Dover, April 1077
»Sehr schön, Ælfric«, lobte Bruder Oswald. »Jetzt gib das Buch deinem Bruder, zeig ihm, wo du warst, und dann soll Wulfnoth uns die nächsten zwei oder drei Zeilen vorlesen.«
Folgsam schob der Junge seinem kleinen Bruder den dicken Folianten zu und wies mit dem Finger auf die richtige Stelle. Wulfnoth sah mit gerunzelter Stirn auf die bräunliche Pergamentseite hinab und las stockend: »Auch werden dort Menschen mit Hundeköpfen geboren, die man Cono … Conopoenas nennt. Sie haben Mähnen wie Pferde und Hauer wie Keiler und die Köpfe von Hunden, und ihr Atem ist wie eine feurige Flamme. Dieses Land ist nahe der Städte, die voll irdischer Reichtümer sind, im südlichen Äg … Ägypten.« Mit großen Augen sah er zu ihrem Lehrer auf. »Gibt es die wirklich? Menschen mit Hundeköpfen und Drachenatem?«
Oswald hob die mageren Schultern. »Ich weiß es nicht, Wulfnoth. Wir glauben, daß dies eine Übersetzung eines sehr alten Reiseberichts ist, den vor langer, langer Zeit ein Grieche verfaßt hat, der den Orient bereiste. Ob er all diese Wunderdinge wirklich gesehen hat und ob es sie noch gibt … Wer kann das wissen? Gib das Buch deinem Vater. Cædmon, du bist an der Reihe.«
Cædmon nahm Wulfnoth das schwere Buch aus den Händen, fand die Stelle mühelos und las: »In einem gewissen Land werden Menschen geboren, die sechs Fuß groß sind.« Er sah kurz auf und bemerkte: »Viel kleiner ist der König auch nicht.« Dann fuhr er fort: »Sie haben Bärte bis zu den Knien, und das Haar wächst ihnen bis auf die Füße. Man nennt sie Homodubii, das heißt die Menschen des Zweifels, und sie leben von rohem Fisch, den sie essen.«
Bruder Oswald sah ihn lächelnd an und schüttelte langsam den Kopf. »Cædmon, Cædmon. Wenn mir das jemand vor fünf Jahren gesagt hätte, ich hätte es nicht geglaubt.« Er stand von seinem Schemel auf und breitete die Arme aus. »Ihr seid allesamt in Gnaden entlassen. Ich bin sehr zufrieden.«
Seine vier Schüler – drei kleine und ein großer – lächelten stolz und erhoben sich ebenfalls. Ælfric, Wulfnoth und Prinz Henry stürmten in den Hof hinaus, um sich nach dem langen Stillsitzen auszutoben. Cædmon folgte ihnen langsamer, holte seine Laute und setzte sich ebenfalls in die Frühlingssonne, um ein bißchen zu spielen und den Jungen zuzuschauen.
Er strich das verblichene grüne Seidenband glatt, das er Aliesa vor Jahren abgeschwatzt und an den Hals seiner Laute geknotet hatte, befühlte es einen Moment und dachte an sie. Und als er zu spielen begann, fiel ihm Wulfnoth ein. Nicht sein Sohn, der keine zehn Schritte entfernt mit seinem großen Bruder und dem Prinzen um einen kleinen Lederball rangelte, sondern sein Freund in Rouen, mit dem ihn auf einmal wieder so vieles verband. Genau wie Wulfnoth war er ein Gefangener im goldenen Käfig. Genau wie Wulfnoth hatte er entdeckt, welch ein wirksames Heilmittel das geschriebene Wort gegen Eintönigkeit und Melancholie sein konnte, wie faszinierend es war, sich diese Welt Buchstabe für Buchstabe zu erobern, um sie schließlich zu beherrschen und in sie einzutauchen, wenn die Wirklichkeit gar zu grau und trostlos schien. Vor allem im Winter hatten Bruder Oswalds Bücher ihm über manch düsteren Tag hinweggeholfen.
Und genau wie Wulfnoth spielte er die Laute, um sich seiner Melancholie und seinen Sehnsüchten zu ergeben. Er konnte stundenlang spielen und sich erinnern, sich vorstellen, wo Aliesa jetzt war und was sie tat. Es hatte eine Zeit gegeben, da er sich gewünscht hatte, entweder sie oder er wäre tot, weil er es einfach nicht aushielt, in derselben Welt und doch von ihr getrennt zu sein. Besonders große Fortschritte hatte er auf diesem Gebiet immer noch nicht gemacht, er trug es nicht duldsam. Aber er war froh, daß sie beide noch lebten.
