Dover, März 1082

Die Tür schwang auf, und die Wache brachte eine Schale mit Essen und einen Krug.

Cædmon legte die Laute beiseite, stand auf und betrachtete die Gaben stirnrunzelnd. »Was denn, kein Brathühnchen? Ich hätte geschworen, heute sei Mittwoch.«

Der junge Soldat schlug die Augen nieder und nickte schuldbewußt. »Stimmt. Aber heute beginnt die Fastenzeit, Thane.«

Cædmon starrte ihn ungläubig an. Ein Jahr, dachte er erschüttert. Ein ganzes Jahr …

Er biß hart die Zähne aufeinander. Er hatte bis jetzt die Fassung bewahrt – sie jedenfalls vor Zeugen nicht verloren –, und es bestand kein Grund, daran etwas zu ändern, nur weil heute Aschermittwoch war. Er machte eine wedelnde Handbewegung. »Na schön. Pack dich.«

Der Junge schlich mit hängenden Schultern zur Tür, aber ehe er hinaustrat, rief Cædmon ihn zurück. »Nein, warte. Wie ist das Wetter draußen?«

»Kühl und sonnig. Es wird Frühling.«

Cædmon schnitt verstohlen eine Grimasse. »Wie schön für die Welt. Wo ist der König?«

»Auf dem Kontinent, Thane. Er hat das Maine endgültig zurückgewonnen, heißt es.«

Cædmon nickte. Gut gemacht, William, dachte er. Ich weiß nicht, was Gott an dir findet, aber er hat dich anscheinend immer noch nicht verlassen.

»Und die Prinzen?«

»Rufus und Robert haben den König begleitet. Henry ist in England geblieben. Er verbringt die meiste Zeit bei Lanfranc und Eurem Bruder in Canterbury, wird erzählt.«

Cædmon wandte den Kopf ab und starrte auf die vertraute, dunkelgraue Mauer. »Es ist gut«, beschied er. »Du kannst verschwinden.« Nachdem der junge englische Wachsoldat fort war, schalt Cædmon sich einen undankbaren Narren, weil er gerade ihn immer so schroff behandelte. Dabei war dieser Junge der einzige, der ihm gelegentlich ein paar Neuigkeiten aus der Welt erzählte, der unaufgefordert die Fackel auswechselte, der einzige, den Cædmons Los nicht völlig unberührt ließ. Er war ein freundlicher, gutartiger junger Kerl, und er hatte ein Gewissen. Aber Cædmon hatte sich noch nie die Mühe gemacht, ihn nach seinem Namen zu fragen.

Er gelobte Besserung. Er schärfte sich ein, sich zusammenzunehmen, sich nicht gehenzulassen, sich von seiner Bitterkeit nicht beherrschen zu lassen. Die Gefahr bestand durchaus. Dabei war seine Gefangenschaft wirklich zu ertragen. All die vielen Male, die er in seinem Leben in normannischen Verliesen eingesperrt gewesen war – verdient oder unverdient –, war es ihm niemals so gut ergangen wie jetzt. Er wurde vortrefflich beköstigt, bekam das gleiche Essen wie die Leute in der Halle, akzeptablen Wein und soviel Bier, wie er nur wollte. Er hatte so viel Zeug hier unten angesammelt, daß sein kleines Verlies fast davon überquoll: Decken, Kissen, eine Laute, sogar Bücher. Er wurde zweimal wöchentlich rasiert und bekam auf Wunsch Wasser, um sich zu waschen. Er hatte keinen Tag Not gelitten oder wirklich gefroren, und nur die drei oder vier Male, da er versucht hatte zu fliehen, hatten sie ihn für ein paar Tage in Ketten gelegt. Es war zu ertragen. Es war auch zu ertragen, daß er seit einem Jahr weder Sonne noch Mond, noch Himmel gesehen hatte. Daran konnte man sich gewöhnen. Man konnte sich an fast alles gewöhnen.

