König beendete das Schweigen mit einem ungeduldigen Wink und den Worten: »Wie dem auch sein mag. Erhebt Euch und erweist uns die Ehre, an unseren Beratungen teilzunehmen.«

Cædmon stand auf und nickte den Prinzen und Kommandanten zu, die sich in Williams Gemach eingefunden hatten.

»Cædmon.« Rufus saß scheinbar entspannt zurückgelehnt in einem der Sessel und lächelte. »Gut, daß du gekommen bist. Wie viele Männer bringst du?«

»Zwanzig.«

»Wir hörten, ihr hattet einen schweren Winter«, bemerkte der jüngere der Prinzen. »Alles in Ordnung in Helmsby?«

»Nicht jetzt, Henry!« fuhr sein Vater ihm über den Mund. »Seid Ihr über die Situation im Bilde, Thane?«

Cædmon nickte und faßte zusammen, was Eadwig ihm berichtet hatte. »Ja, so ist es«, grollte William. »Ich habe Philip von Frankreich eine Botschaft geschickt, mit der ich Anspruch auf das gesamte Vexin erhebe. Eben ist einer seiner Ritter mit der Antwort eingetroffen.« Er sah zur Wache an der Tür. »Laßt den Lumpen eintreten.«

Auf ein Zeichen der Wache stolzierte ein junger Geck herein, der Cædmon schon draußen auf dem Korridor ins Auge gefallen war. Er war ein gutaussehender junger Kerl, aber zu bunt und auffällig gekleidet. Er trug ein kostbar verziertes Schwert, doch seine Hände waren so weich und rosig, daß man auf den Gedanken kommen konnte, er trage es nur zum Schmuck. Sein Name sei Roger de Beauvais, verkündete er mit einem hochnäsigen Nicken in Williams Richtung, und Cædmon dachte, daß Roger de Beauvais die Fleischwerdung aller Vorurteile war, die man in England und der Normandie gegen Franzosen pflegte: Er war eitel, eingebildet und dumm.

»Alsdann«, sagte der König auffordernd. »Welche Antwort bringst du mir von König Philip?«

»Mein Herr und König läßt Euch wissen, daß er Eure zu Unrecht und in Willkür erhobenen Ansprüche auf das französische Vexin in aller Schärfe und Entschiedenheit zurückweist.«

Niemand war übermäßig überrascht, und die Miene des Königs blieb unbewegt, als er mit leiser Stimme fragte: »Und was ist mit dem normannischen Vexin?«

»Es gibt kein normannisches Vexin, Monseigneur.«

»Wie würdet Ihr dann das Gebiet nennen, das Philips Vater meinem Vater aus Dank für seine Treue und seinen Schutz gegen Burgund verlieh?«

Roger de Beauvais wußte anscheinend keine Antwort auf diese heikle Frage und fuhr stur mit seiner auswendig gelernten Botschaft fort: »Darüber hinaus hat König Philip mir aufgetragen, Euch daran zu erinnern, daß Ihr als französischer Herzog sein Vasall seid, und er erwartet Euch noch in diesem Monat in Paris, um Eure Huldigung entgegenzunehmen.«

William lachte verächtlich. »Ich bin König von England und schulde niemandem Huldigung als Gott allein.«

De Beauvais zog die verdächtig schmalen Brauen in die Höhe. »Für den Fall dieser Antwort hat mein König mir aufgetragen, Euch folgendes in Erinnerung zu rufen: Ihr seid König von England nicht durch Geburtsrecht, sondern durch Usurpation. Und Ihr seid ein Bastard und könnt darum niemals im Stande göttlicher Gnade sein. Somit seid Ihr ihm keineswegs ebenbürtig an Rang und schuldet ihm Vasallentreue und Lehnseid.«

Die Prinzen tauschten einen entsetzten Blick.

William starrte den französischen Boten einen Moment ausdruckslos an, das Kinn auf die linke Faust gestützt. »Von allen Beleidigungen, die diese feige kleine Kröte, Philip von Frankreich, mir je zugefügt hat, war wohl die unverzeihlichste, mir einen so unglaublichen Dummkopf wie Euch als Boten zu schicken.«

Rufus konnte sich ein Lachen nicht verbeißen und schlug sich hastig die Hand vor den Mund.

Der König neigte den Kopf zur Seite. »Sagt uns, Roger de Beauvais, wie viele Männer an seinem Hof haben sich freiwillig erboten, mir diese Nachricht zu bringen?«

»Ich verstehe nicht …«

William winkte ab. »Nun, es ist nicht weiter von Belang. Ich könnte Euch auftragen, der kleinen Kröte auszurichten, daß ich in der Tat nach Paris kommen werde, aber anders, als er es sich vorstellt. Und ich könnte Euch auftragen, meinem verräterischen Sohn Robert zu bestellen, daß er gut beraten wäre, Paris zu verlassen, ehe ich dort einziehe, weil ich keine Verantwortung übernehmen kann für das, was passiert, wenn er mir je wieder unter die Augen kommt. Aber Tölpel, der Ihr seid, würdet Ihr die Botschaft sicher vergessen oder verfälschen, darum müssen wir einen anderen Weg finden.«

Beleidigt reckte der junge Franzose das Kinn vor. »Ich werde Eure Nachricht wortgetreu übermitteln, seid unbesorgt.«

Williams Mundwinkel verzogen sich nach oben. »Ja. In gewisser Weise werdet Ihr das tun. Ihr werdet der Überbringer meiner unmißverständlichen Botschaft an Philip sein. Wache.«

Die beiden Soldaten traten hinzu und drehten de Beauvais die Arme auf den Rücken.

»Was erlaubt ihr euch …«

»Schneidet ihm die Zunge heraus und schickt sie Philip«, unterbrach William den empörten Boten leise. »Wartet drei Tage, dann schlagt ihm den Kopf ab und schickt ihn hinterher. Und jetzt raus mit ihm.« Die vierschrötigen Wachen nickten und führten den vor Entsetzen verstummten de Beauvais hinaus.

Alle im Raum starrten den König an, und es war Rufus, der sich schließlich ein Herz faßte und fragte: »Paris, Sire?«

William nickte versonnen. »Ja. Über Mantes. Weißt du noch, was du vor zehn Jahren gesagt hast, als Philip Mantes besetzte?«

»Natürlich«, antwortete der Prinz. »Die Stadt ist eine hervorragende Basis für einen Marsch auf Paris.«

»So ist es. Von Mantes nach Paris sind es nur dreißig Meilen flußaufwärts. Warum nicht?« Er stützte die Hände auf die Armlehnen und beugte sich leicht vor. »Warum nicht? Philip von Frankreich ist seit Jahren der großzügige Gönner all meiner Feinde, hat die Bretagne, Flandern, das Anjou und Schottland und nicht zuletzt meinen eigenen Sohn gegen mich aufgehetzt. Meine Armee kann in einer Stunde marschieren. Nennt mir einen einzigen Grund, warum ich es nicht tun sollte.«

Der Erzbischof von Rouen kam der Aufforderung nach. »Philip ist der König von Frankreich.«

William fegte den Einwand brüsk beiseite. »Dann soll er seine Krone mit dem Schwert verteidigen. Wenn er kann.« Er stand unvermittelt auf. »Macht Euch bereit, Monseigneurs, wir rücken morgen bei Sonnenaufgang aus und tragen Feuer und Verderben ins Vexin. Philip soll erzittern auf seinem Thron, denn dieses Mal kommt William von der Normandie wirklich, um ihn zu holen.«

Mantes, Juli 1087

Cædmon hatte an König Williams Seite in vielen Schlachten gekämpft und viele Städte und Dörfer fallen sehen. Er wußte, was eine Armee anrichten konnte, wenn sie erst aufgestachelt und enthemmt und dann losgelassen wurde. Aber was er an diesen brütend heißen Julitagen im Vexin erlebte, stellte alles in den Schatten.

Brennend und mordend zogen Williams Truppen die Seine hinauf, zündeten das Korn auf den Feldern an und verwüsteten jedes Dorf, durch das sie kamen. Eine Vorhut von knapp fünfhundert handverlesenen Rittern zog schließlich vor die Tore von Mantes und forderte die französische Garnison zum Kampf.

