Helmsby, Juni 1079
Der Burghof lag ungewohnt verlassen unter dem wolkenverhangenen Himmel. Eine Schar Hühner pickte lustlos im Gras, aber kein Mensch war zu sehen.
»Wir kommen zu spät«, murmelte Cædmon beklommen.
Vor dem Pferdestall saßen sie ab. Weder der alte Edgar noch dessen Sohn Ine erschien, um ihnen die Tiere abzunehmen, nur Grim, Cædmons zottiger, grauer Jagdhund, kam schnaufend aus dem Schatten des Stalltors in den Nieselregen hinaus, und als er Cædmon entdeckte, wedelte seine mächtige Rute, und mit einem leisen Winseln legte er sich seinem Herrn zu Füßen.
Cædmon fuhr ihm mit der Rechten kurz über die lange Schnauze. »Treuer Grim. Nach so langer Zeit erkennst du mich wieder. Du bist ein alter Knabe geworden, was?«
Der Hund sah ergeben zu ihm auf, und als Cædmon sich abwandte, um Aliesa aus dem Sattel zu helfen, kam er mit einem Satz auf die Beine, sprang übermütig um sie herum und beschnüffelte mit vornehmer Zurückhaltung Aliesas Kleidersaum.
Cædmon band die Pferde an und nahm ihren Arm. »Laß uns hineingehen. Komm nur mit, Grim.«
Er führte sie zur Zugbrücke, und die Torwachen machten große Augen, als sie ihn entdeckten.
»Thane! Willkommen daheim. Wir hatten keine Nachricht, daß Ihr kommt«, begrüßte der junge Odric ihn freudestrahlend. Dann verdüsterte sich seine Miene, und er zog unbehaglich die Schultern hoch. »Ich fürchte nur …«
Cædmon hob die Hand. »Ich weiß. Odric, Elfhelm, das ist meine Frau, Aliesa de Ponthieu.«
Die Housecarls erinnerten sich sehr wohl an die schöne Normannin, die vor einigen Jahren hier zu Besuch gewesen war, aber wenn es sie verwunderte, daß aus der Frau des Sheriffs von Cheshire inzwischen die Frau ihres Thane geworden war, ließen sie es sich jedenfalls nicht anmerken. Sie verneigten sich ehrerbietig.
»Dann seid auch Ihr willkommen daheim, Lady«, begrüßte Odric sie mit seinem charmanten Lächeln.
Sie fand es ausgesprochen merkwürdig, von einer Torwache willkommen geheißen zu werden, aber natürlich wußte sie, daß dies zu den vielen Dingen gehörte, die hier anders waren, und daß die Housecarls in einem kleinen, überschaubaren Haushalt mehr oder weniger zur Familie gehörten.
»Hab vielen Dank, Odric«, erwiderte sie in beinah akzentfreiem Englisch.
Dann legte sie die Hand wieder auf Cædmons Arm, und dicht gefolgt von Grim überquerten sie die Zugbrücke und stiegen die Außentreppe zur Halle hinauf.
Odo, Hyld, Guthric, Alfred und Irmingard und Onkel Athelstan saßen mit Hylds und Cædmons Söhnen an der hohen Tafel. Vor ihnen stand Helen, die Köchin, und tranchierte einen goldbraun gebratenen Fasan. An den Längstischen saßen die Housecarls mit ihren Familien, weiter unten die Mägde und Knechte. Die Stimmung war gedrückt, man unterhielt sich gedämpft, und so hallte Ælfrics Stimme unglaublich laut durch den hohen Saal: »Vater!«
Er sprang auf, dann besann er sich, schlug die Hand vor den Mund und murmelte: »Entschuldigung.«
Immerhin macht er Fortschritte, dachte Cædmon und lächelte seinen Söhnen flüchtig zu, als er mit Aliesa die Halle durchschritt und die hohe Tafel umrundete. Vor Odo machten sie halt.
Cædmon verneigte sich tief.
Odo, Hyld und Guthric hatten sich erhoben. Der Bischof sah von Cædmon zu Aliesa und schüttelte mit einem leisen Seufzen den Kopf. Ehe er irgend etwas sagen konnte, trat Hyld zu ihrem Bruder und schloß ihn in die Arme.
»Cædmon. Ich bin so glücklich, daß du zu Hause bist.« Er spürte ihre Tränen an seinem Hals. »Mutter ist tot.«
Obwohl er es geahnt hatte, war er erschüttert. Er biß die Zähne zusammen, fuhr seiner Schwester übers Haar und küßte sie auf die Wange, ehe er sie losließ und seinen Bruder umarmte.
»Was …«, Cædmon mußte sich räuspern, »was ist passiert?«
»Lungenfieber«, erklärte Guthric knapp.
Alfred war hinzugetreten und klopfte Cædmon die Schulter. »Es hat schon im Winter angefangen«, sagte er. »Eigentlich war sie schon seit Jahren kränklich.«
»Sie wollte nicht mehr«, raunte Onkel Athelstan seinem leeren Becher zu. »Sie wollte schon lange nicht mehr, schon seit Ælfric fiel. Die verfluchten Normannen sind an allem schuld.«
Alfred stöhnte. »Vater, bitte …«
Cædmon legte seinem Onkel zum Gruß kurz die Hand auf die Schulter, ehe er wieder zu Odo und Aliesa trat, die leise miteinander sprachen. »Ich danke Euch, daß Ihr gekommen seid, um meiner Mutter Trost zu spenden, Monseigneur. Jetzt in des Königs Abwesenheit wart Ihr in Dover sicher schwer abkömmlich.«
Odo winkte ab. »Das war das mindeste, das ich für sie tun konnte. Sie war eine großartige Frau, ich habe sie sehr verehrt. Außerdem hat der ehrwürdige Erzbischof Lanfranc das Reich fest in der Hand. Ich bin überzeugt, auf Euren Bruder Guthric kann er schlechter verzichten als auf mich.« Er wurde wieder ernst. »Es tut mir leid, Cædmon.«
»Danke.«
Ælfric und Wulfnoth standen ein paar Schritte entfernt, traten ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, wagten sich aber nicht näher. Aliesa wandte sich ihnen schließlich zu, stützte die Hände auf die Oberschenkel und studierte ihre Gesichter. »Ist dieser wackere kleine Ritter tatsächlich Wulfnoth of Helmsby?« fragte sie scheinbar ungläubig.
Der kleinere der beiden Jungen nickte scheu. »Ja, Lady.«
»Erinnerst du dich an mich?«
Er schüttelte den Kopf.
»Nun, es ist vier Jahre her, daß wir uns gesehen haben, du warst halb so alt wie heute. Aber damals waren wir gute Freunde.«
Wulfnoth senkte schüchtern die Lider und fand nichts zu sagen.
Cædmon trat hinzu und sagte, was alle Väter nach langer Abwesenheit zu ihren Söhnen sagten: »Ihr seid groß geworden.«
Ælfric, der im letzten Monat zehn Jahre alt geworden war, hatte tatsächlich schon die kindlichen Rundungen abgelegt; seine langen, muskulösen Beine waren eher die eines unermüdlichen Athleten denn die eines Kindes.
»Alfred unterrichtet mich im Umgang mit der Streitaxt«, berichtete er stolz.
Cædmon legte jedem der Jungen eine Hand auf die Schulter. »Ich bin sicher, du machst dich prächtig. Sag Aliesa guten Tag, Ælfric. Sie ist … na ja, ich schätze, sie ist so etwas wie deine Stiefmutter.«
Ælfric verneigte sich höflich, gab jedoch zu bedenken: »Aber meine Mutter lebt doch noch.«
Cædmon warf unwillkürlich einen unbehaglichen Blick in Odos Richtung und sagte leise: »Ich würde sagen, das eine schließt das andere nicht aus, Ælfric, doch wir werden später noch in Ruhe darüber reden.« Er wandte sich an Wulfnoth. »Und was meinst du?«
Der jüngere der Brüder schrumpfte unter dem forschenden Blick seines Vaters sichtlich in sich zusammen. »Wo ist Prinz Henry?« fragte er leise. »In Rouen. Aber er wird bald heimkommen.«
Wulfnoth nickte, dann hob er den Blick und sah seinem Vater in die Augen. »Großmutter ist gestorben.«
Cædmon fuhr ihm mit der Linken durch den dunkelblonden Schopf. »Ich weiß. Sei nicht so traurig, Wulfnoth. Wir alle müssen irgendwann sterben, und deine Großmutter war eine alte, kranke Frau. Jetzt ist sie im Himmel und darf Gott in seiner Herrlichkeit schauen.«
»Ich bin nicht traurig«, eröffnete sein Sohn ihm in kindlicher Ehrlichkeit. »Sie konnte uns nicht leiden und hat nie mit uns gesprochen. Sie hat mir angst gemacht. Ich bin froh, daß sie in der Erde liegt und nicht mehr über uns schimpfen kann.«
Cædmon war schockiert. Er wußte beim besten Willen nicht, was er darauf sagen sollte. Daß seine Mutter gestorben war, erschreckte ihn; auf einmal fühlte er sich steinalt. Und er trauerte um die kühlen Hände, das ungestüme Temperament und die unkritische Mutterliebe, die seine Kindheit so reich und so sicher gemacht hatten. Aber er konnte die Augen nicht vor der Erkenntnis verschließen, daß er im Grunde ebenso erleichtert war wie Wulfnoth. Ein Zusammenleben mit seiner Mutter wäre niemals einfacher geworden, schon gar nicht für Aliesa. Marie hätte sie nie vergessen lassen, wie sie über ihre Ehe dachte, und Aliesa wäre aufgrund ihrer Erziehung und ihres Wesens unfähig gewesen, sich gegen diese Attacken zur Wehr zu setzen.
Wulfnoth kam den halbherzigen Vorhaltungen seines Vaters zuvor, indem er mit bangen Augen fragte: »Es ist böse, so etwas zu denken, nicht wahr?«
Cædmon sah die Angst in den großen blauen Kinderaugen und spürte, wie es eng um seine Brust wurde. Er liebte seine beiden Söhne gleichermaßen, aber Wulfnoth erweckte immer einen eigentümlich heftigen Drang in ihm, ihn mit Klauen und Zähnen gegen die Welt zu verteidigen. »Ich glaube, man kann nichts für die Dinge, die einem so durch den Kopf gehen, weißt du. Und es war gewiß nicht recht von deiner Großmutter, daß sie keine Liebe für euch hatte und dich und Ælfric für Dinge büßen ließ, die nicht eure Schuld waren. Aber es gibt eine Regel, die besagt, daß man über die Toten nichts Schlechtes sagen darf. Wenn einem nichts Gutes einfällt, sagt man besser gar nichts, verstehst du.« Wulfnoth nickte ernst und sah ihn unverwandt an. »Bleibst du jetzt hier, Vater? Oder mußt du wieder fortgehen?«
Cædmon war verwundert und nicht wenig geschmeichelt, daß dem Jungen offenbar soviel daran lag. Bis auf das knappe Jahr, das sie zusammen an Odos Hof in Dover gewesen waren, hatten sie schließlich nie zusammen gelebt; Hengest der Müller hatte eine weitaus größere Rolle in Wulfnoths jungem Leben gespielt als Cædmon.
»Vorläufig bleibe ich erst einmal hier. Ihr habt mir gefehlt, weißt du. Und wenn der König nach England zurückkommt und nach mir verlangt … nun, was dann werden soll, überlegen wir uns, wenn es soweit ist. Und jetzt setz dich wieder an deinen Platz und iß auf. Das gilt auch für dich, Ælfric.«
Sein Vetter Alfred hatte inzwischen ein paar Anweisungen gegeben, und zwischen Odo und Guthric waren in der Mitte der hohen Tafel zwei Sessel aufgestellt worden.
Cædmon führte Aliesa an ihren Platz und setzte sich neben sie. Als er nach seinem Becher griff, stellte er fest, daß jedes Augenpaar in der Halle auf ihn gerichtet war. Er verharrte mit dem Becher auf halbem Weg zum Mund und stellte ihn dann wieder ab.
