Helmsby, März 1080

Sie hatten Cædmon aus dem Haus gejagt. Er wäre gern in seine neue Kirche gegangen, um zu beten, denn seine Knie waren butterweich vor Furcht und seine Hände kalt und klamm, aber er wagte sich nicht so weit fort. Schon ein, zwei Stunden nach Mitternacht hatte er Eanfled, die Hebamme, aus dem Dorf geholt, und jetzt war beinah Mittag. Aber nichts rührte sich auf der Zugbrücke. Und er wagte auch nicht, zurückzugehen und zu fragen, wie es stand.

»Ähm, Entschuldigung, Thane, könntet Ihr ein Stück beiseite treten?« bat Ine.

Cædmon machte ihm Platz. »Tut mir leid, daß ich dir im Wege rumstehe, Ine. Ich weiß nicht, wohin ich sonst gehen soll bei dem verdammten Regen.«

Ine führte die beiden Pferde, die er von der Weide geholt hatte, zu ihren Boxen. Eines war Widsith, der inzwischen sein Gnadenbrot bekam, den Cædmon aber immer noch mehr liebte als seinen Nachfolger Frison, einen ausdauernden, klugen, aber launischen flämischen Rappen. Cædmon hatte ihn aufgrund genau dieser Eigenschaften nach dem Herzog von Flandern, Robert le Frison, benannt.

Er trat zu seinem alten Weggefährten und nahm Ine das Stroh aus der Hand. »Ich reibe ihn ab. Ich bin froh, wenn ich irgend etwas zu tun habe. Und wie geht es deiner Frau?«

Ine nickte und atmete tief durch. »Ist auch bald soweit. Ich wünschte, es wäre schon alles vorbei. Ich wünschte … ich könnte so gelassen sein wie Ihr.«

»Ich bin nicht gelassen, Ine.«

»Aber es scheint so.«

Cædmon verzog den Mund. Das ist der Normanne in mir, dachte er und nestelte nervös an Widsiths immer noch üppiger Mähne herum. Er hatte allerdings Zweifel, wie lang er seine scheinbare Gelassenheit noch würde aufrechterhalten können.

Als er im Hof eilige, leichte Schritte hörte, trat er ans Stalltor. Seine Schwester rannte mit wehenden Röcken auf ihn zu, nahm sich keine Zeit, die Pfützen zu umrunden, und spritzte kleine Schlammfontänen auf. Cædmon sah ihr ins Gesicht, schloß für einen Moment die Augen und dankte Gott.

»Hyld …«

Sie fiel ihm um den Hals. »Es ist ein Junge, Cædmon. Ich frage mich, warum in dieser Familie nie jemand ein Mädchen bekommt, aber er ist wunderbar. Komm. Komm schon!«

Achtlos warf er die Handvoll Stroh zu Boden, nahm ihren Arm und ließ sich durch den unablässigen Regen zurück zur Brücke ziehen. »Und Aliesa?«

»Sei unbesorgt. Es war scheußlich, aber es geht ihr gut. Ich hatte Angst um sie, das gebe ich zu. Aber sie hat es viel besser durchgestanden, als ich gedacht hätte. Und jetzt behauptet sie, das sei letztlich eine reine Willensfrage …«

Jeder, der ihm in der Halle begegnete, wollte ihm gratulieren, doch Cædmon hatte ihnen nicht mehr als ein Nicken und ein fahriges Lächeln zu bieten, ehe er die Treppe hinaufstürmte – immer zwei Stufen auf einmal – und die Tür zu ihrer Schlafkammer aufstieß.

Aliesa wirkte nicht zerzaust und abgekämpft, wie er erwartet hatte. Die Schatten unter ihren Augen waren der einzige Hinweis auf den Kampf, den sie hinter sich hatte. Ihr Haar war gekämmt und geflochten, ihr Hemd ebenso frisch wie die Laken auf dem Bett. Sie sah aus wie immer. »Hier.« Lächelnd streckte sie ihm das winzige Bündel entgegen, das sie in den Armen hielt. »Hyld meint, er sei ziemlich gut gelungen.«

Cædmon kniete sich neben sie und schloß sie vorsichtig mitsamt dem Kind in die Arme. Dann nahm er es ihr ab, hielt es ungeschickt in beiden Händen und betrachtete es eingehend. Seinem Sohn war die Anstrengung der vergangenen Stunden wesentlich deutlicher anzusehen als der Mutter, stellte er fest. Das kleine Gesicht war verquollen und krebsrot.