Deren Befehlshaber fielen prompt auf die Finte herein und führten ihre kleine Besatzungsarmee ins Verderben. Kaum hatten sie die sicheren Mauern der Stadt verlassen und Aufstellung zum Kampf genommen, da fielen Williams Horden über sie her, metzelten sie nieder und stürmten die Stadt.

Williams Befehl, Kirchen und Klöster zu schonen, verhallte ungehört. Sie wurden genauso geplündert und in Brand gesteckt wie die Häuser der unglücklichen Bewohner der Stadt. Menschen verbrannten und wurden abgeschlachtet, Mädchen und Frauen jeden Alters vergewaltigt, Schreie, Waffenklirren und das Tosen des Feuers stiegen zum Himmel auf und der Gestank von brennendem Holz, Nässe und Fäulnis. Als es Nachmittag wurde, war die Stadt dem Erdboden gleich. Schwer beladen mit Fässern und Säcken voller Beute strömten die Soldaten zum Tor hinaus, manche hatten gar einen Karren organisiert. Cædmon saß an Williams Seite auf dem Rücken seines Pferdes und beobachtete diesen grausigen Exodus. Ein Karren, hoch beladen mit Tierhäuten, Fellen und zwei leblosen Frauengestalten, der von zwei weinenden, halbwüchsigen Jungen gezogen wurde, fuhr kaum zehn Schritte vor ihnen vorbei. Ein halbes Dutzend englischer Söldner trieb die Knaben mit Tritten, Schlägen und unter lautem Gejohle an. Staub wirbelte auf und wurde in einer dichten Fahne zu ihnen herübergeweht. Frison tänzelte nervös. Cædmon nahm die Zügel kürzer und rieb sich das Kinn an der Schulter.

Der König, der seit geraumer Zeit mit dieser vollkommen ausdruckslosen Miene, die Cædmon so unheimlich fand, durch das weit geöffnete Stadttor gestarrt hatte, wandte plötzlich den Kopf und sah ihn an.

»Eure Männer?«

»Nein.« Aber seine Housecarls waren genau wie jeder andere Soldat in der Stadt eingefallen, und er dachte, daß er lieber nicht wissen wollte, was sie getrieben hatten. Odric, Elfhelm, Gorm, sie alle waren treue Seelen und anständige Männer, aber eine gefallene Stadt konnte selbst die Besonnensten in einen gefährlichen Rausch versetzen.

»Die Kommandanten sollen bekanntmachen, daß bis morgen früh jeder Gelegenheit hat, Reliquien, Kelche und anderes Kircheneigentum zurückzugeben. Nach dem Morgenappell wird die Beute durchsucht, und wer dann noch im Besitz solcher Gegenstände ist, wird geblendet und verliert eine Hand.«

Cædmon nickte. »Ja, Sire.«

»Und jetzt seid so gut und begleitet mich in die Stadt. Ich denke, wir können es wagen. Alles ist still.«

Um nicht zu sagen totenstill, dachte Cædmon, winkte den Männern der Leibgarde, ihnen zu folgen, und ritt an der Seite des Königs durchs Tor und zwischen den schwelenden, verkohlten Gerippen der Häuser hindurch die einstmals belebten Straßen von Mantes entlang.

In der Nähe des Tores verstopften die Leiber der toten französischen Soldaten die Straße, die zurück hinter die Stadtmauern geflüchtet waren, als das Heer sie überfiel. Auch im Stadtinnern lagen Tote im Staub, zertrampeltes Federvieh und verendete, halb verbrannte Schweine und Ziegen. Cædmon sah kein einziges Haus, das nicht verbrannt war. Die Zerstörung war vollkommen. Selbst die steinernen Kirchen waren rußgeschwärzte Ruinen, ihre hölzernen Dächer verbrannt und eingestürzt.

Vor einem dieser geschändeten Gotteshäuser hielt der König an und sah an der einstmals prächtigen Westfassade hoch.

»Notre-Dame«, murmelte er. »Mein Vater hat sie bauen lassen, als er das Vexin bekam. Obwohl er sonst kein großer Kirchenstifter war. Nicht so wie ich.«

Die Kirche stand am Rande eines großen Marktplatzes, der vollkommen ausgestorben dalag, bis ein lahmer Straßenköter mit angesengtem Fell aus einer Gasse gekrochen kam, sich geduckt vorwagte, den Bauch fast am Boden, und die blutbesudelte Leiche eines alten Mannes beschnupperte.

Cædmon wurde schlagartig übel, und er wandte hastig den Kopf ab. Auf dieser Seite des Platzes rührte sich nichts. Hier lagen auch keine Toten. Ein heißer Windhauch erhob sich und wirbelte den Staub zu einer flachen Windhose auf. Er starrte darauf hinab, als er plötzlich an seiner Seite ein schrilles Wiehern vernahm. Sein Kopf fuhr herum. Die Bö hatte das schwelende Feuer im Innern der Kirche wieder angefacht, und mit einemmal schlugen Flammen aus der leeren Türöffnung. Frison stieg ebenso wie der große Rappe des Königs, zwei Pferde der Wachsoldaten brachen aus und galoppierten ein Stück, ehe die Männer sie zum Stehen brachten und wieder wendeten.

Frison tänzelte ängstlich zur Seite und stieg noch einmal. Cædmon krallte die Linke ohne alle Eleganz in die Mähne, um sich im Sattel zu halten, und sah aus dem Augenwinkel, wie das Pferd des Königs bockte, hinten hochging und sein gewichtiger Reiter nach vorn geschleudert wurde.

Dann war der Spuk vorbei, die Flammen erstarben, und die Pferde beruhigten sich wieder.

»Alles in Ordnung, Sire?« fragte Cædmon.

Der König saß reglos und eigentümlich zusammengesunken. Langsam hob er den Kopf und sah Cædmon an, seine Augen schienen wie vor Verwunderung geweitet. Dann zuckte sein Mund, und ohne jede Vorwarnung sackte der schwere, unförmige Körper zur Seite, rutschte vom Rücken des Pferdes und schlug hart auf den Boden.

Mit einem erschreckten Ausruf sprangen Cædmon und die Männer der Leibwache aus dem Sattel. Cædmon erreichte den König als erster und kniete sich neben ihn.

William lag zusammengekrümmt auf der Seite und stöhnte.

Cædmon hob die Hand, zögerte, legte sie dann auf seine Schulter und drehte ihn mit einiger Mühe auf den Rücken.

»Sire … was ist passiert?«

William hatte die fette linke Hand auf den Unterleib gepreßt. »Es ist nichts«, brachte er mit Mühe hervor. »Ich bin … auf den Sattelknauf gefallen.« Er lachte atemlos. »Warum muß das verfluchte Ding auch vergoldet sein? Helft mir auf, Cædmon. Es vergeht gleich wieder.«

Aufhelfen? dachte Cædmon entsetzt. Dazu brauchen wir einen Ochsen und eine Winde … Er sah flehentlich zu den Männern der Wache. Einer erbarmte sich und kam herbei, und sie stützten den König jeder von einer Seite. Doch kaum hatten sie ihn in eine sitzende Haltung gebracht, gab William einen gepreßten, halb erstickten Laut von sich und verlor die Besinnung.

Ratlos und verängstigt sahen sie auf ihn hinab. Das Gesicht des Königs war pergamentbleich, beinah grau, und kleine Schweißtropfen standen auf seiner Stirn.

»Gott … was tun wir denn jetzt, Thane?« fragte einer der Männer. »Wir holen einen Wagen und bringen den König zu seinem Zelt, was sonst können wir tun? Wir sind immerhin zu siebt, das sollte zu schaffen sein.«

St. Gervais, September 1087

Cædmon empfing Guillaume Bonne-Ame, den Erzbischof von Rouen, am Tor des kleinen Klosters.