Bruder Oswald war in den Hof hinausgekommen, sah sich einen Moment suchend um und trat zögernd näher, als er Cædmon auf der untersten Stufe der Treppe zur Brustwehr entdeckte.
Cædmon winkte den kleinen Mönch näher und rückte beiseite, damit er neben ihm Platz nehmen konnte. Schweigend sahen sie den Jungen eine Weile beim Ballspiel zu.
»Wunderbare Söhne, Cædmon«, bemerkte Oswald schließlich. »Alle beide.«
»Danke.«
»Was für eine gute Idee von deiner Schwester, sie herzuschicken.«
Cædmon nickte. »Ja. Sie tun Henry gut. Und mir.« Er streckte die Beine aus und stellte die Laute behutsam ans Treppengeländer. »Es ist so ganz anders als mit Richard, weißt du. Richard war nur fünf Jahre jünger als ich. Sicher, ich war sein Lehrer, aber im Grunde sind wir trotzdem zusammen aufgewachsen. Henry wächst mit meinen Söhnen auf.«
»Richard war dir näher?«
»Auf jeden Fall. Aber ich glaube …« Was er glaubte, war, daß er es ohne Henry nicht geschafft hätte. Daß Gott ihm diesen verstörten kleinen Jungen geschickt hatte, der vielleicht noch unglücklicher gewesen war als er selbst, damit sie sich gegenseitig aus dem finsteren Tale führten. Doch solche Dinge sprach man nicht aus. »Nun, vermutlich ist nicht so wichtig, was ich glaube. Henry ist Richard in vielen Dingen ähnlich.«
»Und du liebst ihn sehr, ich weiß. Aber du solltest Rufus nicht vergessen.«
»Ich vergesse Rufus nicht.«
»Es könnte durchaus sein, daß er König von England wird.«
Cædmon hob abwehrend die Linke. »Das hat keine Bedeutung mehr für mich, Oswald. Auch in der Hinsicht bin ich auf der ganzen Linie gescheitert. Ich habe für England getan, was ich konnte, solange es ging. Aber ich habe das Vertrauen des Königs verloren, aller politischer Einfluß, den ich je gehabt haben mag, ist dahin. Engländer und Normannen müssen fortan ohne meine Hilfe miteinander auskommen.« »Das wäre für beide Seiten ein herber Verlust.«
Cædmon lächelte vor sich hin. »Du solltest mich nicht überschätzen. Was habe ich denn je erreicht? Wann hätte William je auf mich gehört? Männer wie Montgomery oder Etienne fitz Osbern können viel mehr für eine Aussöhnung tun als ich.«
»Trotzdem. Du bist immer noch Thane of Helmsby, und …«
»Und ich war seit über einem Jahr nicht dort, dabei …« Er brach unvermittelt ab und stand auf, als er den Reiter erkannte, der über die Zugbrücke kam.
»Wer ist es?« fragte Oswald neugierig.
»Mein Schwager.«
Oswald zog die Brauen hoch. »Der Wikinger? Gott steh uns bei.«
Erik hatte Cædmon entdeckt, hielt auf ihn zu und saß ab. Er trug einen kurzen, dunklen Bart, um seine Augen lagen Kränze kleiner Falten, und sein Gesicht wirkte wettergegerbt wie bei so vielen Männern, die zur See fuhren. Einen Moment sahen sie sich unsicher in die Augen, dann umarmten sie einander kurz.
»Erik. Alles in Ordnung? Ich hoffe, es ist nicht deine Familie, die du suchst. Hyld ist schon lange wieder in Helmsby.«
»Ich weiß. Ich war dort. Es geht allen gut.« Er nickte Oswald flüchtig zu, ehe er sich wieder an Cædmon wandte. »Kann ich dich allein sprechen?«
Der Mönch erhob sich lächelnd von der Treppenstufe. »Ich war ohnehin im Begriff, in die Kapelle zu gehen.«
Er ging ohne Eile davon, und Cædmon führte seinen Schwager die Treppe hinauf. Nebeneinander stützten sie die Unterarme auf die Palisaden und sahen auf den Hafen hinab.
»Ich hoffe, deine lange Fahrt war einträglich?« fragte Cædmon.