Was ihm hingegen unerträglich war, was ihn schier um den Verstand brachte, war der Gedanke, daß Aliesa sich seit einem Jahr grämte, daß sie nachts wachlag und sich fragte, was in aller Welt aus ihm geworden sein mochte. Ihre Sorge, ihr Kummer, ihre Trauer. Und daß niemand ihm sagen konnte oder wollte, wie es ihr ging, ob er einen vierten Sohn oder eine Tochter hatte. Oder ob seine Frau vielleicht im Kindbett gestorben war. Oder ob sie ihn aufgegeben hatte und sich allmählich nach einem Stiefvater für ihre Kinder umschaute. So vieles konnte in einem Jahr passieren, und er wußte nichts. Auch sein junger englischer Wärter konnte oder wollte ihm nicht erzählen, was es Neues in Helmsby gab.

Er verzehrte sich nach seiner Frau. Es war schlimmer als je zuvor, denn früher war seine Sehnsucht nach Aliesa immer wie der Griff nach den Sternen gewesen. Doch jetzt gehörte sie ihm an, so wie er ihr, und in seiner grenzenlosen Einfalt hatte er geglaubt, daß nur Gott sie je wieder auseinanderreißen könnte. Statt dessen hatte Odo es getan. Eiskalt, berechnend, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern hatte er sie seinem Ehrgeiz geopfert, seiner schier unstillbaren Gier nach Macht. Manchmal haßte Cædmon ihn so sehr, daß ihm ganz elend davon wurde. Ein Gefühl wie eine kalte Taubheit breitete sich dann in seinem Innern aus, das ihn vollkommen lähmte. An anderen Tagen war er überzeugt, daß Odo nur ein Werkzeug in Gottes unergründlichem Plan war und daß er, Cædmon, immer noch den Preis dafür bezahlte, daß er sich genommen hatte, was ihm nicht zustand.

So oder so, ganz gleich, aus welchem Winkel er die Dinge betrachtete, jeder Gedanke endete in Verzweiflung. Aber dieses Mal ergab er sich ihr nicht. Sie begleitete ihn Tag und Nacht, lauerte auf jeden Moment der Schwäche, um ihn zu überwältigen, aber noch leistete er Widerstand. Er aß und trank auch dann, wenn er keinen Appetit hatte. Er spielte die Laute, beschäftigte seine Gedanken, las in der englischen Bibel und den anderen Büchern, die sie ihm gebracht hatten, und vor allem ließ er nicht zu, daß sein Körper träge wurde. Das fensterlose Kellerloch, in das sie ihn gesperrt hatten, maß sieben Schritte. Von morgens bis er schätzte, daß Mittag war, ging er auf und ab, immer auf und ab, vielleicht tausend Mal. Nach ein paar Wochen hatte er gelernt, auf den Händen zu gehen. Anfangs schien es unmöglich, aber er hatte nicht aufgegeben und ließ sich nicht entmutigen, und die Herausforderung hatte ihn tagelang beschäftigt und beflügelt. Als er diese akrobatische Kunst schließlich beherrschte, legte er vielleicht ein Zehntel seines täglichen Marsches auf diese Weise zurück. Und er tat alles, um zu verhindern, daß er wieder krank wurde. Seine Wurfhand war so sicher wie eh und je, und keine Ratte, die sich in sein Quartier wagte, blieb lange am Leben. Er hatte schon so manchen hölzernen Trinkbecher bei der Rattenjagd zertrümmert, aber er bekam immer einen neuen.

Und bei jeder Gelegenheit hatte er versucht zu entwischen. Doch die Gelegenheiten wurden spärlicher, denn die Wachen waren vorsichtig geworden. Sie drehten ihm nicht mehr den Rücken zu. Beim letzten Mal hatte er einem von ihnen die Nase eingeschlagen und war fast bis zum oberen Ende der Treppe gekommen, ehe sie ihn einholten. Seither kamen sie meist zu zweit, und Odo ließ ihm ausrichten, daß beim nächsten Fluchtversuch mit allen Vergünstigungen Schluß sei. Das war die einzige Nachricht, die er von Odo gehört hatte. Ansonsten zeigte der Bischof wenig Interesse an Cædmon, ließ sich vor allem niemals blicken. Er war jetzt auch öfter für längere Zeit abwesend, hatte der junge Engländer Cædmon erzählt. Vermutlich, um seine wachsende Armee auf der Isle of Wight zu inspizieren, dachte Cædmon. Oder vielleicht auch in Helmsby, um Aliesa Trost zu spenden und vielleicht doch noch Einlaß in ihr Bett zu finden. Und wenn er das dachte, wollte er alles kurz und klein schlagen und mit den blanken Fäusten auf die schwere Eichentür losgehen. Statt dessen lief er auf den Händen, bis seine Arme zu zittern begannen und seine Ellbogen schließlich einknickten und er keuchend und schwitzend und völlig ausgepumpt auf dem kalten, festgestampften Boden lag.