»Wie geht es ihm?« fragte der Bischof und war nicht zu stolz, sich vom Pferd helfen zu lassen. Er war kein junger Mann mehr, und der Ritt hinauf auf den steilen Hügel westlich von Rouen hatte ihn angestrengt. Cædmon schüttelte den Kopf. »Furchtbar, Monseigneur. Ich habe noch niemals einen Menschen so leiden sehen. Die Schmerzen sind grauenhaft. Er … er beherrscht sich, wie es vermutlich kein anderer Mann könnte, aber wenn er einmal ein wenig Schlaf findet, wecken seine eigenen Schreie ihn wieder auf. Und so geht es jetzt seit beinah sechs Wochen.«

»Wer sind seine Ärzte?« fragte der Bischof. »Sie müssen doch irgend etwas tun können.«

»Der Bischof von Lisieux und der Abt von Jumièges.«

»Zwei vielgerühmte Heiler«, bemerkte Guillaume.

Cædmon führte ihn durch den stillen, schattigen Kreuzgang. Ihre Schritte hallten leise auf den ausgetretenen Steinfliesen. »Sicherlich. Aber in diesem Fall sind sie völlig machtlos.«

Er hatte dafür plädiert, Malachias ben Levi aus Winchester zu holen, aber die frommen Ärzte hatten den Vorschlag entrüstet abgelehnt. Im Grunde war es auch gleich. Cædmon wußte, daß auch Malachias nichts mehr hätte tun können. Der Leib des Königs war innerlich zerrissen und heilte nicht mehr. Nur die Schmerzen hätte der jüdische Arzt mit seinen geheimnisvollen morgenländischen Pulvern vielleicht zu lindern gewußt. Doch seine Hände seien unrein, hatten Abt und Bischof erklärt, befleckt mit dem heiligen Blut Jesu Christi, und seine Pulver darüber hinaus vermutlich Teufelswerk. Auf keinen Fall dürfe der König dem jetzt noch ausgesetzt werden. Cædmon hatte sie wütend gefragt, welches Gewicht diese theologischen Erwägungen wohl hätten, wenn es einer der frommen Männer selbst wäre, der die Schmerzen aushalten müßte, aber alles, was er erreicht hatte, war, die Ärzte zu beleidigen.

Er brachte den Erzbischof zu der Pforte des Hauses, das gewöhnlich der Prior bewohnte, und murmelte: »Ihr dürft nicht erschrecken, Monseigneur. Er sieht … sehr verändert aus. Aber sein Geist ist völlig klar; er merkt, wenn man ihn mitleidig oder entsetzt anschaut. Und beides kränkt ihn.«

Der Erzbischof nickte und wappnete sich.

Cædmons Warnung war durchaus angebracht gewesen. Obwohl der Leib des Königs unter der Decke immer noch groß und unförmig wirkte, war sein Gesicht eingefallen. Der Schmerz hatte tiefe Furchen in Stirn und Wangen gegraben, die schwarzen Augen waren trüb und gelblich verfärbt. Auch die fahle Haut schien einen leichten Gelbton angenommen zu haben, und das eisgraue Haar war dünn wie Spinnweben geworden. William war neunundfünfzig Jahre alt. Bis vor sechs Wochen hatte er ausgesehen wie ein Mann in der Blüte seiner Jahre. Jetzt war er ein todkranker Greis.

Als er den Besucher eintreten sah, verzogen sich die rissigen, blutleeren Lippen zu einem Lächeln. »Guillaume Bonne-Ame, mein alter Freund …«

Der Erzbischof ergriff die faltige Hand, die sich ihm entgegenstreckte. »Gott sei mit dir, William.«

»Er ist mit mir. Er war immer mit mir. Ihm verdanke ich alles, was ich hatte. Er war immer mein Verbündeter, meine größte Kraft.«

Cædmon brachte dem Bischof einen Schemel, und Guillaume ließ sich ächzend darauf nieder, ohne die Hand des Königs loszulassen. »Ja, ich weiß. Und du hast mich rufen lassen, um deinen Frieden mit ihm zu machen?«

Der König nickte, kniff die Augen zu und ballte die freie Hand zur Faust. Sein Gesicht verzerrte sich, und sein Atem ging in ein mühsames Keuchen über.

»Schnell, Thane, holt die Ärzte«, murmelte der Erzbischof erschüttert. »Sie können nichts tun, Monseigneur«, wiederholte Cædmon leise. »Wartet ein Weilchen. Es vergeht.«

Aber es dauerte lange, ehe es verging. Cædmon kam es so vor, als währte es von Mal zu Mal länger. Er versuchte, kein Mitleid zu haben. Er dachte an seinen Vater, den alten Wulfric, die Opfer der Todesreiter in Northumbria und an all die geblendeten, verstümmelten Engländer. Aber es nützte nichts. Er empfand trotzdem Mitgefühl für den König. Er konnte einfach nicht anders.

Schließlich ebbten die Schmerzen ab, und William stieß zittrig die Luft aus. »Ich habe viel zu beichten, Guillaume. Ich denke, es wird Zeit.« »Ich höre dir zu«, versprach der Bischof.

Cædmon ging zur Tür. »Ruft mich, wenn Ihr mich braucht, ich bin gleich vor der Tür.«

»Cædmon, habt Ihr getan, worum ich Euch gebeten habe?« fragte William.

»Natürlich, Sire. Sie sind alle benachrichtigt. Sie können jeden Moment kommen.«

 

Und sie kamen. Rufus und Henry und des Königs Halbbruder Robert de Mortain, Vasallen und Weggefährten aus der Normandie und aus England; Cædmon hatte nach allen geschickt, die dem König nahegestanden hatten. Auch nach Lucien.

Nach und nach fanden sie sich in dem kleinen Kloster außerhalb der Stadtmauern von Rouen ein, versammelten sich im sonnenbeschienenen Innenhof vor dem Haus des Priors und warteten, daß sie hereingerufen wurden. Und nachdem der König gebeichtet und die Letzte Ölung empfangen hatte, ließ er sie kommen und diktierte in ihrem Beisein sein Testament. Einen nicht geringen Teil seines persönlichen Vermögens vermachte er verschiedenen Kirchen und Klöstern zur Verteilung an die Armen und zum Wiederaufbau der zerstörten Gotteshäuser von Mantes.

Dann sah er der Reihe nach in all die vertrauten Gesichter, die ihn umgaben.

»Rufus. Komm her.«

Der Prinz trat näher und sank vor dem Bett auf die Knie. »Hier bin ich, Sire.«

»Hör auf zu heulen, Bengel.«

Der dreißigjährige Rufus fuhr sich verschämt mit dem Ärmel über die Augen und sagte erstickt: »Entschuldigt, Vater.«

William lächelte schwach. »Du warst immer ein treuer, pflichterfüllter Sohn, und du sollst haben, was dir zusteht. Die Normandie muß ich deinem treulosen, verräterischen Bruder Robert hinterlassen, denn ich habe mein Wort gegeben, und der junge normannische Adel ist ihm ergeben und würde sich gegen jeden anderen Herzog auflehnen. Die Normannen sind ein rebellisches Volk.« Er seufzte tief. »Sie brauchen eine eiserne Hand, die sie führt. Robert wird kläglich versagen und das Land ins Zwist und Unrast stürzen, doch ich bin durch Eid gebunden. Aber du nicht. Also bist du nicht verpflichtet, ihm zu lassen, was ich ihm gebe. Verstehst du, was ich dir sage?«

»Ja, Sire.«

»England … England ist für dich. Lanfranc ist informiert und wartet in Winchester auf dich. Während wir uns hier verabschieden, bereitet er deine Krönung vor. Zaudere nicht, Rufus. Mach dich sofort auf den Weg. Warte an der Küste, bis die Nachricht dich erreicht, daß ich diese Welt verlassen habe, und dann stich sofort in See, ehe dein Bruder, der Verräter, dir zuvorkommt.«

»Ja, Sire. Ich werde alles genauso machen, wie Ihr wünscht.«

»Ich habe nichts anderes erwartet. Leb wohl, Rufus.«

»Lebt wohl, Vater. Gott sei mit Euch.« Rufus kam unsicher auf die Füße und eilte mit gesenktem Kopf zur Tür, wo Eadwig ihn erwartete. Zusammen verließen sie den Raum.