Erik nickte. »O ja. Du bist bleich und dürr, Schwager.«
»Danke. Du siehst hingegen blendend aus. Aber das ist nicht weiter verwunderlich, wir alle wissen schließlich, daß das Piratenleben dir bekommt. Doch ich nehme nicht an, daß du hergekommen bist, um dich von meinem Wohlergehen zu überzeugen.«
Erik hob kurz die linke Hand. »In gewisser Weise schon. Sag, Cædmon, was ist das für ein Unsinn, den Hyld mir erzählt, von einem Teppich, den sie für den Bruder des Königs gemacht hat?« fragte er gereizt.
So, dachte Cædmon, das ist es also. Er schüttelte langsam den Kopf. »Du hättest ihn sehen sollen, Erik. Ja, du solltest wirklich nach Bayeux fahren und ihn dir ansehen. Er ist … einzigartig. Ich meine, ich habe immer gewußt, daß Hyld sich auf solcherlei Dinge versteht, aber ihr Können und Bruder Oswalds Zeichentalent und Odos wahrhaft größenwahnsinnige Vision haben etwas hervorgebracht, das mit nichts zu vergleichen ist, was du je gesehen hast.«
»Ich habe eine Menge gesehen.«
»Ich bleibe trotzdem dabei.«
»Und es hat über ein Jahr gedauert?«
Cædmon wandte den Kopf und sah ihn an. »Selbst die vier Wände der großen Halle dieser Burg haben nicht ausgereicht, um den Teppich in voller Länge aufzuhängen, wir haben es versucht. Er ist tatsächlich über zweihundert Fuß lang geworden.« Und wie gern hätte er Williams Gesicht gesehen, wenn er die neue Kathedrale von Bayeux betrat und sein Blick auf dieses unvergleichliche Bilderwerk fiel, das die Geschichte seines größten Triumphes erzählte. »Was ist, Erik? Hast du so wenig Vertrauen zu deiner Frau? Ist es dir unheimlich, was sie vollbracht hat? Und wenn es so ist, warum stellst du mir diese Fragen statt ihr?«
»Sie würde mir die Augen auskratzen«, murmelte der Seefahrer, den weder die Stürme des Meeres noch unbekannte Küsten schreckten. »Natürlich habe ich Vertrauen zu ihr. Aber … sie hat sich verändert.« »Du warst zwei Jahre fort, du kannst nicht erwarten, daß alles beim alten ist, wenn du heimkommst. Ich bin sicher, deine Söhne haben sich auch verändert. Harold ist bald alt genug, um mit dir hinauszufahren, und Guthrum konnte noch nicht einmal laufen, als du aufgebrochen bist.« »Ja, aber damit hatte ich gerechnet.«
Cædmon nickte langsam. »Es gibt nichts, worum du dir Sorgen machen müßtest, soweit ich in der Lage bin, es zu beurteilen.«
Erik starrte aufs Meer und nickte. Dann wechselte er unvermittelt das Thema. »Wir gehen fort aus York.«
»Tatsächlich?«
»Hm. Wir haben es zweimal wieder mit aufgebaut. Jetzt liegt es wieder in Schutt und Asche. Und dieses Mal waren es nicht die Normannen, sondern meine eigenen Landsleute, die es verwüstet haben. Wenn du Hyld und die Kinder nicht rechtzeitig nach Helmsby geholt hättest, wäre ich vielleicht nur zu drei Gräbern heimgekehrt. Du hattest recht, weißt du. England ist normannisch geworden. Aber die Menschen im Norden werden sich nie damit abfinden. Die einen paktieren mit Malcolm von Schottland, die anderen blicken nach Dänemark. York liegt immer zwischen Hammer und Amboß. Und ich will nicht, daß meine Söhne dort aufwachsen.«
Cædmon sah ihn an. »Was wirst du tun?«
»Das kommt darauf an. Ich habe Geld, Cædmon. Ziemlich viel. Ich besitze drei Schiffe, zwei habe ich vollbeladen mit kostbaren Pelzen aus Grönland heimgebracht. Die Pelze sind verkauft, und ich … ersticke beinah in Geld. Ich könnte nach London gehen. Die Stadt wird immer reicher, sie ist ein guter Markt für Pelze. Und es war bestimmt nicht meine letzte Grönlandfahrt. Die Menschen dort haben nichts von dem, was uns selbstverständlich ist, keine Wolle, kaum Holz, sie haben nicht einmal Brot, denn man kann dort kein Korn anbauen. Für all diese einfachen Dinge sind sie bereit, ein Vermögen zu zahlen. In Pelzen. Das ist das einzige, was sie im Überfluß besitzen. Robben, Füchse, Bären, was du dir nur denken kannst.«
»Was sind es für Menschen? Wikinger?«
»Ja. Norweger.«
»Es muß ein karges Leben sein, das sie fristen.«
»Das ist es.«
»Ihr werdet also nach London ziehen? Das beruhigt mich. Es ist auch nicht so schrecklich weit weg.«
Erik fuhr sich über den Bart und nickte. »Das ist eine Möglichkeit, ja. Oder wir gehen fort aus England. Zurück nach Haithabu.« Er wandte den Kopf und sah Cædmon direkt an. »Wenn du mitkommen willst. Ich könnte dich hier rausholen, weißt du.«
Cædmon erwiderte seinen Blick sprachlos.