Ist Ælfric auch so winzig gewesen, fragte er sich ungläubig. Die Hände, die Finger wirklich genauso klitzeklein?

»Er ist perfekt«, sagte er heiser, räusperte sich entschlossen und küßte behutsam die kleine, rote Stirn. »Und er sieht aus wie du.«

Aliesa nahm ihn ihm mit einem stolzen Lächeln ab, bettete seinen Kopf an ihre Brust, obwohl er fest schlief, und bemerkte: »Das ist ein zweifelhaftes Kompliment, Cædmon.«

Er lachte. »Aber seine Haare sind pechschwarz.«

»Ja, ich hab’s gesehen.« Sie fuhr staunend mit dem Daumen über den dunklen Flaum. Dann hob sie den Kopf. »Wir können ihn unmöglich Etienne nennen, Cædmon.«

»Nein, ich weiß«, stimmte er bedauernd zu.

»Möchtest du, daß er einen englischen Namen bekommt?« fragte sie. Er schüttelte den Kopf. »Ich dachte, wenn du keine Einwände hast, nennen wir ihn Richard.«

Sie sann darüber nach. Sie hatte sich in den letzten Wochen häufig mit dieser schwierigen Frage befaßt, aber sie hatten noch keinmal darüber gesprochen, weil es Unglück brachte, vor der Geburt über den Namen eines Kindes zu reden. Auch sie hatte schon an den Namen des toten Prinzen gedacht.

»Einverstanden. Es ist ein guter Name.«

Das fand Cædmon auch.

Sie nahm seine Hand und lehnte den Kopf an seine Schulter. »Wenn du sicher bist, daß dich nicht jedesmal Trauer überkommt, wenn du den Namen deines Sohnes hörst.«

Er schüttelte den Kopf. Er brauchte den Namen nicht zu hören, um an den Prinzen erinnert zu werden; es verging ohnehin kein Tag, da er nicht an ihn dachte. »Nein, ich fände es tröstlich, wenn wenigstens sein Name und dadurch auch sein Andenken in unserem Sohn weiterlebt.«

»Gut. Dann schick nach Bruder Oswald und nach Alfred.«

Es war schon lange vereinbart, daß Alfred der Pate sein sollte, wenn das Kind ein Junge wurde, und Bruder Oswald hatte sich nur zu gerne bereit erklärt, es zu taufen. Es war üblich, ein neues Menschenkind gleich nach der Geburt zu taufen, denn wenn es starb, ehe es durch das Sakrament von der Erbsünde reingewaschen wurde, war das Heil seiner unschuldigen Seele ungewiß. Also entführte Cædmon Aliesa ihren Sohn für eine halbe Stunde, und die drei Männer trugen ihn warm eingepackt im Schneckentempo und mit so übertriebener Vorsicht zur Kirche im Dorf, daß jeder schmunzeln mußte, der sie sah. Die Leute von Helmsby, die wegen des schauderhaften Wetters nicht auf ihre Felder hinausgegangen waren, strömten in St. Wulfstan zusammen, um das freudige Ereignis mitzuerleben, und Cædmon war über die vielen herzlichen Glückwünsche gerührt. Doch als Bruder Oswald das Neugeborene zum erstenmal ins eisige Wasser des Taufbeckens tauchte, wachte Richard auf und stimmte ein empörtes Gebrüll an, das immer lauter wurde, je mehr der Bruder die Stimme erhob, um es zu übertönen. Die Bauern gratulierten Cædmon zu Richards kräftiger Stimme, aber Vater, Pate und Priester waren gleichermaßen erleichtert, als sie den kleinen Schreihals wieder bei seiner Mutter abliefern konnten. Sie legte ihn an, und er beruhigte sich von einem Augenblick zum nächsten.