»Heute ist ein Trauertag in Helmsby«, begann er, nicht laut, aber es war so vollkommen still, daß man seine Stimme auch am gegenüberliegenden Ende der Halle deutlich hören konnte. »Und es wäre respektlos der Verstorbenen gegenüber, von anderen Dingen als ihrem Andenken zu sprechen. Ihr alle wißt, was für eine Frau meine Mutter war, so manchen von euch hat sie genau wie mich von Verwundungen und Krankheiten geheilt, hat eure Kinder auf die Welt geholt, eure Väter und Mütter fürsorglich bis zu der Schwelle begleitet, die sie nun selbst überschritten hat. Sie hat dafür gesorgt, daß auch in schlechten Jahren keiner von uns Hunger leiden mußte und wir alle jeden Abend an ein warmes Feuer heimkehren konnten. Darum bin ich sicher, ihr werdet meiner Bitte bereitwillig folgen und für die Seele meiner Mutter beten. Und ihr sollt wissen, daß Gott es so gefügt hat, daß die Halle von Helmsby keinen Tag ohne Herrin sein soll.« Er sah mit einem fast schüchternen Lächeln zu Aliesa, nahm ihre Hand und führte sie einen Moment an die Lippen. »Dies ist Aliesa de Ponthieu, meine Frau. Und wer von euch mir ergeben ist, wird sie willkommen heißen und ihr ebenso treu dienen wie mir. Ja … das ist alles, schätze ich.«
Einen Augenblick herrschte unsichere Stille. Dann erhob sich der alte Cynewulf, der schon Cædmons Vater gefolgt war. Sein weißes Haar war dünn geworden, fiel aber auf immer noch breite, aufrechte Schultern, und seine meergrauen Augen waren klar und scharf. »Ihr habt recht, Thane, der heutige Tag gehört dem Andenken Eurer Mutter. Erlaubt mir trotzdem, Euch und Eure Braut daheim willkommen zu heißen. Gott segne den Thane und die Lady Aliesa und schenke ihnen ein langes Leben und ein Dutzend gesunder Kinder.«
Mit einem verschmitzten Lächeln hob er seinen Becher, und alle an der Tafel Versammelten murmelten Zustimmung und folgten seinem Beispiel. Cædmon nickte Cynewulf seinen Dank zu und sah aus dem Augenwinkel, daß Aliesa dem treuen Housecarl ein so strahlendes Lächeln schenkte, daß sich auf den alten Wangen eine feine Röte ausbreitete.
Odo lehnte sich zu Cædmon hinüber und raunte: »Das habt Ihr fabelhaft gemacht, Thane. Aber habt Ihr nicht eine Kleinigkeit vergessen?«
Cædmon nahm von Helen einen gutgefüllten Teller entgegen und fragte mit gerunzelter Stirn. »Und zwar?«
»Noch ist sie nicht Eure Frau, oder? Und ich bin gespannt, wo Ihr einen Priester finden wollt, der sich traut, Euch zu trauen, wenn Ihr das Wortspiel verzeihen wollt.«
Der Thane nahm eine Fasanenkeule in die Hand, aß aber nicht, sondern wandte den Kopf und sah Odo offen an. »Ich hatte gehofft, Ihr.« Odo machte große Augen. »Ich? Das könnt Ihr Euch aus dem Kopf schlagen.«
Cædmon senkte verlegen den Blick. »Mir ist klar, daß es nicht ganz … unproblematisch ist, aber der König hat uns immerhin seine Erlaubnis erteilt.«
Der Bischof schüttelte entschieden den Kopf. »Trotzdem, Cædmon. Das könnt Ihr wirklich nicht verlangen. William ist ohnehin schlecht auch mich zu sprechen, weil ich es gewagt habe, einen durchaus berechtigten Anspruch auf ein paar Güter in Kent gegen seinen verehrten Statthalter und Erzbischof Lanfranc geltend zu machen. William mag dieser Ehe zugestimmt haben – was blieb ihm angesichts des Testaments auch anderes übrig –, aber ich weiß, daß er seine königliche Stirn darüber runzelt. Vor allem, da Ihr nicht einmal soviel Anstand beweist, ein Trauerjahr einzuhalten. Und ich habe nicht die Absicht, ihn noch weiter gegen mich aufzubringen.«
Cædmon warf besorgt einen kurzen Blick auf Aliesa, die an seiner Seite saß, lustlos aß und vorgab, nicht zu hören, was sie redeten. Er senkte die Stimme. »Ich hatte geglaubt, Ihr würdet es um ihretwillen tun.«
Odo verdrehte die Augen und atmete tief durch, offensichtlich war er hin und her gerissen. Nach einem kurzen inneren Kampf schüttelte er den Kopf. »Ich fürchte, ich kann nicht.«
In vorgetäuschter Gleichmut hob Cædmon die Schultern. »Nun, dann werde ich Vater Cuthbert bitten. Er ist mein Pächter und kann kaum ablehnen.«
»Fragt sich nur, wie rechtskräftig die Ehe wäre. Ich hatte die Ehre, gemeinsam mit ihm Eure Mutter zu beerdigen. Er kann kein Latein, Cædmon. Ich habe Zweifel, ob er in der Lage ist, Euch ordentlich zu trauen. Außerdem …«
»Ich werde es tun«, unterbrach Guthric, der neben Aliesa saß und ebenso unauffällig gelauscht hatte wie sie.
Aliesa, Cædmon und Odo sahen ihn überrascht an.
»Du?« fragte Cædmon verwirrt. »Aber … aber wie ist das möglich?« Sein Bruder hob mit einem kleinen Lächeln die Schultern. »Ich habe vor einem Jahr die Priesterweihe empfangen. Ich kann Euch rechtsgültig trauen, und keine Macht dieser Welt wird mich daran hindern. Ganz sicher nicht der König«, schloß er mit einem spöttischen Blick in Odos Richtung.
Der Bischof verzog den Mund und knurrte: »Ja, Ihr habt gut lachen, Guthric, in jedem Nachbarschaftsstreit zwischen Lanfranc und mir steht Ihr aus des Königs Sicht auf der richtigen Seite …«
Guthric hob gleichgültig die Schultern. »Eure Machtkämpfe sind mir völlig gleich, Monseigneur. Sie langweilen mich zu Tode, um ehrlich zu sein.«
»Nun, wir werden ja sehen, ob das immer noch so sein wird, wenn Ihr erst einmal Lanfrancs Erzdiakon seid«, entgegnete Odo bissig.
»Guthric …«, unterbrach Cædmon mit einem fassungslosen Kopfschütteln, »du bist Priester? Und sollst Erzdiakon werden?«
Sein Bruder seufzte vernehmlich. »Ich soll, ganz recht. Von Wollen kann keine Rede sein …«
Cædmons Augen leuchteten. »Du meine Güte, wenn Vater das wüßte. Ich bin ja so stolz auf dich, Guthric.«
»Das könnt Ihr auch sein«, vertraute Odo ihm an. »In Williams Abwesenheit herrscht Erzbischof Lanfranc über England. Ist William hier, beherrscht Lanfranc William. Und dieser große, gelehrte, weise und so mächtige Lanfranc tut keinen Schritt ohne den Rat des nahezu unsichtbaren Guthric of Helmsby.«
»Hör nicht auf ihn, Cædmon«, riet Guthric. »Der Bischof neigt zu Übertreibungen. Das ist ein verbreitetes Übel in seiner Familie.«
Odo lachte wider Willen, hob den Becher an die Lippen und nahm einen tiefen Zug. »Ihr wißt so gut wie ich, daß es die Wahrheit ist. Euch hat Gott geschickt, um mich Demut zu lehren, Guthric.« Er nahm ein Stück Fasanenfleisch, tunkte es in die Kräutersauce und verspeiste es. Seine Miene hellte sich ob des Geschmacks einen Moment auf, wurde aber sogleich wieder verdrossen. »Als mein Bruder England eroberte, habe ich gehofft, als geistliches Oberhaupt dieses Landes seine rechte Hand bei dessen Neuordnung zu werden. Nun, ich muß zugeben, Lanfranc ist der bessere Mann dafür. Aber wenigstens Lanfrancs rechte Hand hätte ich werden sollen.«
»Aber das seid Ihr doch«, wandte Guthric verständnislos ein. »In Williams Abwesenheit habt Ihr als Regent doch die gleichen Vollmachten wie Lanfranc …«
»Wem wollt Ihr das weismachen, mein Sohn?« fragte Odo. Sein Tonfall war belustigt, die Augen funkelten spöttisch, aber Cædmon glaubte, einen Hauch von Bitterkeit zu hören. »In Wahrheit liegt die Macht bei Lanfranc allein, denn ihm gehört Williams uneingeschränktes Vertrauen.« Odo hob einen Zeigefinger, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Uneingeschränkt. Und Lanfrancs Vertrauen wiederum gehört Euch. Nicht mir. Das sind die Tatsachen«, schloß er mit einem entwaffnenden Lächeln, das Cædmon zu der Überzeugung brachte, daß dieser Sachverhalt Odo zwar kränkte, ihm andererseits aber auch nicht ungelegen kam. Odo war ehrgeizig. Aber er war auch bequem.
Unter dem Tischtuch nahm er Aliesas Hand und drückte sie sanft, als er seinen Bruder fragte: »Und es ist dein Ernst? Du würdest uns trauen?« Guthric sah ihm in die Augen. »Ja.«
Ehe Cædmon etwas entgegnen konnte, fragte Aliesa leise: »Seid Ihr auch sicher, daß Ihr die ganze Geschichte kennt, Guthric?«
»Vielleicht werdet Ihr sie mir erzählen, Schwägerin? Vorher oder nachher, das ist mir gleich. Wenn ihr wollt, können wir nach dem Essen zur Kirche gehen und die Angelegenheit erledigen.«
Aliesa erwiderte seinen Blick. Hoffnung leuchtete in ihren Augen. Sie wußte so gut wie Cædmon, daß ihre Zukunft davon abhängen konnte, wer ihrer Verbindung den kirchlichen Segen verlieh. Aber ihr Gewissen, ihre Auffassung von Anstand zwang sie, Guthric zu warnen: »Der Bischof hat schon recht. Der König wird vielleicht nicht wohlgefällig auf den Priester blicken, der Cædmon und mich traut.«
Guthric verschränkte die Arme und grinste. »Ach, wirklich? Nun, ich muß Euch gestehen, das ist mir völlig gleich. Ich schulde nicht dem König Rechenschaft, sondern dem Erzbischof von Canterbury, dem Papst, der Kirche und Gott.«
Odo reiste am nächsten Morgen ab. Er hatte eine ganze Woche in Helmsby verbracht und erklärte, daß seine Pflichten eine längere Abwesenheit nicht erlaubten. Das entsprach vermutlich der Wahrheit, aber Cædmon hatte den Verdacht, daß der Bischof nicht einmal in der Nähe sein wollte, wenn diese Ehe geschlossen wurde. Doch da er als hoher Gast das Zimmer des Hausherrn bewohnt hatte, kam Cædmon die überstürzte Abreise nicht ungelegen. Er selbst hatte in Guthrics Kammer genächtigt, Aliesa bei Hyld, aber er hatte sich geschworen, daß es die letzte Nacht sein sollte, die er unter seinem eigenen Dach von seiner Frau getrennt verbrachte.
Nachdem sie den Bischof verabschiedet hatten, begab die Familie sich ins Dorf zu der kleinen, inzwischen sehr windschiefen Kirche von St. Wulfstan. Als sie an der Baustelle des neuen Gotteshauses vorbeikamen, blieb Cædmon wie angewurzelt stehen und starrte daran hinauf.
»Mein Gott … sie ist fast fertig.«
»Ich habe daran weiterbauen lassen, wann immer wir Geld hatten«, erklärte Alfred. »Die Pläne waren ja vollständig.«
»Sie wäre längst geweiht«, fügte Guthric hinzu. »Aber Alfred und ich waren uns einig, daß wir auf deine Rückkehr warten wollten. Der Bischof von Elmham war hier und hat sie sich angeschaut. Er war tief beeindruckt.«
Cædmon nickte zufrieden. »Das will ich hoffen. Und jetzt laß uns tun, wozu wir hergekommen sind, ehe das ganze Dorf sich einfindet.«
Cædmon und Aliesa waren sich einig darüber, daß sie so wenig Aufsehen wie möglich wollten. Sie beide wünschten sich Gottes Segen für den Bund, den sie längst geschlossen und besiegelt hatten, aber sie wollten keine großen Feierlichkeiten. Aufgrund des Trauerfalls wäre ein Festessen ohnehin unschicklich gewesen, und Cædmon hatte in Aussicht gestellt, daß er seinen Haushalt und seine Pächter zu Mittsommer für das versäumte Festmahl entschädigen werde.