»Ich habe mir alles genau überlegt«, fuhr Erik leise fort. »Ich könnte mit drei, vier Karren als fahrender Händler hierherkommen. Nicht einmal der fromme Bruder würde mich wiedererkennen. Ich bleibe einen Tag lang, und jede Magd und jeder Soldat dieser Burg wird sich um meine Karren drängen, es gibt ein wildes Durcheinander. Kein Problem, dich und deine beiden Söhne in dem ganzen Gewirr auf einem der Karren zu verstecken. Und dann runter zum Hafen und übers Meer.«
»Übers Meer …«, wiederholte Cædmon versonnen und atmete tief durch. Er dachte lange darüber nach. Er stellte sich vor, wie es wohl wäre. Mit Hyld und ihrer Familie und seinen Söhnen in der Fremde zu leben, an einem der größten Handelshäfen der Welt. Vermutlich könnte er mit Erik in die weite Welt hinausfahren, vielleicht eines Tages selbst ein Schiff kaufen und führen. Ein völlig neues Leben beginnen. Die Vorstellung hatte durchaus ihre Reize. Doch schließlich schüttelte er den Kopf. »Ich bin dir sehr dankbar für dein großzügiges Angebot, Erik. Aber ich kann nicht.«
»Warum nicht?«
»Ich würde nie zulassen, daß du deine Familie meinetwegen ins Ungewisse führst.«
Erik winkte ungeduldig ab. »Es wäre keineswegs so ungewiß. Ich bin in Haithabu aufgewachsen. Es ist ein guter Ort, glaub mir. Entgegen weitverbreiteter Irrlehren sind die Leute dort getauft – jedenfalls die meisten –, es ist nicht kälter als hier, und wir haben auch keine Eisberge hinter den Häusern. Es herrscht seit langem Frieden mit Norwegen, man muß nicht wie hier jeden Tag mit dem Einfall feindlicher Schiffe rechnen. Und wenn du mit uns gingest, müßte das nicht zwangsläufig bedeuten, daß du sie nie wiedersiehst, weißt du.« Cædmon wandte hastig den Kopf ab, aber Erik fuhr unbeirrt fort: »Wir warten ein halbes Jahr, bis Gras über die Sache gewachsen ist, und dann holen wir sie aus dem Kloster. Ihr könntet in Frieden zusammen leben, niemand in Dänemark schert sich um den Zorn eines normannischen Königs oder seiner Vasallen. Ihr wärt in Sicherheit.«
Cædmon versuchte, sich Aliesa in einem Kaufmannshaus vorzustellen, in einer lärmenden Hafenstadt voller Raufbolde und Hurenhäuser. Nur mit Mühe versagte er sich ein wehmütiges Lächeln. »Nein, Erik, es ist ausgeschlossen.«
»Aber warum nur?« fragte sein Schwager verständnislos.
Cædmon schüttelte den Kopf. »Ich bin einmal freiwillig ins Exil gegangen und habe mir geschworen, es nicht wieder zu tun. Ich würde eingehen, glaub mir. Und sie erst recht.«
»Seltsam«, brummte Erik. »Ich hätte gedacht, du würdest alles tun, um sie zurückzubekommen.«
So war es auch. Aber er wußte, daß er für Aliesa alles nur schlimmer machen würde, wenn er auf Eriks Vorschlag einging. Sie hatte ihre Ehre, ihre Freunde und ihre Freiheit verloren genau wie er, aber sie hatte immer gern im Kloster gelebt. Sicher fand sie dort Trost. Vielleicht sogar Frieden. Das Leben, das er ihr statt dessen zu bieten hätte, würde sie todunglücklich machen. Und was dann?