Cædmon beobachtete Mutter und Sohn mit unverhohlener Verzückung. »Ich frage mich, ob es wirklich nötig ist, daß die Aufnahme in den Schoß der Heiligen Mutter Kirche mit so einem Mordsschrecken verbunden ist«, murmelte er.

Aliesa streichelte dem kleinen Richard liebevoll den Kopf, erwiderte aber: »Jeder muß einen Preis für sein Seelenheil zahlen, das kann man gar nicht früh genug lernen.«

Er seufzte. »Das ist wohl wahr. Ich habe mir überlegt, daß wir anläßlich seiner Geburt ein Festmahl geben könnten. Es ist ein guter Anlaß zum Feiern, was denkst du?«

Sie hob den Kopf, sah ihn an und nickte. »Lade Lucien und Beatrice ein.«

»O nein, muß das sein?«

»Natürlich nicht. Ich bitte dich lediglich darum.«

Wie hätte er es ihr abschlagen können? Lucien war ihr Bruder und, Gott helfe ihnen, Richards Onkel. Eine weitere Verknüpfung, die ihrer aller Leben enger miteinander verstrickte. Vielleicht wurde es wirklich Zeit, daß sie wenigstens versuchten, die Vergangenheit ruhen zu lassen und ein halbwegs normales Verhältnis zu entwickeln. Doch Lucien würde niemals den ersten Schritt machen, das wußte Cædmon ganz genau. Also lag es an ihm.

»Na schön, meinetwegen.«

Sie belohnte ihn mit einem Lächeln, für das er immer noch willig die Sterne vom Himmel geholt hätte.

»Ine sagt, Gunnilds Kind kann auch jeden Tag kommen«, berichtete er. »Sie wäre eine gute Amme für Richard.«

Aliesa dachte einen Augenblick darüber nach. »Dann werden die ersten Worte, die er spricht, englisch sein«, murmelte sie versonnen. Cædmon antwortete nicht, und nach einem Moment fügte sie hinzu: »Aber ich denke, so soll es auch sein. Denn schließlich ist Richard Engländer.«

 

Sie hatten das Festessen auf einen Sonntag kurz nach Ostern gelegt, denn während der Fastenzeit war jede Art von Prasserei völlig undenkbar, und nach vierzig Tagen ohne Fleisch, Butter und Eier wußten sie eine üppig gedeckte Tafel besonders zu schätzen. Es gab frisches Wild und Lamm in köstlichen Soßen mit den kostbarsten Gewürzen – Cædmon hatte bei einem jüdischen Händler in Norwich gar Pfeffer und Safran erstanden. Außerdem wurden süße und deftige Pasteten mit herrlich goldbraunen Krusten gereicht, saftige Honigkuchen mit Rosinen und Mandeln, knusprige Brathühnchen und vieles mehr. Met, Wein und Cidre flossen in Strömen. Die Stimmung war ausgelassen, und die normannischen Musiker, die Cædmon ebenfalls in Norwich ausfindig gemacht hatte, erfreuten auch die englischen Zuhörer. Er hatte keinen englischen Spielmann engagieren wollen, dessen Lieder seine normannischen Gäste gelangweilt hätten.

Lucien hatte Cædmons Einladung nicht ausgeschlagen. Er saß an der linken Seite seiner Schwester an der hohen Tafel, aß wenig, sprach kaum ein Wort und lauschte sichtlich gelangweilt Aliesa und Beatrice, die sich über seinen Kopf hinweg unterhielten. Erwartungsgemäß sprachen sie über Kleinkinder und deren Eigenarten. Beatrice hatte wenige Wochen vor Weihnachten ein Mädchen zur Welt gebracht – eine herbe Enttäuschung für Lucien –, und Aliesa hatte sich auf das einzige Thema gestürzt, das sie und ihre Schwägerin gleichermaßen interessierte.