Also standen sie nun nur von Cædmons Familie umringt an der schmucklosen Tür der kleinen Holzkirche, wo Guthric sie nacheinander fragte, ob sie den Bund der Ehe schließen wollten. Auf sein Geheiß zog Cædmon mit einem glücklichen kleinen Lächeln den Ring hervor, den er am Abend zuvor mit Hylds Hilfe in der Truhe seiner Mutter gefunden hatte. Es war ein durchbrochener Goldreif, unglaublich fein ziseliert und mit Intarsien aus Perlmutt und Lapislazuli versehen. Ein kostbarer Ring, den, so wußte Cædmon inzwischen, die Mutter des Königs Marie de Falaise zum Dank für ihre Treue und Freundschaft geschenkt hatte, ehe ihre Wege sich trennten.
Aliesa hob den Blick und sah in seine lächelnden Augen, während er ihre Linke ergriff und ihr den Ring ansteckte.
Guthric legte ihre Hände ineinander und sprach ein paar Worte auf Latein. Niemand verstand ihn, aber es klang sehr feierlich. Dann sagte er: »Du darfst deine Braut küssen, Cædmon, mit dem gebotenen Anstand.«
Die anderen lachten leise, und Cædmon drückte seine Lippen sacht auf Aliesas Mund, während sie einander mit geradezu gierigen Blicken verschlangen.
Guthric gab vor, es nicht zu bemerken, führte das Brautpaar und die kleine Gesellschaft in die Kirche und feierte die Messe.
Die vielen Veränderungen, die teilweise lang erwartet und teilweise überraschend eingetreten waren, versetzten den sonst eher beschaulichen Haushalt in Unruhe, und hier und da wurde besorgt darüber spekuliert, was für neumodische normannische Sitten jetzt wohl in der Halle einziehen würden.
»Ich hoffe nur, sie setzt mir keinen normannischen Koch vor die Nase«, brummte Helen verdrossen. »Ich hab gehört, wie sie zu Hyld sagte, es seien nicht genug Dienstboten in der Halle. Und sie will eine persönliche Zofe. Das müßt ihr euch mal vorstellen.«
Der hübsche Odric zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Lieber ein normannischer Koch als ein normannischer Priester. Sie ist furchtbar fromm, heißt es.«
Er stibitzte eine Rosine aus dem Vorratstopf, den sie neben dem Herd abgestellt hatte, und handelte sich einen unsanften Klaps auf die diebischen Finger ein.
»Hände weg«, schalt die Köchin mißgelaunt und schüttelte dann seufzend den Kopf. »Warum konnte der Thane kein nettes, englisches Mädchen heiraten?«
Odric grinste. »Nun, ich wäre der letzte, der etwas gegen englische Frauen sagen würde, aber eine solche Schönheit muß man eben nehmen, wo man sie findet.« Er lachte über ihr abfälliges Grunzen. »Kopf hoch, Helen. Sieh es doch mal so: Im Grunde haben wir Glück gehabt. Vor ein paar Jahren sah es noch so aus, als solle er diese Beatrice heiraten. Dann hätten wir wirklich nichts mehr zu lachen gehabt.«
Sie nickte grimmig. »Wir werden ja sehen, ob wir es mit der Lady Aliesa soviel besser angetroffen haben. Eins ist jedenfalls sicher: Irmingard wird es ganz und gar nicht gefallen, daß sie die Schlüssel einer Normannin überlassen muß.«
Aber Helen täuschte sich. Irmingard hatte als Frau des Stewards den Haushalt verwaltet, seit Marie im vergangenen Winter krank geworden war, aber sie wußte selbst am besten, wie sehr diese gewaltige Aufgabe sie überforderte, und gab sie bereitwillig in fähigere Hände. Aliesa war dazu erzogen und ausgebildet worden, die Dame einer großen Halle zu sein, Vorräte, Wolle und Leinen in riesigen Mengen zu verwalten, den Bedarf an Pökelfleisch, Räucheraal, Mehl, Käse, Zwiebeln und so weiter für den ganzen Winter vorauszuberechnen, die teuren Gewürze und Kerzen sowie Talg und Holzkohle in den richtigen Mengen einzukaufen und zu verwalten und all die anderen Aufgaben zu versehen, die damit einhergingen. Irmingard hingegen hatte die erste Hälfte ihres Lebens im Haus ihres Onkels in Haithabu verbracht, wo sie als Küchenmagd hatte schuften müssen, sobald sie alt genug war. Dann hatte sie bei Erik und Hyld in York gelebt und wenigstens gelernt, einen Kaufmannshaushalt zu führen, aber das war mit einer Halle wie Helmsby nicht zu vergleichen.
»Darum bin ich froh und glücklich, daß du gekommen bist, ehe ich anfangen muß, für den nächsten Winter zu planen«, gestand sie Aliesa offen und überreichte ihr ohne jede Feierlichkeit und vor allem ohne das geringste Bedauern den dicken Schlüsselbund. »Hier. Möge er dir nicht jede Nacht den Schlaf rauben wie mir.«
Aliesa lächelte zuversichtlich und befestigte den Ring an ihrem Gürtel. »Nicht, wenn du eine Runde durchs Haus mit mir machst und mir zeigst, welcher Schlüssel zu welchem Schloß gehört.«
»Einverstanden. Aber du mußt Nachsicht mit mir üben, wenn du die Leinenkammer siehst. Hyld hat versucht, dort Ordnung zu schaffen, aber irgendwie …« Sie hob in komischer Verzweiflung die Schultern. »Oh, die Leinenkammer sah schon wieder ganz manierlich aus«, erklärte Hyld, während sie an den Tisch trat und sich zu ihnen setzte. »Bis ich vorgestern vergessen habe, sie abzuschließen, und die kleinen Räuber dort eingefallen sind.«
»Ihre Söhne und Cædmons«, erklärte Irmingard.
Hyld nickte seufzend. »Ich wünschte, ich hätte ein Mädchen wie du, Irmingard.« An Aliesa gewandt fuhr sie fort: »Wir müssen uns etwas einfallen lassen wegen der Jungen. Alfred widmet ihnen soviel Zeit, wie er nur erübrigen kann, aber das reicht nicht. Sie wachsen auf wie kleine Wilde, und wenn Ælfric und mein Harold zusammenstecken, haben sie nur Unsinn im Kopf.«
Aliesa nickte nachdenklich und dachte, daß einer von Cædmons Rittern sich der Jungen annehmen sollte, wenn ihre Väter nicht daheim waren. »Entschuldige die Frage, Hyld, aber ich war lange fort und weiß viele Dinge nicht. Lebst du in Helmsby?«
Hyld nickte. »Derzeit ja. Wir haben ein Haus in London, aber ich verabscheue das Leben in der Stadt, und London ist hundertmal schlimmer als York. Darum komme ich mit den Kindern her, wenn Erik auf See ist. So wie jetzt.«
»Wo ist er?« fragte Aliesa neugierig.
Hyld seufzte. »Das weiß Gott allein. In Grönland oder noch weiter. Dieses Jahr kommt er sicher nicht mehr heim.«
Aliesa betrachtete ihre Schwägerin mitfühlend. »Das kann nicht leicht für dich sein.«
»Nein.« Es war sogar kaum auszuhalten. Sie sehnte sich nach ihrem Mann und sorgte sich um ihn, jeden Tag, jede Stunde. Doch sie sagte scheinbar ergeben: »Aber damit muß jede Frau leben, die einen Seefahrer heiratet.«
»Nicht alle bleiben immer gleich jahrelang fort«, wandte Irmingard mißfällig ein. »Erik ist genau wie unser Vater. Er konnte der See auch nicht widerstehen. Als Mutter starb und Erik mit ihm fuhr, wurde es ganz schlimm. Vater kam einfach nicht mehr nach Hause, obwohl er genau wußte, wie es Leif und mir im Haus seines Bruders erging. Ich bin sicher, sein Gewissen hat ihn auch manchmal geplagt. Aber der Ruf der See war stärker.«
Hyld griff nach ihrem Stickrahmen und senkte den Kopf darüber. »Ja. Die See ist stärker.«
»Nun, dein Bruder Leif ist jedenfalls kein Seefahrer geworden«, sagte Aliesa zu Irmingard.
»Nein«, stimmte die junge Frau des Stewards zu. »Er war immer eifersüchtig auf die See, weil sie ihm seinen Vater und seinen Bruder gestohlen hat.«
Aliesa sah einen Augenblick auf Hylds gesenkten Kopf hinab und fand, es sei an der Zeit, das Thema zu wechseln. »Was würdest du davon halten, wenn du und Alfred in Maries Zimmer zieht, Irmingard? Dann könnte Hyld eure Kammer haben, und alle hätten mehr Platz.«
Irmingard sah unsicher zu Hyld. »Wärst du einverstanden?«
Hyld hob den Kopf für einen Moment und lächelte ihr zu. »Natürlich. Wann wirst du endlich aufhören, dich wie ein schlecht gelittener Gast in diesem Haus zu fühlen, Irmingard? Es ist dein Zuhause, und du bist die Frau des Stewards. Ich bin diejenige, die sich hier ungebeten einquartiert hat.«
»Ich glaube, es gibt einige in diesem Haushalt, die sagen würden, daß ich diejenige sei«, bemerkte Aliesa trocken, und alle drei lachten. Dann stand sie auf. »Laßt uns einen Rundgang machen, ja?«
Irmingard erhob sich ebenfalls. Auch Hyld legte ihr Stickzeug beiseite. »Gib nichts auf die finsteren Blicke der alten Helen, Aliesa«, riet sie. »Sie ist ein Drachen, aber sie versteht ihr Handwerk, und weil sie so furchtbar knauserig ist, wird bei ihr nie etwas verschwendet.«
Sie kann so finster dreinschauen, wie sie will, solange sie tut, was ich sage, dachte Aliesa flüchtig, aber was sie antwortete war lediglich: »Ihr müßt mir raten, wo ich mich am besten nach ein paar zusätzlichen Dienstboten umsehen soll.«
Hyld stieg neben ihr die Treppe hinauf und bemerkte achselzuckend: »Wenn du hier auf dem Gut keine geeigneten Leute findest, mußt du nach Norwich zum Sklavenmarkt.«
Aliesa verzog unwillkürlich das Gesicht. »Das kommt nicht in Frage. Ich dachte, der König habe die Sklavenmärkte verboten?«
»Nun ja, möglich«, antwortete Hyld ausweichend. Wie dem auch sein mochte, es gab die Märkte jedenfalls noch. Wie so viele Dinge, die der König verboten hatte. Die Normannen rümpften ihre vornehmen Nasen über die Sklavenhaltung in England, behandelten ihre leibeigenen Bauern aber keinesfalls besser. Außerdem hatte sie noch von keinem Normannen gehört, der die Sklaven, die er mit seinen englischen Ländereien bekommen hatte, freigelassen hätte. Hyld fand sie scheinheilig. Doch vielleicht war heute nicht der richtige Tag, um über solche Dinge zu reden. Der schlimmste Bauernschinder von Norfolk kam ihr in den Sinn, und sie fragte: »Weiß dein Bruder eigentlich schon, daß du hier bist?«
Aliesa schüttelte niedergeschlagen den Kopf. »Ich muß ihm einen Boten schicken. Aber ich schiebe es lieber noch ein bißchen vor mir her.«
»Er kriegt den Hals einfach nicht voll, Cædmon«, berichtete Alfred mit besorgt gerunzelter Stirn. »Er will immer noch mehr Land, vor allem dann, wenn es dir gehört. Er treibt die Pacht in Ashby ein und hat die freien Bauern so lange drangsaliert, bis jeder ihm sein Land überschrieben hat.«
Sie ritten Seite an Seite durchs Dorf. Auf der großen Wiese waren Männer und Frauen dabei, das Gras für die Heuernte zu mähen. Als der Thane und der Steward vorbeikamen, ließen sie die Sensen sinken und grüßten.