Ein Tag hier unten war wie vierzig, vierzig Tage wie einer. Als die Wache ihm eines Abends Lammbraten, frisches, weiches Weizenbrot und Speckpfannkuchen brachte, starrte er verwundert darauf.

»Du meine Güte … Soll das heißen, wir haben schon Ostern?« fragte er ungläubig.

Der Mann nickte, lehnte die Tür an und stellte das Tablett mit den verführerisch duftenden Speisen auf einen Schemel. Dann stand er mit herabbaumelnden Armen da und sah unverwandt auf Cædmon hinab. »Was starrst du mich so an? Wer bist du überhaupt? Neu hier, was? Bist du gekommen, um den größten Toren unter der Sonne zu begaffen, einen englischen Thane, der glaubte, er könne sich gegen die Willkür des mächtigen Earl of Kent zur Wehr setzen?«

Der Wachsoldat räusperte sich, riß sich den Helm vom Kopf und sank auf die Knie. »Thane …«

Cædmon sprang auf die Füße, unterdrückte mit Mühe einen Ausruf des Erstaunens und flüsterte statt dessen: »Odric …«

»Es ist alles meine Schuld, Thane. Das … das hab ich wirklich nicht gewollt. Wenn ich geahnt hätte …«

Mit einem Schritt hatte Cædmon ihn erreicht, packte ihn am Arm und zog ihn auf die Füße. »Bist du verrückt, Mann, steh auf.« Er schloß seinen Housecarl in die Arme, kniff die Augen zu und versuchte ohne den geringsten Erfolg, die Hoffnung niederzuringen, die plötzlich in ihm aufkeimte, und die ihm vorgaukeln wollte, ihm seien Flügel gewachsen. »Nichts ist deine Schuld. Wie kommst du hierher? Was tust du hier?« Odric hatte den Kopf gesenkt und wischte sich verstohlen über die Augen. Cædmon rang um Geduld, füllte einen Becher mit Bier und reichte ihn dem jungen Mann. »Hier, trink. Und erzähl. Leise.«

Als Odric auf der Isle of Wight an Land gegangen war, hatte der Kapitän des Schiffes ein paar Soldaten befohlen, ihn zu ergreifen und fortzuschaffen, berichtete er wispernd. Er kam nie zurück zu dem Gut, wo die Truppe zusammengezogen wurde, sondern war genau wie Cædmon das ganze letzte Jahr eingesperrt gewesen. Vor ein paar Tagen war er geflohen. Ein Fischer hatte ihn mit seinem Boot übergesetzt, kostenlos, nur um den Normannen ein Schnippchen zu schlagen, wie er sagte. Odric hatte ein Pferd gestohlen, war nach Canterbury zu Guthric geritten und hatte ihm das wenige erzählt, was er wußte.

»Guthric hat zwei und zwei zusammengezählt und sagte, er könnte sich vorstellen, wohin Ihr so spurlos verschwunden wäret. Wir sind hergekommen, haben uns in den Schenken ein bißchen umgehört, einen der Soldaten des Earl in einen dunklen Winkel gelockt, und ich hab mir seine Uniform … geborgt und mich hier eingeschlichen.« Er drückte Cædmon den Helm in die Hand, löste den Umhang, der das Emblem der Burgwache trug, und zog das Kettenhemd über den Kopf. »Hier. Zieht die Sachen an. Guthric wartet in der Stadt auf Euch, ich erklär’ Euch den Weg.«