Er schüttelte noch einmal nachdrücklich den Kopf. »Du hast dich geirrt. Ich muß hierbleiben und sehen, wie es weitergeht. Schon wegen Helmsby. Wenn ich fliehe, wird der König mich enteignen, und das Lehen ginge an Gott weiß wen.«
»Na ja, das ist wahr«, räumte Erik unwillig ein. »Wenn dein normannischer Nachbar es bekäme, wäre in Helmsby der Jammer sicher groß.« »Wen meinst du?«
»Lucien de Ponthieu. Seine Ländereien grenzen jetzt direkt an deine, wußtest du das nicht?«
»Nein.«
»Hm. Dein Vetter Alfred liegt ständig im Streit mit ihm über ein paar Felder in Blackmore; sie können sich nicht einigen, wem sie denn nun gehören. De Ponthieu hat angedroht, die Sache dem Sheriff vorzutragen, und da der Sheriff Normanne ist, können wir uns wohl alle denken, wie es ausgeht.«
Cædmon sah ihn an. »Du bist gut informiert.«
»Man muß nur ein paar Tage in Helmsby sein, um diese Dinge zu hören. Dein Vetter versteckt auch hin und wieder ein paar Sklaven oder Bauern, die von de Ponthieus Gütern fliehen. Der reinste Exodus. Lucien führt ein hartes Regiment. Aber seine Frau ist noch schlimmer, sagen sie.«
»Die göttliche Beatrice …«
»Ja.«
»Sag Alfred, er hat meinen Segen, aber er muß sich vorsehen. Wenn Lucien das herausbekommt und sich beim Sheriff oder gar beim König über uns beklagt, dann wird es düster aussehen.«
Erik grinste. »Oh, Alfred ist vorsichtig, sei unbesorgt. Ein gerissener Bursche. Er heiratet übrigens meine Schwester Irmingard.«
Cædmon lächelte. »Wirklich?«
»Hm. Wird auch Zeit. Sie ist schwanger, und inzwischen kann man es deutlich sehen. Du kannst dir sicher vorstellen, was deine Mutter dazu zu sagen hat.«
»Lebhaft. Sei so gut, richte Alfred und Irmingard meine Glückwünsche aus.«
Erik nickte und wollte etwas sagen, wollte vielleicht noch einmal versuchen, Cædmon umzustimmen, aber ein vernehmliches Poltern auf der Treppe lenkte ihn ab. Drei kleine Ritter erstürmten die Brustwehr, der Prinz vornweg.
»Cædmon! Oh … entschuldige. Ich wußte nicht, daß du Besuch hast.« »Henry, das ist Erik Guthrumson, Leifs Bruder und der Mann meiner Schwester Hyld.«
»Oder auch Erik, der Pirat, wie du gerne sagst«, beendete der Prinz die Vorstellung mit einem pfiffigen Lächeln. Dann verneigte er sich höflich. »Es ist mir eine Ehre. Ich habe noch nie einen Piraten kennengelernt.«
Erik lächelte auf ihn hinab, doch ehe er erwidern konnte, daß Henrys Vater wohl der größte Pirat von allen sei, drängte Ælfric sich vor. »Du bist Onkel Erik, der bis ans Ende der Welt gesegelt ist?«
Erik winkte bescheiden ab. »Nur beinah, Ælfric. Hinter Grönland geht das Meer immer noch weiter, dann kommt noch das sagenhafte Vinland, wo das rothäutige Volk lebt, und erst dahinter liegt das Ende der Welt.«
»Wirst du mal hinsegeln?« fragte der Junge aufgeregt.
»Ich bin doch nicht verrückt. Dort sind Seeungeheuer, heißt es. Und man fällt über den Rand der Erde und landet weiß Gott wo.«
»Nein, ich meine nach Vinland.«
»Das schon eher.«
»Nimmst du mich mit?«
Erik lachte. »Vielleicht. Ich denke, einen Kerl wie dich könnte ich noch gebrauchen. Und was ist mit dir, Wulfnoth? Willst du auch zur See fahren?«
Ælfrics kleiner Bruder schüttelte den gesenkten Kopf. »Nein. Höchstens bis in die Normandie.«
Erik brummte mißfällig. »Und was willst du ausgerechnet dort?«
Der Junge zuckte mit den Schultern. »Ich gehe dorthin, wo Henry ist.« »Verstehe. Ich merke, du kommst auf deinen Vater, mein Junge.«
Cædmon legte seinem kleinen Sohn die Hand auf die Schulter. Er spürte, daß der Fremde mit der tiefen Stimme und dem schwarzen Bart ihm angst machte. »Komm, Wulfnoth. Ihr anderen auch. Zeit für die Vesper, und danach gibt es Essen. Iß mit uns, Erik, mach uns die Freude.«
Erik hätte sich lieber verabschiedet und irgendwo haltgemacht, wo er für sein Essen nicht erst beten mußte, aber er willigte ein, ohne zu zögern. Er hatte so eine Ahnung, daß Cædmon an Heimweh litt und gerne noch ein paar Geschichten aus Helmsby hören wollte.