Cædmon lächelte zerstreut, grollte jedoch leise: »Aber Ashby gehört zu Blackmore, das weiß jedes Kind.«
Alfred nickte. Der kleine Weiler am Nordufer des Yare hatte zum Land ihres Onkels gehört; sie beide hatten ihn oft genug sagen hören, Ashby sei die Perle seiner Besitztümer, denn dort gebe es nicht nur den besten Räucheraal, sondern auch die schönsten Mädchen von East Anglia. Und alles, was einmal Onkel Ulf gehört hatte, war heute Cædmons Besitz.
»Nur leider gibt es keine Urkunde, die das bestätigt«, gab Alfred zu bedenken.
»Aber sicher Dutzende freier Männer, die es bezeugen könnten«, entgegnete Cædmon.
Alfred seufzte. »Das werden sie nicht, Vetter. Alle Leute von Blackmore zittern vor Lucien de Ponthieu. Er hat einen Haufen wilder Gesellen, die er ausschickt, um die Bauern in Angst und Schrecken zu versetzen.« Cædmon runzelte ärgerlich die Stirn. »Dann ist es ein Fall für den Sheriff.«
Alfred sah ihn verdutzt an. »Gott, Cædmon, ich vergesse immer, wie lange du fort warst. Lucien de Ponthieu ist der Sheriff von Norfolk.« »O nein …«
»Hm. Seit einem Jahr. Und seitdem hält ihn nichts mehr. Er läßt nichts unversucht, um mich zu einem unbedachten Schritt zu provozieren. Letzten Winter haben sie meinen Vater überfallen und übel zugerichtet, als er von einem Besuch bei Tante Edith in Blackmore zurückkam. Als wir ihn fanden, habe ich wirklich gedacht, das war’s. Aber zum Glück war er sternhagelvoll, darum ist er nicht erfroren. Hat nicht mal einen Schnupfen bekommen. Aber sie hatten ihm ein paar Rippen gebrochen. Er hat sich erst im Frühling richtig erholt, schließlich ist er nicht mehr der Jüngste.«
Cædmon lauschte ihm voller Schrecken. »Und ich nehme an, es gibt keinerlei Beweise, daß es Luciens Männer waren, die einen friedlichen, alten, englischen Edelmann überfallen haben?«
Alfred schüttelte resigniert den Kopf. »Mein Vater hat sie gesehen. Aber was gilt das Wort eines friedlichen, alten, englischen Trunkenbolds gegen das der Männer des normannischen Sheriffs?«
»Nichts, du hast recht.«
»Wirst du hinreiten und mit ihm reden? Jetzt ist er schließlich dein Schwager.«
Cædmon schnitt eine Grimasse. »Ich weiß nicht, ob das die Dinge schwieriger oder einfacher machen wird.« Ihm graute davor, Lucien wiederzusehen. Bei der Erinnerung an ihre letzte Begegnung überlief ihn jedesmal ein eisiger Schauer. Aber er konnte Alfred schlecht gestehen, was allein der Gedanke an Lucien de Ponthieu in ihm auslöste. »Irgend etwas werden wir unternehmen müssen. Schon wegen der Leute von Blackmore und Ashby. Ganz zu schweigen von Tante Edith und ihren Söhnen.«
»Du hast recht. Zum Glück hat der Sheriff keine Ahnung, daß sie Verwandte von uns sind. Aber wenn er es je rausfindet, werden sie keinen Tag Frieden mehr haben.«
Cædmon nickte versonnen. Sie ritten in östlicher Richtung, vorbei an den großen offenen Feldern von Helmsby, die durch tiefe Furchen in Streifen unterteilt waren. Die Mehrheit der Pächter verfügte über drei dieser Streifen, wobei je einer brachliegen mußte, damit die Erde neue Kräfte sammeln konnte. Mehr als die Hälfte der Streifen gehörte zu Cædmons Gut und wurde von Sklaven und den unfreien Pächtern bestellt, die Cædmon je nach Jahreszeit ein oder zwei Tage Arbeit die Woche schuldeten. Heute wollte er jedoch nicht die Feldarbeit inspizieren, sondern die Schafherden – die Quelle seines Wohlstandes –, und so ließen sie die bestellten Felder bald zurück und kamen auf das weite, flache Weideland.
»Was gibt es sonst Neues?« wollte Cædmon wissen. »In drei Jahren muß sich allerhand ereignet haben.«
Alfred hob langsam die massigen Schultern. »Die alte Berit von Metcombe ist vorletzten Winter gestorben. Jetzt hat der Müller das Sagen im Dorf.«
Cædmon war ebensowenig überrascht wie erfreut. »Und … Gytha?« »Kriegt jedes Jahr ein Kind und scheint zufrieden. Ab und zu reitet sie für einen Tag herüber, um Ælfric und Wulfnoth zu sehen. Aber sie kommt immer seltener. Die Jungen sind ihr fremd geworden und verlegen, wenn sie hier ist. Wer weiß, jetzt, da du deine Frau hergebracht hast, kommt sie vielleicht gar nicht mehr. Wär’ sicher besser so.«
»Ja.« Er spürte Alfreds fragende Blicke und seine Unsicherheit, und er wußte, er mußte ihm erklären, wie es kam, daß er die Frau seines Freundes als Braut nach Helmsby brachte. »Alfred … erzähl mir noch ein bißchen mehr. Laß uns die Schafe ansehen und anschließend durchs Dorf zurückreiten. Ich will mir meine Kirche von innen ansehen. Laß mich erst einmal nach Hause kommen. Und heute abend oder morgen trinken wir in Ruhe einen Becher zusammen und reden.«
»Du schuldest mir nichts, Thane«, erwiderte Alfred und sah ihn mit einem offenen Lächeln an.
Cædmon sog die klare laue Luft und den Duft der Sommerwiesen tief ein. »Das ist nicht wahr.«
Nach einem kurzen Schweigen fuhr Alfred fort: »Am übernächsten Sonnabend ist Gerichtstag in Metcombe. Das beste wird wohl sein, wenn du mit hinkommst, dann bist du über alle wichtigen Angelegenheiten in der Hundertschaft auf dem laufenden.«
»Ja, du hast recht. Und bei der Gelegenheit werde ich ankündigen, daß der Gerichtstag von nun an in Helmsby stattfindet. Metcombe mag der traditionelle Versammlungsort sein, aber inzwischen gehört die ganze Hundertschaft mir, also sollen sie sich in meiner Halle versammeln.« Alfred fand die Idee höchst ungewöhnlich – das Folcmot, die Versammlung aller freien Männer der Hundertschaft, wo alle Angelegenheiten von allgemeinem Interesse, alle Streitigkeiten und Gesetzesverstöße verhandelt wurden, fand seit Menschengedenken unter freiem Himmel und immer am selben Ort statt. In manchen Hundertschaften war es ein Findling oder ein alleinstehender, alter Baum, in dessen Schatten man sich versammelte, in Metcombe war es ein Grabhügel aus grauer Vorzeit, den man schon auf viele Meilen Entfernung aus dem flachen Moor aufragen sah. Nur bei vollkommen unerträglichem Wetter war man bislang auf eines der nahegelegenen Häuser ausgewichen. Aber Alfred mußte gestehen, daß Cædmons Vorschlag einiges für sich hatte. »Es erspart uns jeden Monat einen weiten Weg«, räumte er ein. »Und außerdem liegt Helmsby zentraler als Metcombe, so daß niemand mitten in der Nacht aufbrechen muß und erst in der folgenden Nacht heimkommt.«
Cædmon nickte zustimmend und lächelte schwach. »Ich hatte befürchtet, du würdest sagen, es sei eine normannische Idee.«
»Ja, das ist es, denn sie ist praktisch und vernünftig und wird viele Engländer vor den Kopf stoßen. Aber sie werden sich schon dran gewöhnen.«
»Wir werden es ihnen versüßen, indem wir verkünden, daß ich anläßlich meiner Vermählung allen freien Pächtern ein Viertel der Pacht erlasse und allen unfreien einen halben Tag Frondienst die Woche, bis das Winterpflügen beginnt. Es sei denn, du sagst mir, daß ich mir so schöne Gesten nicht leisten kann.«
Alfred grinste breit. »Doch, das kannst du. Wir hatten vier gute Jahre in Folge. Trotz des Kirchenbaus haben wir sogar noch ein bißchen Geld übrig. Du bist ein wohlhabender Mann, Cædmon.«
»Das trifft sich gut. Ich glaube, ich habe eine ziemlich kostspielige Frau geheiratet.«
»Ist sie so versessen auf Kleider und Schmuck?« fragte Alfred verwundert. Den Eindruck hatte er bislang nicht gehabt. Im Gegenteil, das Kleid, in dem sie hergekommen war, war schlicht und dunkel wie eine Nonnentracht und obendrein ein bißchen verblichen und fadenscheinig.
»Eigentlich nicht«, antwortete Cædmon. »Aber auf Bücher, auf Tischtücher und Wandbehänge und solches Zeug. Ich könnte mir vorstellen, daß sie feine Leute aus uns machen will, weißt du.«
Alfred verdrehte die Augen und brummte: »Heiliger Edmund, steh uns bei …«
Tiefe Stille lag über der Burg, die süßen Düfte der warmen Sommernacht strömten durchs Fenster herein. Und Mücken. Aliesa erschlug eine mit der flachen Hand auf ihrer Brust, und es gab ein wunderbar sattes, klatschendes Geräusch, das Cædmon auf den Gedanken brachte, daß diese Hochzeitsnacht vielleicht doch noch nicht ganz vorüber war.
»Ich kenne keinen Ort, wo es so viele Mücken gibt wie hier«, erklärte sie ungehalten. »Ich glaube, sie wollen mich bei lebendigem Leib auffressen.«
Er zog seine Braut zu sich herunter. »Sie werden keine Gelegenheit kriegen, denn ich werd’ ihnen zuvorkommen …«
Aliesa lachte. »Oh, Cædmon, das kann nicht wahr sein.«
Er nahm ihre Hände und legte sie um die Bettpfosten, dann spreizte er mit den Knien ihre Schenkel, die sich ihm willig öffneten, ließ sich abwärts und in sie hineingleiten.
»Es ist wahr«, erklärte er überflüssigerweise und eine Spur verlegen. Er war nie ein Dauerkönner gewesen, wie manche seiner Freunde es waren – jedenfalls laut eigener, unbestätigter Angaben –, aber in dieser Nacht hatte er wahrhaftig das Gefühl, immer wieder von vorn anfangen zu können. Es war der Umstand ihrer Heirat, der diesen Rausch ausgelöst hatte, erkannte er, die schlichte Tatsache, daß sie ihm jetzt vor Gott und den Menschen angehörte und niemand als nur Gott allein sie ihm wieder wegnehmen konnte. Es war Besitzerstolz. Und sie empfand ihn ebenso. Hemmungsloser als je zuvor schlang sie die Beine um seine Hüften und wölbte sich ihm entgegen, bis sein Atem schwer wurde. Dann nahm sie die Hände von den Pfosten, legte sie auf seine Schultern und bedeutete ihm, sie umzudrehen, so daß sie rittlings auf ihm saß, und dann ritt sie ihn, daß ihm Hören und Sehen verging und er keuchend ihren Namen stammelte. Hingerissen lauschte sie seiner Stimme, warf mit einem triumphalen Laut den Kopf in den Nacken und schauderte und kam.
»Oh, Aliesa«, flüsterte er schließlich ein bißchen heiser. Er lag in ihren Armen, hatte den Kopf auf ihre Brust gebettet und die Augen fest geschlossen. »Würdest du … würdest du das wohl gelegentlich wieder tun?«
Sie sah auf seinen Kopf hinab, den verblüffend schmalen Nacken, der ihn so verwundbar erscheinen ließ, die breiten Schultern und kräftigen Arme, die die Narben der Greueltat ihres Bruders trugen, und sie zog ihn fester an sich und drohte der Welt im stillen an, sie werde sie kennenlernen, wenn sie ihm je wieder weh tat.
»Sagen wir, an jedem ersten Freitag im Monat?« antwortete sie ebenso leise, aber er hörte das Lächeln in ihrer Stimme.