»Henry.«

Sein jüngster Sohn trat an das Bett. »Was bleibt für mich, Vater?«

»Fünftausend Pfund. Es ist das Vermögen deiner Mutter, und es war ihr Wunsch, daß du es bekommst.«

Der junge Prinz senkte den Kopf und nickte, fragte jedoch beklommen: »Was soll ich aber mit Geld, wenn ich kein Land habe, das ich mein Heim nennen kann, Vater?«

William verzog amüsiert den Mund und tastete nach Henrys Hand. »Sei guten Mutes, Henry. Deine Brüder sind älter, und du mußt es geduldig hinnehmen, daß sie Vorrechte haben. Aber ich sage dir, eines Tages wirst du mächtiger sein und mehr Land besitzen als sie beide, denn du bist klüger und stärker als sie. Du bist der Beste meiner Söhne. Und deine Stunde wird kommen.«

 

Der junge Prinz hatte das Haus des Priors gerade verlassen, als eine neue Welle von Schmerz den König übermannte, und danach schien er vollkommen erschöpft.

»Ich glaube, es ist besser, wir lassen ihn allein«, flüsterte der Bischof von Lisieux.

Die Männer wandten sich zur Tür, aber der König hielt sie zurück. »Nein, geht nicht. Bitte. Ich … fürchte mich.«

Verwundert über dieses gänzlich untypische Eingeständnis blieben sie stehen und tauschten ratlose Blicke.

Schließlich sagte der Erzbischof: »Du hast keinen Grund zur Furcht, mein Sohn. Du hast gebeichtet, und deine Sünden sind vergeben.« »Sind sie das wirklich?« fragte William stirnrunzelnd. »Das frage ich mich. Nicht mehr lange, und ich werde vor Gott stehen und Rechenschaft ablegen müssen. Für all das Blut, das ich vergossen habe. Und es war viel Blut. Ich hatte … so viele Feinde. Immer, seit ich acht Jahre alt war und mein Vater starb und mir sein Reich hinterließ, hatte ich Feinde, die mir nach dem Leben trachteten oder nach meinem Besitz. Ich habe … sie alle besiegt. Und ihr Blut ist geflossen. Jetzt … klebt es an mir. Wird Gott mir vergeben?«

Er bekam nicht gleich eine Antwort. Anscheinend wollte sich niemand so recht festlegen. Jeder der hier Versammelten hatte seine eigenen Erinnerungen an Williams Grausamkeit, seinen furchtbaren Zorn, seine so eiskalt kalkulierten Gewaltakte.

Schließlich räusperte Cædmon sich und sagte: »Wenn all das vergossene Blut Euch wirklich reut, Sire, dann solltet Ihr vielleicht jetzt an die Feinde denken, deren Blut nicht vergossen wurde. Ich meine all die Männer, die hier und in England in Eurem Namen gefangengehalten werden, weil sie sich gegen Euch versündigt haben oder Ihr fürchtetet, sie könnten eine Rebellion anzetteln. Beweist ihnen Gnade, dann wird Gott erkennen, daß Eure Reue aufrichtig ist, und Euch die seine nicht verweigern.«

William sah einen Moment versonnen zu ihm auf und zeigte den Schatten seines Wolfsgrinsens. »Ein wahrhaft Cædmonischer Vorschlag …« »Er hat recht, Sire«, meldete der Erzbischof sich unerwartet zu Wort. »Es sind so viele Männer, und manche tragen nur den falschen Namen. Laßt sie frei. Es wäre ein wahrer Akt der Nächstenliebe und wird so manche Sünde aufwiegen.«

Der König schürzte die Lippen und dachte nach. Dann murmelte er: »Na schön. Warum nicht? Sollen meine Söhne sich mit ihnen herumschlagen, in der nächsten Welt können sie mir nicht mehr schaden. Also nehmt Euren Freund Godwinson und bringt ihn nach Hause, Cædmon, das ist es doch, was Ihr wollt.«

»Danke, Sire.«

»Und all die anderen meinethalben auch. Mit einer Ausnahme. Mein Bruder Odo darf niemals freigelassen werden. Denn er hat sich nicht nur gegen mich versündigt, sondern gegen den Papst, gegen Gott selbst. Dafür kann er in dieser Welt keine Vergebung finden.«

Robert de Mortain trat vor und sank neben dem Bett auf die Knie. »William, ich bitte Euch. Er ist doch unser Bruder!«

Der Abt von Jumièges gab ihm recht. »Fast fünf Jahre war er nun eingesperrt, Sire. Das ist lange genug.«

»Immerhin ist und bleibt Odo ein Bischof der Kirche«, fügte der Erzbischof hinzu. »Und ich bin sicher, daß er seine Sünden ebenso aus tiefster Seele bereut wie Ihr.«

Einer nach dem anderen sprach für Odo, und William hörte ihnen notgedrungen zu, bis schließlich Schweiß auf seiner Stirn ausbrach, weil die Schmerzen wieder einsetzten. Er biß sich die Lippen blutig, um nicht zu schreien, sein massiger Körper versteifte sich wie im Krampf, und seine gealterten Hände krallten sich zu Klauen zusammen.

»Hört auf!« zischte Lucien de Ponthieu, der bislang keinen Ton gesagt hatte, schließlich in das Stimmengewirr. »Seid doch still. Seht ihr denn nicht, was ihr anrichtet!«

Alle verstummten und warteten beklommen, bis der Anfall vorüberging.

»Also schön«, flüsterte der König erschöpft. »Also schön. Meinetwegen auch Odo. Ihr werdet ja sehen, was ihr davon habt.«

 

Cædmon und Lucien wachten die Nacht über an Williams Sterbebett, und es war das erste Mal, daß sie in wirklicher Eintracht beieinandersaßen, was nicht zuletzt daran lag, daß sie kein Wort sprachen.

Kurz nach Sonnenaufgang erwachte der König aus einem ohnmachtartigen Schlaf, sah blinzelnd in die vertrauten Gesichter und fragte: »Welche Glocke ist es, die ich da höre?«

»Notre-Dame in Rouen, Sire«, antwortete Lucien. »Die Glocken läuten zur Prim.«

»Notre-Dame. Dann … dann empfehle ich meinen Geist der heiligen Jungfrau, die seit jeher meine Fürsprecherin war.«

Zwei-, dreimal hörten sie ihn noch rasselnd atmen, dann kehrte Stille ein, und der Blick der dunklen Augen wurde glasig.

Cædmon zögerte einen Moment, aber da Lucien sich nicht rührte, hob er schließlich die Rechte und schloß die Lider.

»So starb William der Bastard«, sagte er leise, »den sie in England den Eroberer nannten, zur Prim am neunten September im Jahre des Herrn eintausendundsiebenundachtzig.«

»Der König ist tot«, flüsterte Lucien fassungslos.

Cædmon nickte. »Lang lebe König Rufus. Einer von uns muß zu ihm reiten und ihm die Nachricht bringen. Du oder ich? Mir ist es gleich.« Lucien sah ihn an. »Ich werde gehen, wenn du keine Einwände hast. Höchste Zeit, daß ich etwas tue, um Rufus’ Gunst zu gewinnen. Ich werde ihn begleiten und dafür sorgen, daß er heil auf seinen Thron kommt.«

Cædmon nickte und machte eine einladende Geste.

Lucien blickte noch einen Moment auf den Toten hinab, sank dann neben ihm auf ein Knie, küßte seine Hand und sagte auf englisch: »Mögest du auf deinem Weg Freunde finden, die Führung der Engel und das Geleit der Heiligen.«

Dann ging er eilig hinaus.

Cædmon starrte ihm ungläubig nach.

 

Der Tod des Königs und Herzogs löste zunächst Kopflosigkeit, beinah eine Art Panik aus. Die normannischen Adligen, die in St. Gervais und auf der nahen Burg in Rouen versammelt gewesen waren, reisten überstürzt ab, begaben sich auf ihre Güter und verschanzten sich dort. Alle fürchteten, daß Anarchie und blutige Fehden ausbrechen könnten, ein jeder dachte vornehmlich daran, seine Besitztümer und Interessen zu schützen. Der Erzbischof schickte Prinz Robert in Paris eine unterkühlte Botschaft und erbat seine sofortige Rückkehr.