»Natürlich habe ich eine normannische Amme genommen«, hörte Cædmon Beatrice sagen, »diesen englischen Bauernmädchen kann man ja kein hilfloses Kind anvertrauen. Mein Bruder hat sie mir von zu Hause geschickt. Aber ich fürchte, sie taugt auch nichts. Sie ist unaufmerksam, und genug Milch hat sie auch nicht. Und kurz vor Ostern ist sie …«

»Noch Wein, Lucien?« fragte Cædmon, damit er ihrer unangenehm schneidenden Stimme nicht länger lauschen mußte.

Sein Schwager nickte. »Kein übler Tropfen«, bemerkte er.

Cædmon war über das Kompliment aufs höchste erstaunt und erwiderte lächelnd: »Aus dem Languedoc. Dieses verrückte Volk dort unten mag uns nicht freundlich gesinnt sein und mit Philip von Frankreich paktieren, aber sie machen wirklich keinen schlechten Wein.«

Lucien winkte ab. »Das Languedoc ist weit weg. Ich mache mir im Moment mehr Sorgen um Northumbria.«

Cædmon spürte eine Gänsehaut auf Armen und Rücken. Northumbria war das letzte, worüber er mit Lucien sprechen wollte. Zu viele grausige Erinnerungen waren daran geknüpft. Aber dies war das erstemal, seit sie sich kannten, daß Lucien ihm nicht offenkundig feindselig begegnete, und das wollte er nicht gleich wieder zunichte machen.

»Warum? Was hörst du aus Northumbria?«

Lucien hob leicht die breiten Schultern und stützte dann den einen Ellbogen auf den Tisch. »Der Erzbischof von York hat eine Intrige aufgedeckt. Eine Handvoll northumbrischer Thanes und reicher dänischer Kaufleute wollten dem König von Dänemark einen Boten schicken.«

Cædmon stöhnte. »Um ihn und seine Flotte einzuladen? Werden die Leute im Norden denn nie klüger? Hat ihnen der letzte Besuch der Dänen nicht gereicht?«

»Tja«, machte Lucien. »Sie fürchten sich vor den Schotten und glauben, König William sei nicht gewillt oder in der Lage, sie gegen Malcolm zu schützen.«

Cædmon schüttelte den Kopf. Der König konnte nicht überall gleichzeitig sein. Wäre er letzten Herbst in England gewesen, hätte er die Schotten aus Nordengland vertrieben. Aber die Lage in Frankreich hatte ihn gehindert.

»Nun, wenn man die Dinge aus der Sicht der Northumbrier betrachtet, kann man sie verstehen«, meinte Aliesa nachdenklich. »Wenn der König nicht selbst gegen die Schotten ziehen konnte, hätte er einen seiner Brüder oder Rufus schicken sollen. Kein Wunder, daß die Menschen im Norden den Eindruck haben, der König habe kein gesteigertes Interesse daran, sie zu beschützen.«

»Sie haben dem König nie den geringsten Anlaß gegeben, sie ins Herz zu schließen«, bemerkte Lucien sarkastisch.

Seine Schwester schüttelte entschieden den Kopf. »Niemand verlangt, daß er sie ins Herz schließt. Aber er ist ihr König, und sie haben ein Anrecht auf seinen Schutz.«

Lucien sah von ihr zu Cædmon. »Ich ahne, woher du deine politischen Ansichten nimmst.«

Sie straffte die Haltung. »Siehst du diesen Kopf auf meinen Schultern, Lucien? Meinst du, er sei nur dazu da, ein couvre-chef zu tragen?«

Er hob zerknirscht die Hand. »Nein. Ich kenne diesen Kopf schon ein Weilchen, und ich weiß, daß er die eigenwilligsten Gedanken ausbrütet.«

Cædmon sah Beatrice einen eifersüchtigen Blick in Aliesas Richtung werfen und wandte den Kopf ab, um sein Grinsen zu verbergen und den Mundschenk zu rufen. »Ælfric, bring dem Sheriff neuen Wein. Ælfric? Wo ist dein Bruder, Wulfnoth?«

Der große Weinkrug war für den neunjährigen Jungen eigentlich noch zu schwer, aber Wulfnoth, der die Gäste an der linken Tafel zu versorgen hatte, schlug sich wacker. Jetzt kam er an die Kopfseite, füllte Luciens Becher, ohne einen einzigen Tropfen zu verschütten, und sagte: »Ich weiß es nicht, Vater.« Er hielt den Blick gesenkt.