Er brummte schläfrig, »Ihr seid sehr sparsam mit Eurer Gunst, Madame.« Sie drückte die Lippen auf die Stelle über seinem Ohr, wo die Haare besonders hell waren. »Ich meine, das ist nur weise, sonst weißt du sie eines Tages nicht mehr zu schätzen.«
»Deine Gunst werde ich in hundert Jahren noch zu schätzen wissen. Sie war immer mein kostbarster Besitz, das einzige, worauf ich nicht verzichten kann. Wußtest du das nicht?« murmelte er.
»Doch. Ich weiß. Cædmon?«
Aber er war eingeschlafen.
Sie weckte ihn, noch ehe es hell war, und es kam ihm vor, als habe er nur wenige Minuten geschlafen.
»Wach auf, Cædmon, das mußt du dir ansehen.« Sie rüttelte unbarmherzig an seinem Arm.
»Was?« fragte er undeutlich, das Gesicht ins Kissen gepreßt.
»Die Sonne geht auf!«
Er stöhnte. »Aber das tut sie hier in East Anglia jeden Morgen« protestierte er. »Immer genau vor diesem Fenster. Das ist nichts Besonderes.« Sie lachte und zog ihm die Decke weg. »Komm schon.«
Schlaftrunken setzte er sich auf, sah blinzelnd zum Fenster und rieb sich die Augen. Der Bettvorhang war zurückgezogen. Aliesa hatte sich in ein Laken gewickelt und stand mit dem Rücken zu ihm vor dem Ausschnitt des glutroten Himmels. Er stand auf, stellte sich neben sie und legte den Arm um ihre Schultern. Eine geschlossene hohe Wolkendecke hatte den Himmel überzogen und wurde von der aufgehenden Sonne angestrahlt. Sie leuchtete in allen Farben des Feuers: goldgelb, violett und tiefrot. Es war ein Anblick, für den aufzuwachen sich lohnte, mußte er einräumen.
Er strich ihre Haare beiseite und küßte ihren Nacken. »Die Schamesröte des Himmels ob unserer Ausschweifungen«, bemerkte er.
Sie neigte lachend den Kopf. »Das würde mich nicht wundern …«
Er zog sie näher, preßte den Bauch an ihren Rücken und legte beide Arme um sie. »Ich wünschte, Gott würde die Zeit anhalten. Jetzt, in diesem Moment.«
»Aber das wird er nicht. Ich bin schwanger, Cædmon.«
Er lächelte selig. »Sicher?«
Sie hob leicht die Schultern. »Dafür ist es eigentlich zu früh. Aber trotzdem, ich bin sicher.«
Er umschloß sie noch ein wenig fester und sah über ihren Scheitel hinweg auf den Feuerhimmel hinaus. »Dieses Mal wird es gutgehen, Aliesa.«
»Wie kannst du so sicher sein?« fragte sie verwundert.
»Das Kind, das du verloren hast, war in Sünde gezeugt. ›Die Frucht der Unzucht soll verdorren.‹ Heißt es nicht so in der Bibel? Aber unsere Sünde ist gesühnt und vergeben. Gott wird uns gnädig sein, und unser Kind wird in unserer neuen Kirche getauft werden, du wirst sehen.«
Sie atmete tief durch und lehnte den Kopf zurück an seine Schulter. Mehr gab es dazu wohl nicht zu sagen. Sie wollte dieses Kind. Sie hatte sich auch von Etienne Kinder gewünscht, aber es war nie geschehen, und jetzt wollte sie es um so mehr, weil es Cædmons Kind sein würde und es außerdem höchste Zeit wurde. Sie war achtundzwanzig, schon viel zu alt, hätte manche Hebamme gesagt. Es war müßig und albern, sich wegen der Risiken zu sorgen. Aber sie konnte die Erinnerung an die grauenvolle Fehlgeburt nicht abschütteln, und seine Zuversicht beruhigte und tröstete sie.
»Laß uns ein Stück am Ouse entlangreiten«, schlug er plötzlich vor. »Es ist so wunderbar am Fluß um diese Tageszeit.«
Ihre Augen leuchteten auf. »Einverstanden.«
Sie waren nicht die ersten, die sich im Burghof regten. Die Nachtwache an der Zugbrücke wurde gerade abgelöst, als sie aus dem Haus traten, und die Housecarls grüßten verwundert. Die Melkerinnen trugen schon die ersten gefüllten Ledereimer aus den Ställen in die Molkerei hinüber.
Cædmon und Aliesa schlichen in den Pferdestall nahe des Haupttores, und der junge Ine kam schlaftrunken die Leiter vom Heuboden herab. Das leise Klimpern von Trensen und Sattelgurtschnallen hatte ihn offenbar geweckt.
»Thane …«, murmelte er verblüfft und ein wenig erschrocken, »hab’ ich irgendwas verschwitzt?«
»Nein, schon gut, Ine. Wir wollen nur am Fluß sein, ehe es hell ist. Sattel Lady Aliesas Stute, ich kümmere mich selbst um Widsith.«
»In Ordnung.«
Der Stallknecht legte dem zierlichen Tier den Damensattel auf, schnallte ihn sorgsam fest und streifte dann das Zaumzeug über den edlen kleinen Kopf. Cædmon sah aus dem Augenwinkel, wie behutsam er den Riemen über die empfindlichen Ohren schob, und dachte, daß Ine eine bessere Hand mit Pferden hatte als der alte Edgar.
»Wo ist dein Vater?«
»Tot«, beschied Ine knapp.
»Oh. Das tut mir leid.«
Der junge Mann nickte ergeben, nahm die Stute am Zügel und führte sie hinaus, wo Aliesa wartete. Ine überreichte ihr die Zügel, verschränkte die Finger ineinander und beugte sich vor, so daß sie seine Hände als Trittleiter benutzen konnte.
Aliesa saß auf, nickte ihm zu und strich ihren Rock glatt.
Cædmon folgte mit Widsith, schwang sich ebenfalls in den Sattel, und Seite an Seite ritten sie aus dem Tor und auf den Wald zu.
»Ein Generationenwechsel hat in Helmsby und in Metcombe stattgefunden«, sagte er versonnen. »Dabei war ich doch nur gut drei Jahre fort.«
»Wahrscheinlich kommt es dir so vor, weil deine Mutter gestorben ist«, vermutete sie.
»Sie und Berit of Metcombe und der alte Edgar … Menschen, die ich mein Leben lang gekannt habe.«
Sie lächelte. »Du kennst jeden hier dein Leben lang, vorausgesetzt er ist älter als du.«
»Das ist wahr.«
Als sie an den Fluß kamen, begann die Glut am Himmel zu verblassen, und die Sonne ging auf. Sie ritten ihr auf dem Uferpfad entgegen, und jetzt war es das Wasser, das rotgolden funkelte und strahlte.
»So muß es ausgesehen haben, als der Goldschatz noch in den Tiefen des Rheins verborgen lag«, murmelte Cædmon.
»Was?« fragte sie verwundert.
Er wandte den Kopf und sah sie an. Er erinnerte sich noch genau daran, daß er sich einmal gewünscht hatte, sie möge eines Tages in einer englischen Halle mit ihm am Feuer sitzen und die Lieder von Siegfried und dem Drachen hören.
»Es ist eine Geschichte. Von den alten Göttern und einem großen Goldschatz und einem Drachen.«
»Erzähl sie mir!« Ihre Augen leuchteten.
»Das wäre eine Schande. Der nächste gute Spielmann, der nach Helmsby kommt, soll es tun.«
Sie rümpfte die Nase. »Versprechungen …«
»Ich mag mich irren, aber ich glaube, alles, was ich dir bis jetzt versprochen habe, habe ich auch gehalten, oder?«
Sie dachte kurz nach. »So ist es.« Mit einem Lächeln streckte sie die Hand aus und legte sie einen Moment auf seinen Arm. »Also will ich mich gedulden.«
Cædmon nickte zufrieden, sah wieder nach vorn und zügelte Widsith. »Schsch«, machte er wispernd. »Sieh nur.«
Aliesa hielt neben ihm und folgte seinem Blick. Eine Ricke stand mit einem Kitz am Ufer und trank. Noch hatte sie sie nicht gewittert, denn sie hatten den Wind im Gesicht. Unbeholfen stakste das Junge neben ihr im hohen Gras auf und ab, hob dann den Kopf, legte die kleinen Ohren zurück, suchte einen Moment und fing dann an zu saugen. Die Ricke hatte sich sattgesoffen und stand geduldig still. Dann flaute die Morgenbrise einen Moment ab, und sofort drehte das Muttertier den Kopf in ihre Richtung, die Ohren zuckten nervös. Das Kitz hörte auf zu trinken, folgte ihrem Beispiel, und dann machten sie kehrt und sprangen eilig zwischen den Bäumen davon.
Aliesa atmete tief durch. »Wie wunderschön. Nur gut, daß du deine Hunde zu Hause gelassen hast.«
Cædmon nickte. Er hätte die Ricke ebensogut mit der Schleuder erlegen können, sie war keine fünfzig Schritt weit weg gewesen. Einen Moment hatte er mit dem Gedanken gespielt. Er war ein leidenschaftlicher Jäger, und Wild war immer eine willkommene Bereicherung seiner Tafel. Normalerweise hätte das friedvolle Bild ihn nicht bewogen, die Rehe zu schonen. Doch heute war kein normaler Tag.
Sie ritten weiter, und Aliesa wies auf eine schlanke, zartrosa Blütenkerze, die aus einem Bett ausladender Blätter aufragte. »Fingerhut«, sagte sie. »Gut für ein schwaches Herz.«
»Aber tödlich, wenn man es falsch dosiert.«
»Ja.«
»Kennst du dich gut mit Heilpflanzen aus?« fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Nicht so wie deine Mutter. Ich fürchte, in der Hinsicht werde ich sie nicht ersetzen können. Ich habe auch nicht die Absicht, mich als Hebamme zu versuchen«, stellte sie klar.
Er biß sich auf die Lippen, um nicht zu lachen. »Das hatte ich auch nicht angenommen. Hyld hat viel von Mutter gelernt. Wenn du willst, wird sie dir die Pflanzen in Mutters Kräutergarten zeigen und dir erklären, wozu sie taugen. Wenn Erik zurückkommt und Hyld uns verläßt …« Er brach unsicher ab.
»Sollte ich in der Lage sein, einen Kräutervorrat für den Winter anzulegen und einfache Gebrechen und Krankheiten zu behandeln, weil das in England von der Lady der Halle erwartet wird?«
Er nickte. »Es ist so üblich, ja. Aber wenn du nicht willst, werde ich Irmingard bitten …«
»Wofür hältst du mich, Cædmon?« fragte sie, und er sah sie verblüfft an, als er den scharfen Tonfall hörte. »Glaubst du, ich sei aus irgendeinem Grunde nicht in der Lage, meine Pflichten zu erfüllen? Wenn es üblich ist, werde ich es lernen.«
»Gut«, sagte er zufrieden und dachte, wie hinreißend sie aussah, wenn sie wütend wurde, aber er fand, es sei vermutlich besser, ihr das nicht gerade jetzt zu sagen.
Ihre Stirn glättete sich wieder. »Was denkst du, wollen wir bald umkehren? Ich bin ausgehungert.«
»Einverstanden. Da, siehst du die knorrige Weide da vorn am Ufer? Das ist die Stelle, wo mein teurer Schwager Erik mich angeschossen hat.«
Aliesa ritt bis zur Weide, sah auf den Fluß hinaus und dann auf das Gebüsch neben dem Pfad. Sie atmete tief durch. »Wie furchtbar weit dein Heimweg war.«
Er nickte und lächelte ihr zu. »Mach kein solches Gesicht, dafür ist es zu lange her. Komm, laß uns zusehen, daß wir ein Frühstück kriegen.« Er klang unbeschwert, aber die Erinnerung an das Erlebnis hatte unvermeidlich auch Erinnerungen an Dunstan heraufbeschworen, und das war immer noch schmerzlich.