Williams Leichnam wurde derweil nach Caen gebracht, wo er seinem letzten Wunsch gemäß in der Abtei St. Etienne beigesetzt wurde, die er gestiftet hatte.

Am Tag nach der Beerdigung kehrten Cædmon und Henry nach Rouen zurück.

»Aber wir sind nur auf der Durchreise«, erklärte der Prinz dem Kastellan. »Wir wollen so bald wie möglich nach England zurückkehren.« Und nicht mehr hier sein, wenn Robert, der neue Herzog der Normandie, auf seiner Burg Einzug hält, fügte Cædmon in Gedanken hinzu und fragte: »Ist Morcar of Mercia inzwischen hergebracht worden?«

»Er ist bei Wulfnoth Godwinson, Thane«, antwortete der Kastellan. Cædmon nickte. »Kommst du mit, Henry?«

Der Prinz schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich denke, das macht ihr Angelsachsen lieber unter euch aus. Ich gehe derweil und suche Wulfnoth … ähm, ich meine, deinen Sohn, und lasse alles für unsere Abreise vorbereiten. Wir müssen uns beeilen, wenn wir zu Rufus’ Krönung zu Hause sein wollen.«

Cædmon klopfte ihm kurz die Schulter, verließ die Halle und eilte die Treppen hinauf.

Wulfnoth Godwinson hockte wie eh und je auf dem Schemel unter dem Fenster und spielte die Laute. Neben ihm saß ein gebeugter, weißhaariger Mann. Hätte Cædmon nicht gewußt, daß es Earl Morcar war, hätte er ihn niemals wiedererkannt.

Als Wulfnoth die Tür hörte, brachte er die Saiten mit der flachen Hand zum Schweigen und sah auf. »Cædmon!«

Auch Morcar hob den Kopf, aber seine milchigen Augen starrten ins Leere. Er war blind. Fünfzehn Jahre, dachte Cædmon und schauderte. Fünfzehn Jahre hatte der einstige Earl of Northumbria in irgendeinem finsteren Loch in Beaumont verbracht. Kein Wunder, daß seine Augen irgendwann den Dienst eingestellt hatten, es gab ja doch nie etwas zu sehen.

Cædmon wechselte einen bekümmerten Blick mit Wulfnoth, der warnend den Kopf schüttelte, und schloß die Tür.

»Alles ist erledigt«, verkündete er. »Und morgen fahren wir nach Hause.« Er trat einen Schritt näher auf Morcar zu. »Ich danke Gott, daß Eure lange Gefangenschaft endlich vorüber ist, Mylord, und es ist mir eine Ehre, Euch nach England zu begleiten.«

Morcar nickte ernst. »Danke, Thane.«

Wulfnoth erhob sich rastlos, ging zum Tisch und hüllte seine Laute liebevoll in ihren fadenscheinigen Beutel. »Mir gefriert das Blut, wenn ich nur daran denke, nach Hause zu kommen«, gestand er leise. »Wie es wohl sein wird? Was ich wohl vorfinde? Niemand ist übrig von meiner Familie, nur der eine oder andere von Harolds Bastarden, und keinen von ihnen habe ich je im Leben gesehen. Ich weiß nicht einmal, wo sie sind. Ich glaube, das letzte Mal habe ich mich so erbärmlich gefürchtet, als mein Vater mich als Geisel hierherschickte. Vor fünfunddreißig Jahren.«

Ja, dachte Cædmon beklommen, deine Gefangenschaft war die längste von allen. »Du hast keinen Grund, dich zu fürchten«, entgegnete er. »England hat sich nicht so sehr verändert, wie du vielleicht annimmst. Und viele halten den Namen Godwinson in Ehren und werden dich willkommen heißen.«

Wulfnoth nickte, auch wenn er wenig beruhigt schien, wandte sich ab und schenkte aus einem Krug auf dem Tisch drei Becher voll.

Cædmon nahm ihm den Krug aus der Hand. »Herrgott, laß mich das doch machen. Es wird höchste Zeit, daß du dich darauf besinnst, wer du bist.«

Wulfnoth lachte leise. »Besser nicht. Dem jungen Rufus kann so schon nicht wohl sein bei dem Gedanken, daß ich heimkehre. Und? Erzähl schon, Cædmon. Wie war die Beerdigung? Feierlich und würdevoll, will ich hoffen?«

Cædmon verteilte die Becher, und nachdem sie getrunken hatten, antwortete er. »Nein. Wirklich nicht. Es war … einfach grauenhaft, Wulfnoth.« Er seufzte tief und schüttelte den Kopf. »Williams Vertraute und Weggefährten geleiteten den Leichnam in feierlicher Prozession durch die Straßen von Caen zum Kloster, als plötzlich in einem der Häuser ein Feuer ausbrach.«

Morcar hob den Kopf. »Wie bei der Krönung in Westminster«, bemerkte er. Er war schließlich dabeigewesen an jenem denkwürdigen Weihnachtstag vor einundzwanzig Jahren. »Wo William auch hinkommt, bringt er Feuer und Verderben, selbst über den Tod hinaus.«

Cædmon nickte. »Viele dachten genau das gleiche, Mylord. Ich auch. Jedenfalls breitete das Feuer sich so schnell aus, daß es das ganze Viertel zu vernichten drohte, also verließen wir alle unsere Plätze und halfen beim Löschen, so daß nur die Mönche und Bischöfe die Prozession nach St. Etienne beendeten.

Schließlich standen wir dann endlich alle in der kleinen Klosterkirche zusammengedrängt, und der Bischof von Évreux hatte gerade das Requiem begonnen, als irgendein kleiner normannischer Landedelmann hereinstürmte und sagte, die Zeremonie könne nicht stattfinden, das Land, auf dem die Kirche stehe, habe William ihm mit unlauteren Mitteln abgenommen, und er verlange auf der Stelle eine Entschädigung. Ihr kennt die Normannen, also könnt ihr euch vorstellen, wie grenzenlos peinlich die Szene allen war. Robert, des Königs Bruder, zahlte den ungehobelten Störenfried kurzerhand aus und schickte ihn seiner Wege. Aber das war noch nicht alles.«

Er unterbrach sich kurz. Wulfnoth und Morcar glaubten, er wolle sie vor dem Höhepunkt seines Berichtes ein wenig auf die Folter spannen, wie jeder gute Geschichtenerzähler es tat, aber tatsächlich überkamen Grauen und Ekel Cædmon bei der Erinnerung so übermächtig, daß er einen Moment um Fassung ringen mußte, ehe er fortfahren konnte. »Ich … weiß nicht, wie es passieren konnte, daß der steinerne Sarkophag zu klein war. Jeder wußte schließlich, daß der König an die sechs Fuß groß ist. Jedenfalls war der Sarg zu kurz. Die sechs Diener, die seinen Leichnam hineinzubetten versuchten, merkten, daß er nicht paßte, und beschlossen kurzerhand, den König … nun ja, zusammenzufalten. Dabei platzte sein Leib auf, und der grauenvollste Gestank, den ich in meinem Leben je gerochen habe, breitete sich in der Kirche aus. Ich sage euch, ich habe noch nie so viele Bischöfe und Äbte mit grünen Gesichtern gesehen. Viele flüchteten ins Freie, und Gilbert von Évreux beendete die Zeremonie, so schnell er nur konnte. Es war … fürchterlich. Henry war weiß Gott nicht der einzige, der über dieses unwürdige Ende geweint hat. Ich …« Er atmete tief durch und rieb sich das Kinn an der Schulter. »Vermutlich könnt ihr das nicht verstehen, gerade euch hat William so großes Unrecht angetan, und ich weiß, daß er ein Ungeheuer war, aber glaubt mir, das hat er nicht verdient. Das verdient niemand. Würde ist das einzige, was man einem Toten noch nehmen kann. Und gerade seine Würde war ihm so kostbar. Du weißt doch, wie es war, Wulfnoth, wie er aufgewachsen ist, wie seine Feinde ihn verhöhnt haben wegen seiner Geburt.«