»Nein, Odric. Entweder wir gehen zusammen oder gar nicht.«

Odric schüttelte wild den Kopf. »Das ist ausgeschlossen. Nur einer kann raus, ohne diese Verkleidung hier haben wir keine Chance. Geht, Thane, ich bitte Euch. Guthric sagt, sobald Ihr frei seid, wird es nur ein paar Tage dauern, bis Odos Plan aufgedeckt ist. Solange werd’ ich’s schon hier aushalten.« Er wies grinsend auf das Abendessen. »Vor allem bei der Beköstigung.«

Cædmon rührte sich nicht. Wenn entdeckt würde, wer ihm zur Flucht verholfen hatte, dann war es ganz gewiß kein Festmahl, das Odric winkte. »Warum hat Guthric keine Soldaten mitgebracht? Dem König keinen Boten geschickt?«

»Es ging nicht. Bitte, Thane, Ihr müßt jetzt wirklich gehen. Guthric wird Euch alles erklären. Aber Ihr müßt Euch beeilen.«

Cædmon zog die Sachen an, die sein Housecarl ihm anreichte, schlich zur Tür und lauschte. Dann nickte er Odric zu. »Leg dich mit dem Gesicht auf den Boden. Versuch, möglichst tot auszusehen. Wenn ein paar Beine in deine Nähe kommen, werd wieder lebendig und bring sie zu Fall. Es sei denn, es sind meine.«

»Thane …«, flehte Odric verzweifelt.

»Tu, was ich dir sage!« zischte Cædmon, und Odric tat, was er seit Jahren getan hatte, was natürlich für ihn war und wobei er sich am sichersten fühlte: Er gehorchte.

Als er reglos auf der Erde lag, öffnete Cædmon die Tür und rief: »He, könnt ihr mir mal helfen? Ich glaub’, hier stimmt was nicht!«

Ohne besondere Eile kamen zwei normannische Soldaten aus der nahen Wachkammer herbeigeschlendert, einer hielt einen Becher in der Hand. Cædmon ließ sie über die Schwelle treten, stieß dann die Tür zu, riß dem, den er als ersten zu fassen bekam, den Helm vom Kopf und schlug ihn mit der geballten Rechten auf die Schläfe. Der Mann sackte lautlos in sich zusammen, als der zweite sich von hinten auf Cædmon stürzte. Dieser bekam einen Tritt in die Kniekehle, taumelte gegen die Wand, und vermutlich hätte es nicht gut für ihn ausgesehen, aber dann griff Odric ins Geschehen ein, und im Handumdrehen lag auch der zweite Normanne reglos am Boden.

Cædmon machte eine einladende Geste. »Siehst du, so einfach ist das. Such dir einen von beiden aus, ich denke, der Schwarzhaarige hat eher deine Statur …«

In Windeseile war auch Odric mit der Uniform der Burgwache bekleidet, und unbehelligt hasteten sie den niedrigen Gang entlang, die Treppe hinauf und hinaus in den Hof.

Es war fast dunkel. Cædmon blieb stehen, legte den Kopf in den Nacken und entdeckte ein paar Sterne am wolkenlosen Himmel. Ein sanfter Abendhauch strich über sein Gesicht. Er trug das eigentümliche, vertraute Gemisch aus Seebrise und Hafengestank. Cædmon atmete ein paarmal tief durch.

Odric sah sich nervös um, mahnte aber nicht zur Eile. Es war erst fünf Tage her, daß er genauso unter dem Abendhimmel gestanden hatte. Dann nickte Cædmon ihm zu. »Komm.«

Ohne verdächtige Eile, aber auch nicht unnötig langsam überquerten sie den Hof.

»Wo soll’s denn hingehen?« fragte die Torwache auf normannisch.

Cædmon wandte sich um und ging rückwärts weiter. »Wohin gehst du denn zu Ostern, wenn du dienstfrei hast? In die Kirche, natürlich.« Der Soldat lachte. »Ja, darauf wette ich.«

Als sie das Tor hinter sich hatten, atmeten sie beide tief durch, tauschten ein Grinsen und rannten ein Stück. Bald erreichten sie die ersten Häuser der Stadt. Guthric wartete vor einem großen Kaufmannshaus. Als er sie kommen sah, trat er aus dem Schatten der Toreinfahrt und umarmte seinen Bruder.