Wie so oft schienen Aliesas Gedanken in die gleiche Richtung zu gehen, denn sie fragte seufzend: »Was machen wir mit Lucien, Cædmon?«
Er ritt wieder an und entgegnete: »Ich weiß nicht, ob die Frage nicht eher lauten sollte, was wird Lucien mit uns machen. Er ist Sheriff von Norfolk, wußtest du das?«
»Nein.« Die Neuigkeit erschreckte sie offenbar nicht so wie ihn.
»Glaubst du, er wird dir verzeihen, daß du mich geheiratet hast?«
Sie seufzte, und nach einem kurzen Schweigen sagte sie: »Lucien würde mir verzeihen, selbst wenn ich den Satan persönlich heiratete. Aber ich bin keineswegs sicher, daß er mir zuliebe seinen Groll gegen dich begräbt.«
»Nein, da sehe ich auch schwarz. Ich werde schon selbst mit ihm fertig, keine Bange …«
»Ich will nicht, daß ihr euch bekriegt«, unterbrach sie scharf. »Du bist mein Mann, er ist mein Bruder, und ihr beide müßt vergessen, was war.« Er lachte ungläubig auf. »Vergessen? Nun, ich glaube, das dürfte unmöglich sein. Aber ich bin bereit, Vergangenes vergangen sein zu lassen. Du hast recht, die Dinge haben sich geändert, er ist mein Schwager und mein Nachbar, ganz gleich, ob mir das gefällt, und ich wäre froh, wenn wir ohne Hader leben könnten. Die Frage ist nur, was will Lucien?« »Ich werde hinreiten und ihn fragen«, sagte sie. »Allein.«
»Kommt nicht in Frage …«
»Cædmon, wenn du mich begleitest, wird es nur böses Blut geben. Vergiß nicht, wer seine Frau ist.«
Cædmon raufte sich mit der Linken kurz die Haare. Das war ihm in der Tat einen Moment entfallen. »Aber du kannst unmöglich allein bis nach … Wo leben sie überhaupt?«
»Das ist ein Tagesritt von Helmsby.«
»Ich werde eine Eskorte mitnehmen und deine Schwester als Begleitung, wenn sie mir den Gefallen tut.«
Cædmon dachte einen Moment darüber nach und schüttelte seufzend den Kopf. »Ich weiß nicht … Die Sache gefällt mir nicht. Es gibt viele Dinge, über die du nicht informiert bist. Lucien stiehlt mein Land und drangsaliert meine Pächter. Seine Leute haben meinen Onkel überfallen und zusammengeschlagen. Wenn ich nicht mit dir hinreite, wird er glauben, ich kneife.«
»Das werde ich schon klarstellen«, versicherte sie.
»Aliesa, er muß mir das Land zurückgeben, sonst kann es nie Frieden zwischen uns geben. Wenn er es nicht tut, werde ich vor dem König Klage gegen ihn erheben, Sheriff oder nicht, das ist mir gleich!«
»Land, Land, Land«, sagte sie ungeduldig.
»Es leben auch Menschen auf diesem Land«, erwiderte er hitzig.
»Ja.« Sie sann darüber nach, ehe sie bat: »Laß mich erst mit meinem Bruder Frieden schließen, Cædmon. Danach rede ich mit dem Nachbarn und Sheriff. Und ich werde es so tun, daß er nicht auf die Idee kommen kann, du würdest vor ihm kneifen. Vertrau mir.«
Es klang beinah beschwörend. Er wußte es nicht, aber er ahnte, daß sie in Wirklichkeit meinte: Beweise mir, daß du ein anderer Mann bist als Etienne und mich nicht für hohlköpfig und unvernünftig hältst, nur weil ich eine Frau bin. Beweise es mir, indem du diese wichtige Angelegenheit vertrauensvoll in meine Hände legst.
Er nickte langsam. »Einverstanden. Nur warte bis nach Mittsommer, sei so gut. Ich weiß, daß diese Sache dir sehr am Herzen liegt, aber es sind nur noch vier Tage bis zum Fest, und die Leute wären so enttäuscht, wenn du nicht hier wärest.«
»Das darf auf keinen Fall geschehen, daß ich deine Pächter und Knechte enttäusche«, spöttelte sie, wurde aber gleich wieder ernst und versprach: »Natürlich warte ich so lange.«
Als sie zur Burg zurückkehrten, war längst Tag, und im Hof herrschte munteres Treiben.
»Geh nur hinein, ich bringe die Pferde in den Stall«, erbot sich Cædmon.
»Na schön. Wenn du einverstanden bist, werde ich die Garderobe deiner Mutter durchforsten und sehen, ob ihre Kleider mir passen. Ich kann dieses triste Grau nicht mehr sehen.«
»Ich fürchte, ihre Kleider werden dir zu kurz sein, sie war kleiner als du.« »Vielleicht kann man sie ändern.«
»Hyld wird dir sicher helfen. Und sobald wir Zeit haben, reiten wir nach Norwich und kaufen Stoff für neue Kleider. Es ist nicht nötig, daß du auf den Luxus verzichtest, den du gewöhnt warst, weißt du«, erklärte er ein wenig verlegen.
Sie küßte ihn lächelnd auf den Mundwinkel. »Ich glaube, das würde mir nicht besonders viel ausmachen. Bis gleich. Und rasier dich bei Gelegenheit.«
Er grinste und fuhr sich mit dem Handrücken über das stoppelige Kinn. »Sehr wohl, Madame«, raunte er ihr nach, nahm mit jeder Hand einen Zügel und führte die Tiere in den Stall.
»Ine?«
Der Stallbursche kam mit einer Mistgabel aus einem der Ställe, lehnte sie an die Wand und trat näher.
Cædmon drückte ihm die Zügel in die Hand und wandte sich ab. »Danke.«
»Thane … kann ich Euch einen Augenblick sprechen?«
Cædmon drehte sich wieder um. »Ja?«
Ine band die Tiere an, löste Widsiths Sattelgurt, richtete sich wieder auf und sah Cædmon offen an. »Ich möchte heiraten, Thane.«
Cædmon nickte und dachte sehnsüchtig an das Frühstück, das ihn in der Halle erwartete. »Dann nur zu. Rede mit Alfred.«
»Alfred sagt, ich soll mit Euch sprechen.«
»Oh. Wer ist denn deine Auserwählte?«
Ine schlug einen Moment die Augen nieder, besann sich aber sogleich und sah ihn wieder an. »Gunnild.«
»Welche Gunnild?« fragte er verwirrt. Nur eine fiel ihm ein. »Du meinst nicht die Tochter des Schmieds?«
»Doch.«
Cædmon schnaubte unwillkürlich. »Das kannst du dir aus dem Kopf schlagen. Wie kommst du nur auf so einen Gedanken?«
Ine war sehr blaß geworden, aber er sagte ruhig: »Sie will mich haben.« »Aber ihr Vater bestimmt nicht.« Er sah, daß der junge Knecht noch etwas sagen wollte, hob abwehrend die Hand und ging zur Tür. Über die Schulter beschied er: »Die Antwort ist nein.«
Kopfschüttelnd trat er ins Freie. Was dachte der Kerl sich nur? Und warum in aller Welt hatte Alfred Ine an ihn verwiesen, statt ihm selbst zu sagen, daß eine solche Verbindung nicht in Frage kam? Sicher, es mochte gelegentlich vorkommen, daß ein Sklave die Tochter eines unfreien Pächters heiratete, vor allem dann, wenn sie keine Brüder hatte und ein Mann gebraucht wurde, der für ihren Vater in das Pachtverhältnis eintreten konnte. Aber der Schmied von Helmsby war ein hochangesehener, freier Mann. Es wäre kaum unverschämter gewesen, wenn Ine Cædmon um die Hand seiner Schwester gebeten hätte. Verdrossen beschloß Cædmon, ein ernstes Wort mit seinem Steward zu reden, umrundete mit langen Schritten den Pferdestall und blieb plötzlich wie angewurzelt stehen.
Der Tag hat so gut begonnen, dachte er flüchtig, und jetzt jagt ein Ärgernis das nächste …
Vier kleine Jungen hatten sich am Fuße des gewaltigen, scharfriechenden Misthaufens eingefunden: seine Söhne und Hylds. Harold und Guthrum, neun und fünf Jahre alt, standen mit auf dem Rücken verschränkten Händen und sahen mit konzentrierter, leicht beunruhigter Miene auf ihre beiden Cousins.
Ælfric hatte seinem jüngeren Bruder den linken Arm auf den Rücken gedreht, die andere Hand in dessen lange, dunkle Haare gekrallt und ihn gegen den stinkenden Hügel aus Stroh und Pferdemist gedrängt. »Schwöre«, befahl Ælfric. »Los, schwöre, daß du das Maul hältst!« Dunstan, schoß es Cædmon durch den Kopf. Er ist genau wie Dunstan. Es war ein schrecklicher Gedanke.
Wulfnoths Gesicht war anzusehen, daß es zumindest schon einmal in den ekligen Dreck gedrückt worden war: Es war verschmiert, und unreines Stroh klebte in seinen Haaren. Er weinte leise, schüttelte aber trotzig den Kopf.
»Na schön. Du hast es so gewollt, Schwachkopf«, höhnte Ælfric.
Cædmon wartete nicht, bis sein Ältester seine Drohung wahrmachen konnte. Mit zwei Schritten hatte er die Jungen erreicht. Er packte jeden an einem Oberarm, zerrte sie auseinander, hielt Wulfnoth fest, bis er sicher stand, und verpaßte Ælfric eine so gewaltige Ohrfeige, daß der Junge mit einiger Wucht in den Mist geschleudert wurde.
»Was hat das zu bedeuten?« erkundigte Cædmon sich.
Ælfric rappelte sich auf, klopfte sich das Stroh von der Kleidung und sah seinen Vater trotzig an. Wulfnoth stand reglos und mit gesenktem Kopf da. Harold und Guthrum traten unbehaglich von einem Fuß auf den anderen und warfen ihrem Onkel bange Blicke zu.
»Es wäre klug, wenn du mir antworten würdest, Ælfric«, drohte Cædmon mit mühsam beherrschter Ungeduld.
Doch sein Sohn schüttelte entschieden den Kopf. »Es ist eine Sache zwischen Wulfnoth und mir.«
Furchtlos, erkannte Cædmon nicht ohne Stolz. Auch in dieser Hinsicht glich Ælfric Dunstan, der ihrem Vater ebenso stets die Stirn geboten hatte, vollkommen unbeeindruckt von den zu erwartenden Folgen.
Mehr weil es ihn amüsierte, denn seinen Sohn zu belehren, gab er eine von Jehan de Bellêmes meistzitierten Weisheiten zum besten: »Furchtlosigkeit ist die Tugend der Narren, Ælfric. Sie entsteht nicht aus Mut, sondern aus mangelnder Vorstellungskraft. Der Weise fürchtet sich und läßt sich trotzdem nicht von seinem Weg abbringen. Er wird nur vorsichtig.« Ælfric blinzelte verwirrt. »Was heißt das?«
»Daß du einfach keine Ahnung hast, was dir blüht, wenn du nicht tust, was ich sage.« Er packte ihn hart an der Schulter und zog ihn mit einem Ruck näher. »Jetzt bin ich wieder zu Hause, verstehst du, und jetzt brechen neue Zeiten an. Wenn ich dich noch mal dabei erwische, daß du dir einen Schwächeren vornimmst, bist du fällig. Es ist feige.«
»Ich bin nicht feige«, protestierte Ælfric entrüstet.
»Wirklich nicht? Dann sag mir, was dein Bruder schwören sollte. Ein solcherart erzwungener Schwur wäre übrigens ohnehin nicht bindend gewesen, aber das spielt im Augenblick keine Rolle. Sag es mir. Na los.«
Ælfric schüttelte ohne das geringste Zögern den Kopf. »Nein.«
Cædmon atmete tief durch. Und all das vor dem Frühstück, dachte er fassungslos, nach einer Nacht wie dieser. »Schön, ganz wie du willst. Ihr anderen verschwindet. Wulfnoth, geh dich waschen, und dann hinein mit euch zum Frühstück.«
Harold und Guthrum wandten sich mit hängenden Schultern ab, aber Wulfnoth zögerte.
»Nein, warte, Vater«, bat er leise.