Das Essen am frühen Abend, die Hauptmahlzeit des Tages, war derzeit meist eine ruhige, schlichte Angelegenheit, doch kaum hatten sie sich hingesetzt, als sie eine große Reiterschar im Hof Einzug halten hörten. Ælfric sprang von der Bank auf, ignorierte die Ermahnungen seines Vaters und stürzte ans Fenster. »Es ist Bischof Odo!« rief er aufgeregt. »Dein Onkel ist zurück, Henry! Und da ist Eadwig!«
Er wollte zur Tür laufen, aber Cædmon sagte bestimmt: »Du kommst her und setzt dich, Ælfric. Und du wirst nicht noch einmal von der Tafel aufstehen, ohne um Erlaubnis zu bitten, ist das klar?«
Ælfric sah ihn erschrocken an und kehrte kleinlaut an seinen Platz zurück. »Ja, Vater.«
Cædmon nickte und rief sich ins Gedächtnis, daß seine Söhne bis vor einem halben Jahr unter Bauern gelebt hatten. Es war allein seine Schuld, daß ihre Manieren zu wünschen übrigließen.
Die Rückkehr des Hausherrn versetzte nicht nur Ælfric in helle Aufregung. Der Koch rang verzweifelt die Hände, sah zu den Deckenbalken auf und fragte Gott, warum der Bischof ihm keinen Boten gesandt habe. Was würde der wählerische Bruder des Königs wohl sagen, wenn er Kohlsuppe und nicht mehr ganz frisches Brot vorgesetzt bekam? Er hastete in die Küche hinunter, um auf die Schnelle ein kleines Wunder zu vollbringen.
Wenig später betrat Odo mit etwa zwanzig Mann Gefolge seine Halle, begrüßte den Steward, den Kämmerer und den Mundschenk als höchste Amtsträger seines Haushaltes zuerst, ehe er sich seinen übrigen Gästen, freiwilligen wie unfreiwilligen, zuwandte.
Cædmon sah in sein strahlendes Gesicht und wußte alles. »Ich sehe, Ihr seid zufrieden, Monseigneur«, sagte er lächelnd.
Odo nickte. »Es war wunderbar. Eine sehr bewegende Zeremonie, der Erzbischof von Rouen ist ein begabter Mann. Aber er hat ja auch viel Übung darin, Kirchen zu weihen.«
»Und der König?«
Odos dunkle Augen funkelten. »Nun, als er die Kathedrale von außen sah, sagte er, sie sei so groß und prächtig, daß er Hoffnung habe, Gott werde mir zumindest die Hälfte meiner ungezählten Sünden erlassen. Und als er eintrat und den Teppich erblickte …«
»Ja?« fragte Cædmon gespannt.
»Sagte er gar nichts mehr. Er starrte darauf, als traue er seinen Augen nicht. Dann trat er an den Anfang und ging daran entlang. Es dauerte stundenlang, so schien es mir. Er hat den Beginn der Zeremonie wer weiß wie lange aufgehalten, der Erzbischof wurde schon ganz unruhig. Aber William merkte nichts davon. Etwa nach einem Viertel winkte er mich zu sich und zeigte auf die Inschrift, vor der er stand. Er konnte nichts sagen, Cædmon. Zum erstenmal in meinem Leben sah ich meinen Bruder sprachlos. Zusammen gingen wir von Bild zu Bild, und ich las ihm die Beschriftung vor. Und als wir ans Ende kamen …« Er brach ab.
Der König hatte geweint und Odo in die Arme geschlossen, ebenfalls beides bislang unbekannte Erfahrungen für den jüngeren Bruder. Einen Augenblick hatten sie reglos gestanden, beide erschüttert. Dann war William einen Schritt zurückgetreten, hatte Odo die Hand auf die Schulter gelegt und genickt, während immer noch Tränen über sein Gesicht liefen. Aber es war unmöglich, das zu erzählen. Es war ein zu persönlicher Moment gewesen.