Wulfnoth nickte langsam. »Ja. Und du hast recht. William hat Gott so unermüdlich gedient, daß Gott sich diesen häßlichen kleinen Scherz wahrhaftig hätte sparen können. Und was war mit Odo?«

»Tja.« Cædmon leerte seinen Becher in einem gewaltigen Zug und stellte ihn auf dem Tisch ab. »Odo hat das ganze Schauspiel mit unbewegter Miene verfolgt und mit niemandem außer seinem Bruder Robert ein Wort gesprochen. Nach der Beerdigung machte er sich umgehend auf den Weg nach Bayeux. Es gehört ihm ja noch, genau wie seine Besitztümer in England, William hat ihn nie enteignet. Aber er ist zutiefst verbittert. Ich fürchte, William könnte recht haben, Odo wird uns allen noch Ärger machen. Ich hoffe nur, er läßt die Finger von Rufus, denn der Prinz … ich meine, der König ist leicht zu beeinflussen.«

Wulfnoth hatte den Kopf leicht zur Seite geneigt und betrachtete ihn neugierig. »Was denkst du, Cædmon? Was kommt auf England zu? Was für ein König wird Rufus sein?«

Cædmon dachte einen Moment nach. »Ich bin nicht sicher. Rufus ist ein Mann mit ausgeprägten Schwächen und ausgeprägten Stärken. Ich glaube immer noch, Richard wäre der Bessere für die Aufgabe gewesen, aber Richard ist tot, Gott hat Rufus gewählt.«

»Er ist ein Normanne«, warf Morcar abschätzig ein. »Was für ein König soll er England schon sein?«

»Er hat beinah sein ganzes Leben in England verbracht«, widersprach Wulfnoth. »So betrachtet ist er eher Engländer.«

Cædmon schüttelte lächelnd den Kopf. »Rufus ist einer von diesem seltsamen neuen Volk, das ihr noch nicht kennt: Er ist Anglo-Normanne.«

Winchester, Oktober 1087

Ælfric kam die Treppe hinunter, ließ den Blick über die vielen Menschen in der Halle schweifen, entdeckte seinen Vater und trat eilig zu ihm.

Cædmon stand mit verschränkten Armen reglos an eine der Säulen gelehnt und rang um Geduld. Als er seinen Sohn auf sich zukommen sah, richtete er sich auf.

»Und?«

»Der König bittet dich jetzt zu sich, Vater.«

»Das wurde auch Zeit«, grollte Cædmon. »Seit heute früh warte ich hier. Rufus ist und bleibt ein Flegel.«

Ælfric ließ unglücklich den Kopf hängen. »Vielleicht sagst du ihm das lieber nicht. Er ist … sehr verändert seit seiner Krönung.«

»Tyrannisch, meinst du, ja?«

Cædmon wartete keine Antwort ab. Er klopfte seinem Ältesten kurz die Schulter, durchschritt dann den großen Raum und eilte die Treppe hinauf. Ein so übermächtiger Zorn brodelte in seinem Innern, daß er versucht war, das königliche Gemach formlos zu erstürmen und Rufus seine bitteren Vorwürfe entgegenzuschleudern, aber er beherrschte sich. Wenn er in den vielen Jahren mit William eines gelernt hatte, dann dies: Gute Manieren und ein kühler Kopf waren in einer Situation wie dieser die wirksamsten Waffen.

Nachdem die Wache ihn angekündigt hatte, betrat er den vertrauten Raum. Alles war unverändert, nur ein anderer Mann saß in dem reichverzierten Sessel.

Cædmon sank vor ihm auf die Knie. »Sire.«

Rufus betrachtete ihn unbewegt. »Wir haben Euch bei unserer Krönung vermißt, Monseigneur.«

»Aber gewiß hat Henry Euch inzwischen berichtet, daß ein Sturm uns in der Normandie festgehalten hat. Wir wären lieber hier gewesen als dort, glaubt mir.«

»Habt Ihr mit dem Herzog, meinem Bruder Robert, gesprochen?«

Cædmon schüttelte den Kopf. »Wir haben Rouen am Tag nach der Beisetzung verlassen und in Fécamp auf besseres Wetter gewartet. Henry wollte Robert nicht begegnen. Und ich auch nicht.«

Rufus nickte abwesend. »Ihr dürft Euch erheben, Thane. Euren Treueid könnt Ihr mir morgen früh nach der Messe leisten. Und wenn Ihr uns jetzt entschuldigen wollt, wir sind sehr beschäftigt.«

Cædmon stand auf und wechselte einen kurzen Blick mit Eadwig, der zusammen mit Leif am Fenster stand und mit einem traurigen Kopfschütteln von seinem Bruder zu seinem geliebten König sah.

Cædmon räusperte sich. »Ich will Eure Zeit nicht über Gebühr beanspruchen, Sire, aber da Ihr mich nun schon den ganzen Tag wie einen hergelaufenen Bittsteller habt warten lassen, wäre ich doch ausgesprochen dankbar, wenn Ihr mir eine Frage beantworten wolltet.«

Rufus gelang es nicht ganz, sein Unbehagen zu verbergen. »Und zwar?« Cædmon trat einen halben Schritt näher. »Warum ist Wulfnoth Godwinson verhaftet worden? Mit welchem Recht? Euer Vater hat ihn freigegeben, aber Ihr habt ihm kaum Zeit gelassen, nach fünfunddreißigjähriger Gefangenschaft einen Blick auf seine Heimat zu werfen, ehe Ihr ihn wieder in irgendein finsteres Loch sperren ließet. Wieso?«

Rufus hob das Kinn. Das Rot seiner Wangen wurde einen Ton dunkler. »Ich wüßte wahrlich nicht, warum ich Euch Rechenschaft schulden sollte, Thane. Aber wenn Ihr es nicht versteht, will ich es Euch erklären: Wulfnoth Godwinson ist eine Gefahr für die normannische Herrschaft in England, allein aufgrund seines Namens. Die Hälfte meiner Adligen hier sähe lieber meinen Bruder Robert auf dem Thron. Ich weiß nicht, wie mein geliebter Onkel Odo sich verhalten wird, auf wessen Seite er steht. Meine Macht ist nicht ungefährdet, und ein Godwinson, der frei herumläuft, ist das letzte, was mir fehlt.«

»Aber Sire …«

Rufus stand unvermittelt auf. »Ich will nichts mehr darüber hören!« Ehe der Thane etwas erwidern konnte, sagte Eadwig leise: »Es hat keinen Sinn, Cædmon. Ich habe alles versucht. Ich habe mit Engelszungen geredet. Aber Erzbischof Lanfranc und Lucien de Ponthieu und einige andere halten Godwinson für gefährlich und haben dem König zu diesem Schritt geraten.«

»Ah ja?« Cædmon sah dem König in die Augen. »Nun, Sire, es ist sicher ein weiser Entschluß, den Ratgebern zu vertrauen, auf die auch Euer Vater immer gebaut hat …«

»Nicht deswegen tue ich es«, fiel Rufus ihm barsch ins Wort. »Ich bin nicht mein Vater. Ich bin ein vollkommen anderer Mann. Und meine Ratgeber suche ich mir selbst aus.«

Cædmon lächelte mokant. »Was bedeutet, daß ich zu der auserwählten Schar nicht zähle? Nun, ich muß gestehen, ich sehne mich danach, mich ins Privatleben zurückzuziehen. Also erteile ich jetzt ungebeten meinen ersten und einzigen Rat an Euch als König: Wenn Ihr fürchtet, daß der normannische Adel in England sich zu Gunsten Eures Bruders gegen Euch erheben könnte, dann versichert Euch der Treue Eurer englischen Untertanen. Wenn jeder englische Ritter und Thane hinter Euch steht, wird Euer Thron in England nicht wackeln. Gebt ihnen ein Zeichen, sie warten doch nur darauf. Laßt Wulfnoth Godwinson frei.« »Gebt Euch keine Mühe, Monseigneur. Die Antwort ist nein.«

»In dem Fall, fürchte ich, kann ich Euch den Eid nicht leisten, Sire.« »Dann sollte ich wohl erwägen, Euch zu Eurem alten Freund Godwinson zu sperren.«

Cædmon lachte leise. »Ein dutzendmal habe ich diese Drohung früher Tag für Tag von Eurem Vater gehört. Glaubt Ihr wirklich, Ihr könntet mich damit noch beeindrucken?« Er verneigte sich tief. »Ich würde mich gerne zurückziehen, wenn Ihr erlaubt. Ich denke, wir haben uns weiter nichts zu sagen.«

Der König antwortete nicht, und nach einem kurzen Zögern wandte Cædmon sich ab und ging zur Tür.