»Wulfnoth«, begann Bruder Oswald leise, und sein Tonfall verhieß nichts Gutes. »Ich habe dir diese Woche schon zweimal gesagt, daß eine Lüge auch dann Sünde ist, wenn du sie aussprichst, um deinen Bruder zu decken. Weißt du noch?«

Wulfnoth nickte.

»Wie bitte?«

»Ja, Bruder Oswald.«

»Und was, denkst du, muß ich tun, damit du endlich beherzigst, was ich dir sage?«

Wulfnoth schluckte sichtlich und brachte kein Wort heraus. Wie so oft kam Aliesa ihm zu Hilfe. Sie winkte ihn näher. »Komm zu mir, Wulfnoth.«

Der Junge trat vor sie.

»Bruder Oswald hat recht, weißt du. Wenn dein Vater dich fragt, wo dein Bruder ist, mußt du ihm antworten. So sind die Regeln. Es ist tapfer von dir, wenn du dich schützend vor deinen Bruder stellst, aber deine Verpflichtung deinem Vater gegenüber ist größer. Das weißt du doch, oder?«

»Ja.«

»Also?«

Er hob den Kopf und sah ihr in die Augen. »Ich weiß wirklich nicht, wo er ist. Aber er hat gesagt, er … er will nicht Mundschenk sein.« Was Ælfric tatsächlich gesagt hatte, war, daß er lieber Tod und Teufel und Bruder Oswald ins Auge sehen wolle, als seinen Vater und das verfluchte Normannenpack an der Tafel zu bedienen, aber selbst Wulfnoth wußte schon, daß es manchmal diplomatischer war, Gehörtes nur sinngemäß widerzugeben.

»Ich glaube, Ælfric hat mich irgendwie mißverstanden«, murmelte Cædmon. »Es handelte sich keineswegs um eine Einladung.« Er nickte seinem Zweitältesten zu. »Es ist schon gut. Du kannst wieder verschwinden.«

»Ich muß dir wirklich zu deinen Söhnen gratulieren, Cædmon«, spöttelte Lucien boshaft. »So diszipliniert. Sollte der Vermißte ein blonder englischer Bengel sein, der dir wie aus dem Gesicht geschnitten ist, habe ich ihn vorhin, als wir ankamen, gesehen. Er hockte hinter deinem Viehstall und heulte sich die Augen aus.«

Du hast der Versuchung noch nie widerstehen können, einen englischen Jungen in Schwierigkeiten zu bringen, dachte Cædmon grimmig. Als der Lehrer seiner Söhne sich erheben wollte, schüttelte er den Kopf. »Nein, laß nur, Bruder Oswald. Ich kümmere mich selber darum.«

Er wies den vierzehnjährigen Sohn eines seiner Housecarls an, dafür zu sorgen, daß die Becher an der hohen Tafel nie leer wurden, und wartete, bis das Essen vorbei war und seine höchsten Gäste, der Sheriff und seine Frau und ein paar normannische Adlige und englische Thanes aus der Nachbarschaft, sich zurückzogen. Erst als nur noch Onkel Athelstan und die anderen hartnäckigen Trinker auf den Bänken saßen und alle anderen schon die Tische beiseite räumten und ihre Decken herbeiholten, entschuldigte Cædmon sich bei seiner Frau und machte sich auf die Suche nach Ælfric.

Obwohl es für die Kinder längst Zeit war zu schlafen, war sein Ältester nicht in der Kammer, die er mit Wulfnoth und den Söhnen der Housecarls teilte. Also ging Cædmon hinaus in den Hof und fand ihn tatsächlich hinter dem Viehstall, genau wie Lucien gesagt hatte. Die Nacht war klar, der Mond fast voll, es war nicht dunkel. Ælfric saß mit dem Rücken an die Stallwand gelehnt und hatte die Stirn auf die angewinkelten Knie gelegt.