Cædmon nickte. »Ja. Ich verstehe, Monseigneur. Und ich bin froh, daß all die harte Arbeit sich gelohnt hat.«
Odo atmete tief durch. »Das hat sie in der Tat. Ich … ich habe den König nie so tief bewegt gesehen. Vielleicht ist es furchtbar, daß ich das sage, aber weder bei der Geburt seines ersten Sohnes noch bei seiner Krönung oder als Richard starb haben sich je solche Empfindungen auf seinem Gesicht gezeigt.«
Vielleicht liegt es daran, daß der Teppich etwas ist, das jemand ohne jeden Zwang oder Eigennutz für William getan hat, fuhr es Cædmon durch den Kopf. Für einen Mann, der sich so schlecht darauf verstand, Liebe oder Zuneigung in den Menschen zu wecken, sich so wenig darum bemühte, sicher eine seltene Erfahrung.
Odo sah ihn eulenhaft an. »Ich wüßte zu gern, was in Eurem Kopf vorgeht. Aber hier kommen Rufus und sein getreuer Schatten, Euer Bruder.«
Cædmon wandte den Kopf.
»Rufus.«
»Cædmon.«
»Eadwig!« Er zog den Bruder kurz an sich und klopfte ihm die Schulter. »Du scheinst ein bißchen grün um die Nase.«
Eadwig schnitt eine Grimasse und winkte ab. »Rauhe See«, erklärte er. Cædmon lachte schadenfroh. »Ich glaube, unser Eadwig taugt nicht für deine nächste Grönlandfahrt, Erik.«
Eadwig begrüßte seinen Schwager herzlich, der den Bruder des Königs argwöhnisch aus dem Augenwinkel begutachtete.
Rufus trat einen Schritt näher an Cædmon heran und sagte leise: »Kann ich dich sprechen?«
»Dann komm.« Der Prinz nickte zum Fenster, und Cædmon folgte ihm dorthin.
Rufus ließ den Blick über das Durcheinander in der Halle schweifen, ehe er seinen Mut sammelte und Cædmon in die Augen sah.
»Du … du weißt vermutlich, daß es mir ein großes Anliegen ist, den Wünschen meines Vaters zu entsprechen, seine Interessen zu wahren und ihm ein treuer, ergebener Sohn zu sein, nicht wahr?«
»Ja, Rufus. Das ist mir nicht entgangen. Ich habe deinen diesbezüglichen Eifer sehr deutlich zu spüren bekommen.«
Rufus nickte, zumindest äußerlich unberührt von Cædmons Sarkasmus. »Und daß ich ihm nie widerspreche und versuche, nichts zu sagen, das seinen Unwillen erregen oder sein Vertrauen in mich erschüttern könnte, denn mir liegt daran, und außerdem habe ich immer noch eine Todesangst vor ihm.«
Cædmon sah ihn an, nicht sicher, wie er dieses freimütige Eingeständnis werten sollte.
Der Prinz erwiderte den Blick scheinbar gelassen, aber seine Haltung war angespannt. »Nun, nach der Zeremonie in Odos Kathedrale bin ich von meinen Grundsätzen abgewichen, weil ich mir dachte, daß ich meinen Vater vermutlich nie wieder in so gelöster, nahezu milder Stimmung finden würde. Und ich habe ihn gebeten, seinen Groll gegen dich zu begraben und dich freizulassen.«
Cædmon zeigte keinerlei Regung, erweckte glaubhaft den Anschein, als langweile ihn ein wenig, was Rufus ihm erzählte, aber seine Hände waren plötzlich sehr feucht. »Und du hast festgestellt, daß das keine sehr kluge Idee war, nehme ich an.«
Rufus schüttelte den Kopf. »Im Gegenteil. Er hat zugestimmt. Zu Pfingsten soll ich mit Henry nach Rouen zurückkehren. Er wünscht, daß du uns begleitest.«
Eadwig erzählte ihm später die Einzelheiten, nachdem er Cædmon an seinem üblichen Platz auf der Brustwehr gefunden hatte, wo er stand, in die Dunkelheit starrte und dem Rauschen der Brandung an den weißen Klippen lauschte.