»Nein, warte, Cædmon!«

Cædmon drehte sich wieder um und sah ihn schweigend an.

Rufus ließ sich in seinen Sessel sinken und seufzte tief. »Das will ich nicht. Ich will nicht, daß du gehst, und ich will weder auf deine Freundschaft noch auf deinen Rat verzichten. Die Dinge … sind so schwierig. Ich habe viele Feinde, hier wie in der Normandie. Ich darf ihnen keine Angriffsfläche bieten.« Er brach ab, griff nach dem vergoldeten Becher, aus dem William so oft getrunken hatte, und nahm einen kräftigen Zug. »Herrgott, ich wünschte, mein Vater wäre nicht ausgerechnet jetzt gestorben. Es war noch zu früh.«

Cædmon kam langsam zu ihm zurück und wählte seine Worte mit Bedacht. »Und wäre dein … Pardon, Eurer Vater hundert Jahre alt geworden, Sire, er hätte Euch auch dann Feinde und Unrast hinterlassen, denn es lag in seiner Natur. Aber ich sehe an dieser Lage nichts, womit Ihr nicht fertig werden könntet. Ihr solltet mehr Vertrauen zu Euch selbst haben.«

Rufus’ Miene hellte sich ein wenig auf, doch er schüttelte den Kopf. »Und wenn du mir noch so viel Honig ins Ohr träufelst, ich kann Godwinson nicht laufen lassen. Es würde mir den Schlaf rauben, nicht zu wissen, wo er steckt, was er treibt, wer sich um ihn schart. Er ist ein Risiko, ganz gleich, was du sagst.«

Cædmons Kopf ruckte hoch. »Und was wäre, wenn Ihr wüßtet, wo er steckt, und sicher sein könntet, daß niemand sich um ihn schart?«

»Wie sollte das möglich sein?«

Eadwig lächelte befreit und trat zu ihnen. »Indem du ihn in Cædmons Obhut gibst. Hat dein Vater seine Gefangenen nicht auch vertrauten Vasallen auf dem Land geschickt, damit sie weit weg von allen Hofintrigen und gleichzeitig sicher verwahrt waren? Es ist eine gute Lösung, Rufus. Alles, was Wulfnoth Godwinson sich erträumt, ist ein Ort, wo er Frieden finden kann. Er hat doch keine Menschenseele mehr in England. Laß ihn mit Cædmon nach Helmsby gehen. Dort wäre er gut aufgehoben, und du könntest beruhigt sein. Nicht einmal Lanfranc oder Lucien oder Warenne werden daran etwas zu beanstanden finden.«

Der König zögerte noch einen Moment, vielleicht in erster Linie, um sein Gesicht zu wahren, mutmaßte Cædmon. Dann nickte Rufus knapp. »Meinetwegen. Du kriegst Godwinson. Ich deinen Eid.«

Cædmon verneigte sich tief. »Wie Ihr wünscht, Sire.«

Helmsby, Oktober 1087

»Was für ein herrlicher Tag«, murmelte Wulfnoth, legte den Kopf in den Nacken und sah zum wolkenlosen, strahlend blauen Himmel auf. »Was für ein herrlicher Tag, Cædmon. Ich frage mich, ist der Oktober in der Normandie je so golden?«

»Natürlich nicht«, antwortete Cædmon, und sie lachten.

Die Sonne ließ das rot und leuchtend gelb gefärbte Laub an den Bäumen funkeln. Eine dichte Schicht gefallener Blätter bedeckte den Boden und raschelte unter den Hufen der Pferde. Der feuchte Boden hatte Pilze in schier unglaublichen Mengen hervorgebracht, die die kühle, klare Luft mit ihrem erdigen Duft erfüllten. Schweigend ritten sie nebeneinander durch die herbstliche Pracht. Odric, Elfhelm und vier weitere Housecarls folgten in gebührlichem Abstand und machten sich verstohlen über die unförmigen Beutel mit der Laute lustig, die sowohl der Thane als auch sein hoher Gast auf dem Rücken trugen.

»Wie wunderschön East Anglia ist«, bemerkte Wulfnoth. »Harold sagte immer, es sei ein tristes Ödland. Er … nun ja. Er war vermutlich nicht sehr empfänglich für diese stille Art von Schönheit.«

Cædmon warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. Man konnte Wulfnoth immer noch ansehen, wie sehr seine unerwartete Verhaftung ihn erschüttert hatte. Schon vor ihrer Ankunft in England war er unsicher und von Ängsten und Zweifeln geplagt gewesen. Doch jetzt wirkte er mit einemmal erschöpft und alt.

»Es ist jedenfalls ein guter Ort, um viele Dinge zu vergessen«, antwortete Cædmon.

Aber Wulfnoth schüttelte den Kopf. »Nein, das will ich gar nicht. Nur wäre ich dankbar, wenn die Normannen mich endlich vergessen wollten.«

»Sei unbesorgt, Wulfnoth. Niemand wird dich mehr behelligen. Rufus hat mir sein Wort gegeben.«

»Es wäre nicht das erste Mal, daß er es bricht«, warf Wulfnoth ein. »Nein. Darum habe ich mit Eadwig und Ælfric vereinbart, daß sie mir Nachricht schicken, wenn es so aussieht, als solle der Wind sich drehen, und wenn dann Lucien oder sonst irgendwer nach Helmsby kommt, um dich zu holen, wirst du nicht mehr da sein. Aber ich glaube ehrlich nicht, daß es dazu kommt.«

»Deiner normannischen Frau wäre es sicher nicht recht, wenn du meinetwegen Streit mit ihrem Bruder oder dem König bekämest. Es ist ihr sicher schon so unangenehm genug, mich im Haus zu haben.«

Cædmon lachte leise. »Ich denke, meine normannische Frau wird dich überraschen. Da. Das sind die ersten Häuser von Helmsby.«

Wulfnoth bestaunte die stattliche Kirche. Die letzten Arbeiten an der Westfassade waren inzwischen fast abgeschlossen. Im Dorf herrschte reger Betrieb, denn es war Sonntag, und die Sonne hatte die Leute scharenweise vor die Tür gelockt. Als der Thane und sein Gast die schmale Dorfstraße entlangritten, blieben sie stehen und grüßten höflich.

»Wie respektvoll deine Bauern sind, Cædmon«, murmelte Wulfnoth verwundert. »Da merkt man die normannische Zucht. So war es früher nicht.«

Cædmon schüttelte lachend den Kopf. »Oh, Wulfnoth, verstehst du denn nicht? Du bist es, vor dem sie sich verneigen.«

 

Behäbiger Sonntagsfriede herrschte im Innenhof der Burg. Wulfnoth und Cædmon überließen ihre Pferde den Housecarls und gingen zur Zugbrücke.

Mit einem ironischen kleinen Lächeln sah Wulfnoth an den hohen Palisaden hinauf und bemerkte trocken: »Ich werde keine Schwierigkeiten haben, mich heimisch zu fühlen.«

Ehe Cædmon etwas erwidern konnte, rief eine aufgeregte Kinderstimme: »Sie kommen! Sie kommen!«

Cædmon blickte zur Tür seiner Halle. Richard und Matilda standen am Eingang und sahen ihnen freudestrahlend entgegen. Alfred hatte jedem der Kinder eine Hand auf die Schulter gelegt, um sie zu hindern, ohne jede Feierlichkeit die Treppe hinabzurennen.