»Ælfric …«

Der Kopf ruckte hoch. »Oh, Mist! Ich dachte, ich hätte wenigstens bis morgen früh Schonfrist.«

»Steh gefälligst auf, wenn ich mit dir rede!«

Ælfric kam langsam auf die Füße und trat vor ihn. Er sah seinem Vater unverwandt in die Augen. Herausfordernd, schien es Cædmon.

»Was ist dir nur eingefallen? Du kannst dich doch nicht einfach weigern, wenn ich dir etwas auftrage. Was für ein Benehmen ist denn das?« »Ich … wollte einfach nicht.«

»Es ist vollkommen ohne Belang, ob du wolltest oder nicht! Du hast mich vor meinen Gästen blamiert, du verdammter kleiner …«

»Bastard?«

Cædmon hob die Hand im Affekt, zögerte dann und ließ sie wieder sinken. Plötzlich fiel ihm der Abend vor fast genau sechzehn Jahren ein, als er vor seinem Vater im Obstgarten gestanden hatte, genau wie Ælfric jetzt vor ihm stand. Wie konntest du mich so bloßstellen, Cædmon? Es war eine Aprilnacht gewesen wie diese, nur lauer. Und er erinnerte sich genau an die Bitterkeit, die Verzweiflung, die er empfunden hatte, als er erkannte, daß sein Vater ihn fortschickte, weil er einen Makel hatte, weil er der minderwertigste seiner Söhne war. Heute dachte er manchmal, daß die Gründe seines Vater womöglich völlig andere gewesen waren, doch jedenfalls hatte der Thane es nicht verstanden, die Zweifel seines Sohnes zu zerstreuen, und Cædmon hatte Jahre gebraucht, um diesen Kummer und seinen Zorn zu überwinden und seinen eigenen Wert zu erkennen. Und Ælfric war erst elf, drei Jahre jünger als Cædmon damals.

Statt ihn zu schlagen, legte er seinem Sohn die Hände auf die knochigen Schultern. »Ich werde nicht versuchen, dir weiszumachen, es habe sich für dich nichts geändert durch Richards Geburt, Ælfric. Aber er ist dein Bruder. Man kann überhaupt nicht genug Brüder haben. Es wäre auch für dich ein Grund zum Feiern gewesen.«

»Ich hätte wirklich nichts gegen eine Schwester gehabt«, antwortete der Junge erstickt. »Aber jetzt werde ich niemals Thane of Helmsby werden.«

»Nein, vermutlich nicht. Und ich kann verstehen, daß du enttäuscht bist. Aber du bist und bleibst mein Sohn, genau wie Wulfnoth, und wenn ich sterbe, werdet ihr nicht mit leeren Händen dastehen, das verspreche ich dir. Euch soll es nicht so ergehen wie Onkel Athelstan. Und noch etwas solltest du bedenken, Ælfric: England ist im Umbruch. Nichts ist mehr so, wie es früher war. Wenn du es richtig anstellst, kannst du dir mehr Land verdienen, als ich je besessen habe. Wenn du dem König oder seinem Nachfolger treu dienst mit all deinen Kräften. Es liegt ganz bei dir.«

Ælfric senkte den Kopf und fuhr sich verstohlen mit dem Ärmel über die Augen. »Ich kann nicht«, sagte er tonlos. »Die Normannen sind so seltsam. So fremd. Sie machen mir angst.«

»Ich wußte gar nicht, daß irgend etwas dir angst machen kann. Also wieso ausgerechnet die Normannen? Sie sind Menschen wie wir. Was ist mit Aliesa? Ist sie nicht immer gut zu dir? Ich glaube, du weißt überhaupt nicht, welch ein Glück du mit deiner Stiefmutter hast.« Ælfric nickte. »Doch. Ich wünschte, es wäre nicht so. Ich wünschte, sie wäre gemein und schroff wie Großmutter. Sie … sie bringt mich durcheinander.«