»Cædmon … Gott sei gepriesen. Und Odric. Ich gebe zu, ich bin erleichtert, daß du nicht zurückbleiben mußtest. Kommt, laßt uns hier nicht auf der Straße rumtrödeln. Wenn eure Flucht bemerkt wird, werden sie die Stadt durchkämmen.«

Sie folgten ihm die Straße hinunter. »Wohin gehen wir?« erkundigte Cædmon sich, und er mußte wieder und wieder zum Himmel aufsehen, der mit jeder Minute seine Farbe änderte.

»Zum Hafen«, antwortete sein Bruder.

Cædmon blieb stehen. »Ich fahre nirgendwohin, ehe ich meine Frau nicht gesehen habe.«

Guthric warf ihm einen Seitenblick zu und lächelte. »Nein, das habe ich mir gedacht. Komm. Je schneller du dich bewegst, um so eher siehst du sie.«

»Sie ist hier?« Er packte Guthric am Arm und zerrte ihn vorwärts. »Wo? Wie geht es ihr? Was ist mit dem Kind?«

Guthric machte sich lachend los. »Du rennst in die falsche Richtung, Cædmon. Hier müssen wir links. Es geht ihr gut. Zumindest wird es das, sobald sie sieht, daß du in Sicherheit bist. Das Kind ist ein Mädchen. Die Königin hat sich erboten, Pate zu stehen, und so haben sie deine Tochter Matilda genannt. Da sind wir. St. Edmund.«

Es war eine alte, unscheinbare Kirche in einem ärmlichen Viertel. Cædmon stieß das Portal auf, so daß es beinah aus den morschen Angeln riß, und stürmte hinein. Guthric und Odric warteten draußen. Aliesa kniete vor dem Altar. Er sah ihre Silhouette vor den zwei oder drei Kerzen, die darauf brannten. Als sie die Tür hörte, wandte sie den Kopf, kam in einer fließenden, graziösen Bewegung auf die Füße und lief ihm entgegen. Die Kirche war klein; mit vier oder fünf Schritten hatten sie sich erreicht, und Aliesa schlang die Arme um seinen Hals und preßte das Gesicht an seine Schulter. Cædmon drückte sie an sich, schärfte sich ein, ihr nicht wieder die Luft abzuschnüren, und dachte, daß dies wohl das wunderbarste Gefühl auf der Welt war, seine Frau an Hals und Armen, an der Brust, fast an seinem ganzen Körper zu spüren. »Cædmon …« Es klang erstickt.

Er legte einen Finger unter ihr Kinn und hob ihren Kopf, küßte ihre Tränen weg, ehe er sich mit Hingabe ihrem Mund widmete.

»Es tut mir so leid, Aliesa«, sagte er schließlich. »Wäre ich nicht so unglaublich dumm gewesen, hätte ich dir all diesen Kummer ersparen können. Aber ich …«

Sie legte einen Finger auf seine Lippen und schüttelte den Kopf. Sie weinte nicht mehr, aber sie drängte sich immer noch an ihn, als müsse sie sich mit ihrem ganzen Körper vergewissern, daß er wirklich wieder da war. »Das ist jetzt alles ganz gleich. Du bist wieder da. Nur das zählt. Alles ist gut.«

Alles ist gut. Wie wunderbar das klang. Und wenigstens ein paar Minuten wollte er sich vorgaukeln, es sei wahr. Er sah in ihr Gesicht hinab, strich mit den Daumen über ihre Schläfen und bat: »Erzähl mir von Matilda.«

Aliesa lächelte unwillkürlich. »Sie ist das schönste kleine Mädchen, das du dir vorstellen kannst. Und so brav. Sie weint niemals. Die Amme steht jede Nacht dreimal auf, um zu sehen, ob sie noch lebt, weil man nie etwas von ihr hört.«

»Wie sieht sie aus?«

»Wie du. Sie ist dein Ebenbild. Und Richard spricht, Cædmon. Er vergöttert seine kleine Schwester und folgt der Amme wie ein Schatten, wohin sie sie auch trägt, und von früh bis spät redet er.«

Gott, ich will nach Hause, dachte er. Die Sehnsucht nach seinen Kindern und seinem Heim war so übermächtig, daß er nicht wußte, was er ihr entgegensetzen sollte. Aliesa berichtete ihm auch von Wulfnoth, von Alfred und Irmingard und deren Kindern, und er fragte und hörte ihr zu, bis endlich alles gesagt schien, und sie schwiegen eine Weile.