Ælfrics Miene war grimmig entschlossen; ein beinah unheimlicher Ausdruck auf einem so jungen Gesicht. »Halt bloß den Mund, Knirps«, drohte er finster.
Wulfnoth schwankte.
Cædmon machte eine ungeduldige, wedelnde Handbewegung. »Geh nur, Wulfnoth.«
Der jüngere seiner Söhne schüttelte ungewöhnlich entschlossen den Kopf. »Nein.« Seine kleinen Hände ballten sich zu Fäusten, und dann stieß er hervor: »Es ist alles wegen Hereward, Vater. Der Müller von Metcombe versteckt ihn vor den Männern des Sheriffs.«
Cædmon sah fassungslos von einem Sohn zum anderen. »Hereward? Der Wächter?«
Wulfnoth senkte den Blick. »Ja.«
Cædmon atmete tief durch und wandte den Blick zum wolkenverhangenen Himmel. Was kommt als nächstes, Gott?
Er hatte geglaubt, Hereward sei längst tot. Seit acht Jahren hatte niemand von ihm gehört …
»Und er ist in Metcombe?«
Wulfnoth nickte zögernd. »Ælfric wollte, daß ich schwöre, dir nichts zu sagen, weil Hereward ein englischer Held ist. Aber Prinz Henry ist mein bester Freund, Vater. Und Hereward will die Normannen aus dem Land jagen. Also mußte ich es doch sagen, oder?« fragte er flehentlich. Cædmon löste seinen eisernen Griff von Ælfrics Schulter. »Wißt ihr«, sagte er leise, »das wirklich Vertrackte an der Sache ist, daß ihr beide recht habt. Und ihr könnt beide beruhigt sein. Ich werde Hereward nicht dem Sheriff preisgeben, aber ebensowenig wird Hereward die Normannen aus England verjagen, Wulfnoth. Dafür ist es schon lange zu spät. Hereward hatte seine Chance und hat sie vertan.« Er sah zu Ælfric, der seinen Blick mit skeptischer, verschlossener Miene erwiderte. »Du mußt vor allem lernen, daß dein Bruder ein englischer Patriot und trotzdem dem normannischen Königshaus ergeben sein kann, Ælfric.«
Ælfric rieb sich verlegen das Kinn an der Schulter. »Ich glaube nicht, daß das möglich ist.«
Cædmon seufzte. »Doch. Auch wenn es nicht gerade ein leichtes Los ist. Kommt. Laßt uns in die Halle gehen, ehe Aliesa uns vermißt. Und später setzen wir uns zusammen und reden über diese Sache. Es gibt einiges, das ihr lernen müßt, über England, die Normannen und über euch selbst.« Und es ist mein Versäumnis, dachte er, daß Ælfric und Wulfnoth all diese Dinge nicht längst wissen, keinerlei Grundlage haben, um ihren Standpunkt zu finden, sondern nur ihren kindlichen Instinkt und aufgeschnappte Parolen.
Cædmons Haushalt und die Angehörigen des Guts versammelten sich zum Frühstück in der Halle. Alle senkten die Köpfe, während Guthric ein kurzes Tischgebet sprach, und nach einem hastig gemurmelten »Amen« griffen sie zu. Brotlaibe und Haferfladen wanderten die Tische entlang, dünnes Bier plätscherte in die Becher, und Schmalz- und Buttertöpfe wurden herumgereicht. An der hohen Tafel gab es außerdem weißes Brot und Honig, und Cædmon trug der Köchin auf, jedem Kind in der Halle ebenfalls einen Löffel Honig zu geben.
»Ihr verhätschelt Euer Gesinde, Thane«, brummte sie mißfällig.
»Aber wir haben so viel Honig diesen Sommer, daß wir beinah darin ertrinken, Helen.«
»Der nächste Winter kommt bestimmt«, prophezeite sie düster.
»Zweifellos. Aber auch für den Winter wird der Honig reichen. Ich habe eher den Verdacht, du willst, daß wir noch ein Faß Met ansetzen für Mittsommer, he?«
»Aber Thane …«, protestierte sie empört.
Cædmon lachte. »Honig ist wichtig für Kinder, Helen, er fördert das Wachstum. Sie werden größer und kräftiger und können um so besser für mich arbeiten. Du siehst, es ist purer Eigennutz. Wirst du’s tun?« Sie zeigte ihr dünnes, griesgrämiges Lächeln. »Meinetwegen.« Ohne Hast schlurfte sie davon.
Aliesa sah ihr mit einem fassungslosen Kopfschütteln nach, äußerte sich aber nicht.
»Cædmon, ich werde heute vormittag aufbrechen«, sagte Guthric zwischen zwei Bissen. »Ich würde mich zwar viel lieber noch ein paar Tage hier verkriechen, aber ich fürchte, wenn ich nicht bald freiwillig zurückkehre, wird Lanfranc mich holen lassen.«
Cædmon nickte. Er bedauerte, daß sein Bruder sie verließ, aber er verstand, daß Guthric seine Pflichten nicht länger vernachlässigen konnte. »Ich hoffe nur, der Erzbischof wird dir verzeihen, daß du diese Heirat möglich gemacht hast.« Er hatte Lanfrancs Gesicht am Abend von Richards Beerdigung noch sehr lebhaft vor Augen.
»Ach, Cædmon, manchmal bist du ein Unschuldslamm«, erwiderte Guthric lachend und senkte die Stimme, als er fortfuhr: »Lanfranc weiß genau, was in Rouen zwischen dir und Etienne fitz Osbern vorgefallen ist. Unter anderem erhält er regelmäßig schriftliche Berichte von Bruder Maurice, an den du dich gewiß erinnerst. Lanfranc weiß immer alles, verstehst du. Und er wollte, daß du sie heiratest. Denn er glaubt, daß es deine Position letztlich stärken wird, Skandal hin oder her. Und er wollte vermeiden, daß du dich weiter vor der Welt verkriechst und still vor dich hin leidest, denn er möchte, daß du an den Hof zurückkehrst, weil du Einfluß auf den König hast und auf Odo.«
Cædmon winkte ab. »Ich bin Lanfranc für seine Unterstützung dankbar, aber er sollte meinen Einfluß auf William lieber nicht überschätzen. Er ist sehr begrenzt. Der König wird mit zunehmendem Alter nicht einfacher, Guthric. Schon gar nicht, wenn sein Sohn und seine Neffen und Vasallen ihn verraten und von ihm abfallen. Er ist verbittert und jähzorniger denn je.«
Guthric nickte. »Ja, ja. Aber in Rouen erzählt man sich, du seiest der einzige Mann dies- und jenseits des Kanals, der keine Angst vor William habe.«
Dieses Mal war es an Cædmon zu lachen. »Das ist ausgesprochen schmeichelhaft, aber es entspricht leider ganz und gar nicht der Wahrheit.«
Guthric hob die Schultern. »Das macht doch nichts. Wichtig ist, daß sie es glauben. Lanfranc, der Hof, Odo, die Königin, die Prinzen … und William glaubt es auch.«
Cædmon unterdrückte ein Seufzen. »Wenn das stimmt, dann möge Gott mir gnädig sein. Aber wie dem auch sei. Noch ist der König weit weg in Rouen, und ich werde erst anfangen, mich seinetwegen zu sorgen, wenn er zurückkommt. Immerhin ist es ja möglich, daß sein Schiff untergeht, und ich hätte mich umsonst um den Schlaf gebracht.«
»Cædmon …«, schalt Guthric in gespielter Entrüstung.
Der Thane grinste flegelhaft und wechselte das Thema. »Wirst du mir einen Gefallen tun, Guthric? Oder eigentlich sind es zwei.«
Guthric trank einen Schluck. »Und zwar?«
»Schreib dem Bischof von Elmham und ersuche ihn, möglichst bald herzukommen und meine Kirche zu weihen.«
»Das wird er liebend gern tun. Und zweitens?«
»Schick mir einen jungen normannischen Mönch her, der meine Söhne erzieht. Ich will, daß sie normannische Sitten lernen und vor allem die Sprache. Er soll Edelleute aus ihnen machen, verstehst du. Damit sie im normannischen England bestehen können, wenn sie erwachsen sind, und Ælfric nicht am Galgen endet.«
Guthric nickte nachdenklich. »Glaubst du nicht, Wulfnoth wäre in einer Klosterschule am besten aufgehoben?«
»Nein, noch nicht. Er ist zu jung.«
»Je jünger, desto besser«, entgegnete Guthric.
Doch Cædmon schüttelte entschieden den Kopf. »Erst einmal soll er sich einen Platz in der Welt suchen. Wenn er ein gelehriger Schüler ist, kann er meinetwegen Latein lernen, dagegen habe ich nichts. Aber ich will, daß sie vorläufig beide in Helmsby bleiben.«
Guthric seufzte. »Und wieder ist ein vielversprechender junger Geist für die Kirche verloren … Aber du hast schon recht. Er kann die Entscheidung später immer noch treffen. Ich werde einen guten Lehrer für die beiden suchen«, versprach er und sah zu seinen Neffen hinüber. Wulfnoth verfütterte sein Frühstück heimlich an den treuen alten Grim, der ihm schwanzwedelnd zu Füßen lag, und Ælfric tauschte mit seinem Vetter Harold unter dem Tisch Knuffe und Tritte. »Es wird nicht so einfach sein, jemanden zu finden, der Ælfric Respekt einflößen kann, aber Wulfnoth keine angst macht«, bemerkte Guthric.
»Nein«, stimmte Cædmon zu. »Wir bräuchten einen zweiten Bruder Oswald.«
Guthric lächelte unwillkürlich, als er an seinen Mentor und Prior erinnert wurde. »Der gute Oswald. Er wollte nichts weiter als seine Ruhe, um sich in seinem Kloster in Winchester ganz dem Studium der Heiligen Schrift zu widmen, aber seit er mit Hyld Odos berühmten Teppich entworfen hat, will jeder normannische Adlige in England ein Buch von ihm. Es ist eine regelrechte Mode. Und Oswalds Abt ist dem Reiz des Geldes verfallen und verhökert Oswalds Dienste wie ein Zuhälter die seiner Hure. Ich hörte, Oswald sei verzweifelt.«
Cædmon grinste. »Er hat sich bestimmt auch schon so manches Mal gewünscht, Harold Godwinson hätte damals nicht ausgerechnet ihn mit in die Normandie genommen …«
Die Mahlzeit ging zu Ende; die Leute standen von den Bänken auf, um ihr Tagewerk zu beginnen, Mägde sammelten Becher und Schüsseln ein. Guthric winkte eins der Mädchen zu sich und sagte: »Lauf zum Pferdestall hinüber und sag Ine, daß ich in einer Stunde aufbrechen will.«
Sie nickte und wollte sich auf den Weg machen, aber Hyld hielt sie zurück. »Laß nur, Martha, ich wollte sowieso gleich zu Ine.«
Cædmon sah seine Schwester scharf an. »Wozu?«
Hyld erwiderte seinen Blick offen und antwortete unschuldig: »Ich muß Kranke besuchen und brauche ein Pferd, wenn’s recht ist.«
»Natürlich. Entschuldige, Hyld. Solange es nichts mit deiner Freundin Gunnild zu tun hat …« Aus dem Augenwinkel sah er, daß Alfred sich erhoben hatte und davonschleichen wollte, und sagte: »Nein, bleib noch einen Moment, Vetter, sei so gut.«
Hyld und Alfred tauschten einen schuldbewußten Blick, der Cædmon alles sagte, was er wissen wollte. Er wartete, bis Guthric und die Jungen aufgestanden waren und auch Irmingard mit ihrer zweijährigen Agatha auf dem Arm und deren Großvater im Schlepptau davongegangen und nicht mehr in Hörweite war. Dann wandte er sich an Aliesa und erklärte: »Ine, der Stallknecht, will meine Erlaubnis zur Heirat mit Gunnild, der Tochter von Offa, dem Schmied. Offa ist ein angesehener, freier Mann. Die Verbindung ist undenkbar. Ich habe mich gefragt, wie Ine dazu kommt, einen solchen Gedanken auch nur zu äußern, aber jetzt sehe ich, daß er für diesen Irrsinn die Unterstützung meiner Schwester und meines Stewards hat.«
Aliesa dachte nicht daran, sich zu der Sache zu äußern, ehe sie mehr darüber wußte, und Hyld nutzte ihr Schweigen, um ruhig zu fragen: »Wieso ist es so undenkbar, Cædmon? Sie will es und er auch.«
»Aber ich nicht und ihr Vater gewiß auch nicht«, entgegnete Cædmon. »Er würde mit seinem Hammer auf mich losgehen, wenn ich diese alberne Idee unterstützte, und zu Recht. Meine Güte, was ist nur in euch gefahren? Die Tochter eines Freien kann keinen Sklaven heiraten, das wißt ihr so gut wie ich!«
»Ah ja?« fragte Hyld. Dann stützte sie die Hände auf den Tisch, lehnte sich leicht vor und sagte: »Ich hab’s getan, Cædmon, und ich würde es morgen wieder tun.«
»Das war etwas anderes …«, widersprach er ungeduldig.