So, jetzt kommen wir der Sache auf den Grund, dachte Cædmon. »Warum ist dir so daran gelegen, alle Normannen zu hassen? So einfach ist die Welt nicht, weißt du. Man muß jeden Menschen einzeln betrachten.« »Aber sie haben uns überrannt. Sie unterjochen uns, und sie demütigen uns!«

Cædmon seufzte. »Ælfric, du kennst die ganze Geschichte von König Edwards Versprechen und Harold Godwinsons Wortbruch. Ich brauche dir nicht noch einmal zu erklären, wie es zu alldem gekommen ist. Aber nicht alle Normannen sind Unterdrücker. Nur die, die grundsätzlich alle Engländer hassen und verachten. So wie du glaubst, alle Normannen zu verabscheuen. Es ist dumm und kurzsichtig und beruht vor allem auf Unkenntnis. Und es nützt nichts, sich immer zu wünschen, die Dinge wären anders. Du mußt die Welt so nehmen, wie sie ist, und versuchen, sie zu verstehen. Ich glaube, du müßtest die Normannen nur besser kennenlernen.«

»Aber diese verfluchte Sprache …«

Cædmon lachte leise, hob Ælfrics Kinn mit Daumen und Zeigefinger und sah ihm ins Gesicht. »Ja, man bricht sich fast die Zunge an dieser Sprache, aber du wirst sie schon lernen. Bruder Oswald ist ein hervorragender Lehrer. Und wenn du dich anstrengst und diese Sprache gut genug beherrschst, bis der König zurückkehrt und nach mir schickt, dann nehme ich dich vielleicht mit an den Hof. Was hältst du davon?« Es war eine spontane Eingebung, aber als er einen Augenblick darüber nachdachte, stellte er fest, daß es wirklich keine üble Idee war. »Du könntest die tapfersten Krieger Englands sehen und in Prinz Rufus’ Dienst treten, wenn du willst. Dein Onkel Eadwig ist Rufus’ treuester Ritter. Er würde dir sicher unter die Arme greifen und dir helfen, dich in der normannischen Welt zurechtzufinden. Wer weiß, vielleicht kann Eadwig das viel besser als ich.«

Als der Name seines Onkels fiel, hellte sich Ælfrics Gesicht auf. Er sah seinen Vater mit großen Augen an, dann befreite er seinen Kopf und rieb sich verlegen das Kinn. »Das würdest du tun? Mich mitnehmen?« Cædmon hob kurz die Schultern. »Warum nicht?«

»Ich weiß nicht. Weil ich ein Taugenichts bin. Und meine Mutter nur eine Magd ist.« Er hob beide Hände. »Weil ich ein Bastard bin.«

Sein Vater lächelte unbeschwerter, als ihm zumute war. »Wie der König. Du siehst, deine Möglichkeiten sind beinah unbegrenzt. Deine Mutter ist eine großartige Frau, Ælfric, du solltest dir über ihren Stand keine Gedanken machen. Ja, ich werde dich mitnehmen. Wenn ich das Gefühl habe, daß du dich wirklich bemühst, nicht nur dein Normannisch, sondern vor allem deine Manieren zu verbessern. Glaub mir, kaum etwas ist wichtiger, wenn man unter Normannen zurechtkommen will. Du mußt lernen, dich zu beherrschen. Denk nach, bevor du handelst. Tu nie wieder, was du heute abend getan hast. Es war schändlich, für dich ebenso wie für mich.«

Ælfric seufzte. »Es tut mir leid.«

»Ja, das will ich hoffen.« Cædmon fuhr ihm kurz über den blonden Schopf. »Jetzt verschwinde. Leg dich schlafen, es ist spät.«

Sein Sohn nickte und sah ihn mit dem verwegenen Lächeln an, das so typisch für ihn war und das sich nie lange unterdrücken ließ. »Gute Nacht, Vater. Ich hoffe, der König schickt bald nach dir.«

Das zweite Königreich
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