Dann sah sie ihm in die Augen. »Erzähl mir, was passiert ist.«

Er beschränkte sich auf zwei, drei Sätze. Odrics nächtlicher Besuch in seinem Quartier, seine anschließende Konfrontation mit Odo und deren Ausgang.

Sie schüttelte langsam den Kopf. »Ich kann es immer noch nicht begreifen. Er war jahrelang mein Beichtvater. Er war immer unser Freund. Und er ist in den letzten Monaten dreimal bei mir gewesen, um mir Trost zu spenden. Wie kann ein Mann so falsch sein?«

Cædmon strich über ihre Oberarme und Schultern. »Oh, ich bin sicher, er wollte dir Trost spenden. Vermutlich hatte er ein wirklich schlechtes Gewissen dir gegenüber. Was hat er überhaupt gesagt? Wie hat er erklärt, daß ich in Dover … abhanden gekommen bin?«

»Als du ein paar Tage fort warst, schickte der König einen Boten zu Odo, um zu fragen, wo du bleibst. Und der Bischof tat ganz verwundert und unschuldig und berichtete, du seiest gleich am nächsten Morgen nach Winchester zurückgeritten. Der König hat dich suchen lassen. Tagelang.«

»Wie schmeichelhaft …«

»Rufus und Eadwig fanden dein Pferd im Neuen Forst. Wir dachten, Banditen hätten dich überfallen. Doch William wollte nichts davon hören, er sagte, du seist kein Mann, der einfach so unter die Räuber fällt. Und Eadwig meinte, es wären seltsame Banditen, die ein kostbares Pferd zurücklassen. Aber …« Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Du meine Güte, sieh mich an. Entschuldige, Cædmon. Es ist die Erleichterung, nichts weiter. Es war eine meiner finstersten Stunden, als sie dein Pferd reiterlos zurückbrachten. Doch ich habe nie geglaubt, daß du tot bist.«

Er konnte sich vorstellen, wie es für sie gewesen war. Die Angst, die Ungewißheit und die lauernden, hämischen Blicke derer bei Hofe, die glaubten, sie bekomme nur, was ihr zustand. Er küßte sie wieder, gierig diesmal, im wahrsten Sinne lustvoll, um sie auf andere Gedanken zu bringen und um anzudeuten, daß er nichts dagegen hätte, sie hier und jetzt auf den festgestampften Lehmboden hinabzuziehen und sie zu lieben, Kirche oder nicht.

Sie lachte atemlos, als ihre Lippen sich voneinander lösten, lehnte die Stirn an seine Schulter und fragte: »Guthric sagt, du mußt noch heute nacht fort?«

»Guthric scheint mit der gleichen Selbstverständlichkeit über mich zu verfügen wie der König«, erwiderte er bissig. »Ich gehe nirgendwohin. Ich hab genug, wirklich.«

Mit einem diskreten Räuspern trat Guthric aus dem Schatten und kam auf sie zu. Cædmon dachte flüchtig daran, daß Odo einmal gesagt hatte, Guthric habe ein Talent, unsichtbar zu sein und darum alles zu hören, was nicht für seine Ohren bestimmt war.

»Cædmon, du mußt gehen«, sagte sein Bruder leise, aber beschwörend. »Ich kann dich verstehen, wirklich, aber dies ist unsere verzweifeltste Stunde. Wenn der König seinen Bruder nicht aufhält, dann wird es eine Katastrophe geben. Odo kann jetzt jeden Tag in See stechen, und das müssen wir um jeden Preis verhindern.«

»Ich weiß doch noch nicht einmal, was er vorhat«, wehrte Cædmon ab.

»Aber ich.«

»Dann fahr du doch zu William.«

»Mir wird er nicht glauben. Es ist zu … monströs.«

Cædmon raufte sich die Haare und holte tief Luft. »Was ist es?«

Guthric antwortete nicht gleich. Er lehnte sich mit einer Schulter an einen steinernen Pfeiler, sah erst Aliesa und dann Cædmon an und erklärte: »Odo glaubt, er sei auserwählt, Papst zu werden.«

Sie schwiegen betroffen.