Als der Thane und sein Gast die oberste Stufe erreichten, trat Alfred zurück, verneigte sich tief, räusperte sich und brachte trotzdem keinen Ton heraus.

»Wulfnoth, das ist Alfred, mein Vetter und Steward. Und dies sind Richard und Matilda.«

Richard vollführte einen formvollendeten Diener. Matilda sah ohne Scheu zu dem fremden Mann auf und verkündete: »Mein Bruder heißt auch Wulfnoth.«

Godwinson nickte. »Ich weiß. Eine der vielen Ehren, die dein Vater mir erwiesen hat.«

Cædmon fuhr seinen Kindern über den dunklen und den blonden Schopf, als er ihre Mutter kommen sah.

Aliesa trug ein schlichtes, tiefgrünes Kleid, ein cremeweißes couvre-chef und keinen Schmuck außer ihrem Ring. Und doch erschien sie Cædmon wie eine Königin, als sie hoch aufgerichtet und gemessenen Schrittes zu ihnen trat, das silberbeschlagene Trinkhorn in Händen. Sie streife Cædmon mit einem kurzen Blick, und ihre grünen Augen funkelten. Dann wurde ihre Miene wieder ernst und feierlich. Sie streckte Wulfnoth das Horn entgegen und neigte den Kopf. »Seid willkommen in Helmsby, Mylord. Tretet ein und erweist uns die Ehre, unser Heim das Eure zu nennen.«

Wulfnoth starrte sie einen Augenblick so reglos an, als sei er mit einem Bann belegt. Dann nahm er sich zusammen, blinzelte entschlossen und ergriff das Trinkhorn. »Ich danke Euch, Aliesa.« Er nahm einen tiefen Zug und stieß einen ebenso tiefen Seufzer aus. »Met! Er ist wunderbar.« Er gab das Horn an Cædmon weiter, der ebenfalls trank und zustimmend nickte, ehe er es Aliesa zurückreichte, die ihrerseits kostete.

Nachdem somit dem angelsächsischen Zeremoniell Genüge getan war, lächelte sie und machte eine einladende Geste. »Laßt uns essen. Gytha hat seit heute früh am Herd gestanden, ich denke, wir sollten bald anfangen, wenn wir vor Mitternacht alles vertilgen wollen, was sie auftischt. Alfred, sei so gut, begleite seine Lordschaft an den Ehrenplatz der hohen Tafel.«

Wulfnoth lächelte verlegen. »Madame, ich … wäre Euch zutiefst dankbar, wenn Ihr mich einfach Wulfnoth nennen wolltet. Das gilt auch für Euch, Alfred.«

Aliesa nickte. »Ab morgen, ich verspreche es Euch. Heute abend müßt Ihr uns erlauben, Euch zu ehren und zu feiern, wir alle haben uns seit Tagen auf das große Ereignis gefreut.«

Lächelnd ließ Wulfnoth sich von Alfred abführen und auch die lautstarken Ehrenbezeugungen der Housecarls über sich ergehen.

Cædmon legte die Arme um seine Frau und zog sie an sich.

»Willkommen daheim, Cædmon«, sagte sie leise.

»Danke. Wie wunderbar du das gemacht hast, Aliesa. Mit dieser Geste hast du Wulfnoth für vieles von dem entschädigt, was ihm William in fünfunddreißig Jahren angetan hat.«

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn auf den Mundwinkel. »Ich würde sagen, du übertreibst. Darüber hinaus drückst du mir wieder einmal die Luft ab.«

»Ich hoffe, du vergibst mir noch mal«, murmelte er ohne erkennbare Reue.

Matilda zupfte mit der Linken am Mantel ihres Vaters, mit der Rechten am Rock ihrer Mutter. »Nun kommt doch! Kommt doch endlich. Alle warten auf euch!«

Willig ließen sie sich von ihrer Tochter zur festlich gedeckten Tafel zerren. Auf dem makellos weißen Tischtuch standen ihre besten Silberleuchter, die auf Hochglanz poliert worden waren, so daß die Flammen der wohlriechenden Wachskerzen sich darin spiegelten. Der kleine Richard versuchte, ihren feinsten Trinkpokal für Wulfnoth zu füllen, und als ein ordentlicher Schuß des tiefroten Weines über den Rand schwappte, kam sein Patenonkel Alfred ihm unauffällig zu Hilfe. Bruder Oswald, Hyld, Erik und Irmingard umringten Cædmon, um ihn zu begrüßen. Endlich saßen alle an der Tafel, und es kehrte Ruhe ein. Oswald hatte ein Einsehen und faßte sich kurz mit dem Tischgebet. Und dann begann das Festmahl.

Das zweite Königreich
00000000000_cover.html
b978-3-8387-0949-9_000017.xhtml
b978-3-8387-0949-9_000029.xhtml
b978-3-8387-0949-9_000110.xhtml
b978-3-8387-0949-9_000134.xhtml
b978-3-8387-0949-9_000145.xhtml
b978-3-8387-0949-9_001256.xhtml
b978-3-8387-0949-9_001819.xhtml
b978-3-8387-0949-9_003772.xhtml
b978-3-8387-0949-9_004448.xhtml
b978-3-8387-0949-9_004885.xhtml
b978-3-8387-0949-9_005664.xhtml
b978-3-8387-0949-9_005927.xhtml
b978-3-8387-0949-9_006813.xhtml
b978-3-8387-0949-9_007698.xhtml
b978-3-8387-0949-9_007913.xhtml
b978-3-8387-0949-9_008278.xhtml
b978-3-8387-0949-9_008666.xhtml
b978-3-8387-0949-9_009483.xhtml
b978-3-8387-0949-9_010055.xhtml
b978-3-8387-0949-9_010682.xhtml
b978-3-8387-0949-9_011173.xhtml
b978-3-8387-0949-9_011400.xhtml
b978-3-8387-0949-9_011949.xhtml
b978-3-8387-0949-9_012176.xhtml
b978-3-8387-0949-9_012333.xhtml
b978-3-8387-0949-9_012543.xhtml
b978-3-8387-0949-9_012640.xhtml
b978-3-8387-0949-9_013031.xhtml
b978-3-8387-0949-9_013722.xhtml
b978-3-8387-0949-9_014105.xhtml
b978-3-8387-0949-9_015254.xhtml
b978-3-8387-0949-9_015630.xhtml
b978-3-8387-0949-9_016272.xhtml
b978-3-8387-0949-9_016706.xhtml
b978-3-8387-0949-9_017090.xhtml
b978-3-8387-0949-9_017892.xhtml
b978-3-8387-0949-9_018177.xhtml
b978-3-8387-0949-9_019024.xhtml
b978-3-8387-0949-9_019911.xhtml
b978-3-8387-0949-9_020137.xhtml
b978-3-8387-0949-9_020969.xhtml
b978-3-8387-0949-9_021403.xhtml
b978-3-8387-0949-9_021714.xhtml
b978-3-8387-0949-9_022214.xhtml
b978-3-8387-0949-9_022924.xhtml
b978-3-8387-0949-9_023360.xhtml
b978-3-8387-0949-9_023874.xhtml
b978-3-8387-0949-9_024284.xhtml
b978-3-8387-0949-9_024713.xhtml
b978-3-8387-0949-9_025229.xhtml
b978-3-8387-0949-9_027194.xhtml
b978-3-8387-0949-9_027411.xhtml
b978-3-8387-0949-9_027765.xhtml
b978-3-8387-0949-9_027985.xhtml
b978-3-8387-0949-9_028369.xhtml
b978-3-8387-0949-9_028455.xhtml
b978-3-8387-0949-9_028701.xhtml
b978-3-8387-0949-9_029019.xhtml
b978-3-8387-0949-9_029141.xhtml
b978-3-8387-0949-9_031528.xhtml
b978-3-8387-0949-9_031570.xhtml
b978-3-8387-0949-9_031732.xhtml