»Im ersten Moment hab ich gedacht, die Feierlaune sei vorbei, der König werde Rufus bei den Ohren packen und mit dem Kopf gegen die Wand schleudern. Etwas wirklich Finsteres huschte wie ein Schatten über sein Gesicht, und er sagte kein Wort. Rufus … er ist wirklich sehr mutig, wenn eine Sache es ihm wert ist, weißt du, und er hat einfach weitergeredet und seinem Vater gestanden, wie sehr es ihn quälte, daß er für deine Gefangenschaft verantwortlich sei. Ähm … wir alle dachten natürlich, du lägest hier in irgendeinem finsteren Loch und würdest langsam, aber sicher verfaulen.«
Cædmon lächelte freudlos. »Euer unverdientes Mitgefühl ist mir wirklich peinlich.«
Eadwig schlug die Augen nieder und räusperte sich nervös. »Entschuldige, Cædmon. So hab ich’s nicht …«
»Schon gut, schon gut. Nimm nicht alles so ernst, was ich sage. Das hast du früher auch nicht getan.«
Sein Bruder grinste erleichtert und fuhr fort: »Der König hat ihm auch tatsächlich zugehört. Dann wechselte er einen von diesen verstohlenen Blicken mit der Königin, wie er es so oft tut, und gab ganz plötzlich nach. ›Also gut, Rufus‹, hat er gesagt, ›ich gewähre deine Bitte.‹ Und er hat gelächelt wie eine zufriedene Katze. Ehrlich, manchmal verstehe ich überhaupt nicht, was in seinem Kopf vorgeht. Dann hat er Rufus aufgetragen, mit dem Bischof hierher zurückzukehren und dir auszurichten, daß er dich Pfingsten in Rouen erwartet. Bis dahin bist du frei zu gehen, wohin du willst, aber nicht weiter nördlich als Helmsby und nicht weiter westlich als Winchester.«
»Er will nicht, daß ich Etienne aufsuche.«
»Ja.«
Cædmon schwieg und dachte darüber nach. »Na ja, ich kann nicht behaupten, daß es mich besonders dazu drängt.« Wozu auch? Nichts, was er Etienne hätte sagen können, würde irgend etwas ändern. »Der König muß wirklich in seltsamer Stimmung gewesen sein«, bemerkte er. »Es sieht ihm nicht ähnlich, einen Gedanken an die Gefühle anderer Leute zu verschwenden.«
»Das ist es wohl auch nicht«, vertraute Eadwig ihm leise an. »In Wahrheit geht es wohl eher darum, daß er nicht will, daß du dich mit Etienne fitz Osbern versöhnst, meint Rufus. Der König blickt nicht wohlgefällig nach Chester, Cædmon. Lanfranc hat ihm berichtet, daß die Verwaltung dort darunter leidet, daß der Sheriff sich schon zum Frühstück betrinkt.« »Etienne?« fragte Cædmon erschrocken. »Oh, verflucht …«
»Jetzt fang nicht gleich an, dir Vorwürfe zu machen. Sind wir mal ehrlich, er hat immer zuviel getrunken. Und seit sein Bruder mit Ralph de Gael gegen den König rebelliert hat und in Ungnade ist, ist es schlimmer geworden.«
Ja, und seit er weiß, daß sein bester Freund ihn mit seiner Frau betrogen hat, noch ein bißchen schlimmer, dachte Cædmon, aber was er sagte, war: »Ich kann mir nicht vorstellen, daß Etienne seine Pflichten vernachlässigt. Gewissenhaftigkeit liegt einfach in seiner Natur, egal wieviel er trinkt.«
Eadwig hob die Schultern. »Mag sein. Wenn du meinst, der König habe ein besonders kritisches Auge auf deinen einstigen Freund geworfen, hast du vermutlich recht. Er traut ihm nicht mehr so recht, seit Etiennes Bruder versucht hat, ihn zu stürzen.«
»Aber das ist lächerlich, Etienne würde den König niemals verraten. Wie kommt er nur darauf? Dir und mir hat er nie angelastet, was Dunstan getan hat.«
»Wir haben Dunstan auch nicht wöchentlich im Kerker besucht, um ihm wollene Decken und gebratene Hühnchen zu bringen.«
»Tut Etienne das?« fragte Cædmon und fuhr sich müde über die Stirn. »Nun, ich würde sagen, das muß man ihm hoch anrechnen. Roger ist und bleibt sein Bruder. Dunstan war so rücksichtsvoll, sich einen Dolch ins Herz zu stoßen, deswegen ist dir und mir dieses Dilemma erspart geblieben. Aber wie kann William nur glauben, Etiennes Mitgefühl für seinen Bruder sei Anlaß zu Mißtrauen?«
Eadwig hob unbehaglich die Schultern. »Ich weiß nicht, Cædmon. Du kennst den König viel besser als ich, aber mir kommt es manchmal so vor, als sei ihm jeder Anlaß zu Mißtrauen recht, ganz gleich wie klein. Und je älter er wird, desto mißtrauischer wird er.«