»Als er vor vier Jahren zum erstenmal in Rom war, hat ein Wahrsager prophezeit, der nächste Papst werde den Namen Odo tragen«, fuhr Guthric fort.

»Ich bin sicher, das hat ihn sehr erfreut«, warf Cædmon höhnisch ein. »Das glaube ich auch. Bei seiner nächsten Pilgerfahrt in die Ewige Stadt hat der Bischof dort einen Palast erworben, prunkvolle Feste für den römischen Adel gegeben und viele Freundschaften geschlossen. All das haben wir gewußt und mit einiger Besorgnis beobachtet, aber Lanfranc sagte zu Recht, daß niemand Odo hindern könne, der Erfüllung dieser Weissagung mit legitimen Mitteln ein wenig nachzuhelfen. Immerhin könnte uns Schlimmeres passieren, als einen Normannen auf dem Stuhl Petri zu haben. Kein Papst lebt ewig, nicht einmal Gregor, und es kann nicht schaden, an die Zukunft zu denken.«

Guthric legte eine bedeutungsvolle Pause ein. Cædmon schwieg trotzig, doch Aliesa fiel ihm unwissentlich in den Rücken, als sie gespannt fragte: »Aber?«

»Seit zwei oder drei Jahren hat Odo allem Anschein nach einen unstillbaren Geldbedarf. Er hat seine Grafschaft zunehmend ausgeplündert, hat auch vor Klöstern und Kirchen nicht haltgemacht. Dergleichen hat er früher niemals getan. Man neigt dazu, es zu vergessen, aber er ist und bleibt ein Bischof, und er ist ein sehr frommer Mann. In den letzten Monaten hat er sich regelmäßig mit verschiedenen normannischen Adligen getroffen, sowohl in England als auch auf dem Kontinent. Unter anderem mit dem Earl of Chester, der aufgrund seiner Nähe zur walisischen Grenze eine große Truppe unterhält. Das alles hat Lanfranc … beunruhigt. Wir wußten es nicht so recht zu deuten. Bis Odric gestern zu mir kam und berichtete, was auf der Isle of Wight vor sich geht. Da ergab auf einmal alles einen Sinn.«

»Du meinst, Odo wolle mit einer Streitmacht nach Rom ziehen und Papst Gregor stürzen?« fragte Cædmon fassungslos.

»Es wäre weiß Gott nicht das erste Mal, daß so etwas passiert«, antwortete Guthric. »Gregor ist ein Autokrat …«

»Ein was?« unterbrach Cædmon.

»Jemand, der ganz allein herrschen will. Er hat viele Feinde. Für einen klugen Strategen wäre es ein leichtes, sie zu mobilisieren.«

»Odo ist ein kluger Stratege«, bemerkte Aliesa.

Guthric nickte. »Darum muß ihm Einhalt geboten werden, ehe er Gelegenheit bekommt, seine Pläne in die Tat umzusetzen. Ich bin sicher, er hat alles minutiös vorbereitet. Schon allein die Tatsache, daß er unter unserer Nase eine Armee aufstellen konnte, ohne daß wir das geringste davon erfahren haben, beweist seine Klugheit. Ich hätte geschworen, so etwas sei unmöglich.« Er schüttelte den Kopf, als könne er es immer noch nicht so recht fassen. »Ich hätte geschworen, in England geschehe nichts, was Lanfranc nicht weiß. Darum mußt du heute nacht den Kanal überqueren und den König aufsuchen und es ihm erklären, Cædmon. Das ist etwas, das wirklich nur du tun kannst.« Cædmon stand reglos mit verschränkten Armen da, seine ganze Haltung drückte Ablehnung aus.

Aliesa trat zu ihm und legte ihm mitfühlend die Hand auf den Arm. »Guthric hat recht, Cædmon. Du mußt es tun.«

Er sah sie an, nickte und zog unbehaglich die Schultern hoch. »Gott … wie William mich hassen wird für diese Nachricht.«

Das zweite Königreich
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