»Keineswegs.«
»Eriks Großvater war ein Bruder des Königs von Norwegen, Ines Großvater war ein Raufbold, der einen Housecarl unseres Großvaters erschlug und kein Wergeld zahlen konnte, verstehst du, das ist der Unterschied.«
»Ich sehe nicht, was unsere Großväter mit dieser Sache zu tun haben …«
»Hör zu, Hyld, damit das ein für allemal klar ist …«
»In dem Ton brauchst du mir überhaupt nicht zu kommen, Bruder …« »Verdammt, Alfred, würdest du vielleicht auch mal was sagen …«
»Ähm, Cædmon, ich …«
»Augenblick mal«, mischte sich Aliesa energisch ein und war verblüfft über die Wirkung. Alle drei verstummten und sahen sie an. »Ich habe einige Fragen«, fuhr sie fort.
Es herrschte ein kurzes, unsicheres Schweigen, dann nickte Cædmon ihr zu. »Bitte.«
»Wie alt ist das Mädchen?« wollte sie wissen.
Hyld überlegte kurz. »Etwa so wie ich. Mitte Zwanzig. Zwei, drei Jahre älter als Ine.«
»Und warum ist sie nicht längst verheiratet? Wenn ihr Vater ein angesehener, vermutlich nicht armer Mann ist, warum hat er sie nicht längst ordentlich unter die Haube gebracht?«
»Weil sie ihrem Vater und ihren Brüdern das Haus führen muß, seit ihre Mutter tot ist«, erklärte Hyld. »Offa hat nicht wieder geheiratet, und seine Söhne haben es auch nicht eilig damit. Also lassen sie Gunnild für sich schuften; das ist billiger, als eine Magd zu nehmen, der sie einen Penny die Woche zahlen müßten.«
»Also ehrlich, Hyld, es ist unmöglich, was du da redest«, protestierte Cædmon aufgebracht.
»Leider nicht, denn es ist wahr«, entgegnete sie. »Außerdem hat Gunnild furchtbar schlechte Augen. Ich hab’ es vor drei Jahren gemerkt, als sie mit am Teppich gearbeitet hat, obwohl sie so tapfer versucht hat, es geheimzuhalten. Aber mittlerweile ist es bekannt, darum stehen die Heiratskandidaten nicht gerade Schlange. Kann sein, daß sie blind wird. Aber Ine ist es egal, denn er liebt sie. Ich dachte, du wüßtest, was das heißt.«
Cædmon fuhr wütend auf, doch seine Frau kam ihm zuvor. »Aber Hyld, selbst wenn Cædmon seine Meinung ändern würde …«
»Wird er nicht«, grollte er und verschränkte trotzig die Arme.
»… wie in alle Welt will sie die Zustimmung ihres Vaters bekommen?« beendete Aliesa ihre Frage.
Hylds gewaltiger Zorn, den sie an Stelle ihrer Freundin aus Kindertagen empfand, entlud sich über dem unschuldigen Haupt ihres Vetters: »Du bist verdächtig still, Alfred! Immerhin hast du Ine auf diese verrückte Idee gebracht, Cædmon zu fragen, ehe ich mit ihm reden konnte, und jetzt sitzt du da und sagst keinen Ton!«
Der gutmütige Alfred warf ihr einen verschämten Blick zu, verschränkte die Hände auf der Tischplatte und wandte sich mit einem unbehaglichen Räuspern an Aliesa. »Madame, jetzt wird es … nun ja, delikat. Ich denke, es wäre besser, wenn ich diesen Teil der Angelegenheit mit Cædmon allein bespräche.«
Hyld stöhnte. »Oh, Alfred, du bist hoffnungslos!« Sie wandte sich an Aliesa und Cædmon. »Letzten Winter bekam Gunnild ein Kind. Es ist nur eine Woche alt geworden, aber man konnte sehen, daß es nicht normal war. Mißgestaltet und der Kopf viel zu groß.«
Cædmon runzelte mißfällig die Stirn, so als habe er vorübergehend vergessen, daß er selbst zwei Bastarde in die Welt gesetzt und die Frau seines besten Freundes geschwängert hatte. »Von Ine?«
Hyld schüttelte den Kopf. »Von ihrem Vater, sagt sie, und ich habe keinen Grund, an ihrem Wort zu zweifeln.«
»Großer Gott …«, Cædmon raufte sich die Haare.
»Offa streitet es natürlich ab«, fügte Alfred hinzu. »Aber Hyld hat recht, warum sollte Gunnild es sagen, wenn es nicht wahr wäre? Die Schande ist für sie schließlich genauso groß wie für ihren Vater. Und denk an die Torfstecher in den abgelegenen Dörfern im Moor, jeder weiß, daß sie mehr schwachsinnige und mißgestaltete Kinder haben als andere Leute, weil sie immer nur untereinander heiraten. Jetzt will jedenfalls niemand Gunnild mehr haben. Eine halbblinde, eigentlich schon zu alte Frau, die ein verkrüppeltes Kind geboren hat. Für Gunnild heißt es, Ine oder keiner. Ine oder bald das nächste Balg, dessen Vater sein Großvater ist.«
»Oder sein Onkel«, warf Hyld ein. »Denn Gunnilds Brüder meinen, was ihr Vater dürfe, dürften sie erst recht.« Sie schüttelte seufzend den Kopf. »Gott, Aliesa, du mußt die Engländer für Barbaren halten …« Aliesa hob abwehrend die Hand. »Ich habe eine Hälfte meines Lebens in der Normandie verbracht, die andere in England, Hyld, und wenn ich eines gelernt habe, dann, daß die Menschen überall gleich sind.« Sie sah zu Cædmon. »Was sagst du nun?«
Er rieb sich das immer noch unrasierte Kinn und dachte nach. »Na ja, ich sehe, die Sache ist komplizierter, als ich angenommen hatte«, räumte er schließlich ein. »Aber mir ist immer noch nicht klar, wie ihr Offa dazu bewegen wollt, seine Zustimmung zu geben.«
Hyld und Alfred tauschten einen Blick, und er sagte: »Wenn du zu Offa gehst und ihm die Hölle heiß machst und ihm androhst, ihn wegen Blutschande vor einem dieser neuen normannischen Kirchengerichte anzuklagen, wird er klein beigeben. Er ist ein Hasenfuß.«
»Wie könnte ich ihn anklagen, wenn es keine Zeugen gibt?«
»Sag ihm, er werde sich einem Gottesurteil unterziehen müssen«, schlug Hyld vor.
»Aber es gibt bei kirchlichen Gerichten keine Gottesurteile …«
»Meine Güte, Cædmon, das weiß der Schmied doch nicht!« unterbrach Hyld ungeduldig. »Lüg ihm was vor und mach ihm angst. Er hat es verdient.«
»Ja, zweifellos, Hyld, du vergißt nur, daß ich grundsätzlich immer noch gegen Heiraten zwischen Freien und Unfreien bin.«
»Warum?« wollte Aliesa wissen.
»Weil es stets Ärger über die Frage gibt, ob die Kinder aus diesen Ehen frei oder unfrei sind. Es bringt immer Hader und Unfrieden. Und selbst wenn Gunnild heute vor zwei Dutzend Zeugen erklärt, auf alle Rechte ihres Standes zu verzichten, wird ihr Sohn eines Tages zu mir oder meinem Sohn kommen und sagen: ›Ich bin ein freier Mann und schulde dir keinen Frondienst.‹«
»Es würde dich nicht ruinieren«, murmelte Hyld.
»Darum geht es nicht«, erwiderte er gereizt.
Hyld öffnete den Mund, doch dann fing sie Aliesas Blick auf und sah das angedeutete Kopfschütteln ihrer Schwägerin. Mit einem verstohlenen Verschwörerlächeln in Hylds Richtung legte Aliesa Cædmon die Hand auf den Arm und sagte: »Du mußt es ja nicht jetzt entscheiden. Schlaf eine Nacht darüber.«
Mittsommer war immer ein rauschendes Fest, zu dem ein jeder an Speisen und Getränken beisteuerte, was er nur konnte. Doch in diesem Jahr übertraf das Festmahl alles, was man in Helmsby je gesehen hatte, denn der Thane hielt Wort und richtete anläßlich seiner Vermählung einen wahren Festschmaus für das ganze Dorf aus. Zwei Ochsen wurden am Spieß gebraten, fünf Lämmer und ungezählte Hühner mußten ihr Leben lassen, wahre Berge an Broten und Honigkuchen und Pasteten wurden gebacken, und es gab genug Met und Bier, daß jeder Mann und jede Frau von Helmsby sich zur völligen Besinnungslosigkeit hätte betrinken können.
Darüber hinaus war es der Hochzeitstag von Ine und Gunnild, ein Umstand, der bei den Brautleuten strahlende Glückseligkeit und bei den übrigen Dorfbewohnern je nach Sichtweise Befremden oder Genugtuung hervorrief.
»Ich frage mich nur, wie Hyld den Thane dazu überredet hat«, raunte Eadgyth, die Melkerin, ihrer Freundin Seaxburh zu, die mit einem der kleinen Pächter verheiratet war.
»Helen sagt jedenfalls, sie hätten gewaltig gezankt deswegen«, wußte Seaxburh zu berichten. »Ah, da kommt der Mann, der uns sicher mehr sagen kann.«
Onkel Athelstan trat lächelnd zu den beiden jungen Frauen, einen Becher in der Hand. »Ist das nicht ein ganz wunderbarer Met, Seaxburh?«
Sie nickte. »Das ist es.«
Athelstan kniff der jungen Eadgyth liebevoll in die Wange. »Und wer springt heute abend für dich übers Feuer, he?«
Das Mädchen errötete heftig und senkte den Blick. »Oswin der Müllerssohn, will ich hoffen.«
»Ah. Ein wackerer Bursche. Gott, ich gäbe allen Met der Welt darum, noch einmal so jung zu sein wie ihr …«
Sie lachten, und Seaxburh mutmaßte: »Das sagt Ihr nur, weil Ihr sicher seid, daß Ihr nicht beim Wort genommen werdet.«
Athelstan grinste breit.
Eadgyth nickte verstohlen in Richtung der Brautleute und fragte: »Und werdet Ihr uns verraten, wie Hyld das angestellt hat? Ich hätte jede Wette gehalten, daß der Thane niemals zustimmt.«
Athelstan hob mahnend einen Zeigefinger. »Da siehst du, welch gefährliches Laster das Glücksspiel ist. Weitaus gefährlicher als der Trunk. Nein, es war nicht Hyld, die dieses beachtliche Wunder gewirkt hat, sondern die zauberhafte Lady Aliesa.«
Die beiden Frauen starrten ihn ungläubig an. »Die Normannin?«
Er nickte nachdrücklich. »Die Perle ihres Volkes.«
»Aber … wie?« wollte Seaxburh wissen.
»Wie soll ich das wissen, Kind? Bin ich vielleicht eine Maus, die im Stroh unter ihrem Bett wohnt? Abends hat er noch nein gesagt und mit Hyld gestritten, daß die Fetzen flogen, und am nächsten Morgen war er zahm wie ein Lämmchen und gab seine Erlaubnis.« Er hob vielsagend die breiten Schultern. »Ein liebestoller Narr stellt dem anderen kein Bein, schätze ich.«
Seaxburh und Eadgyth folgten seinem Blick. Der Thane stand mit seiner normannischen Gemahlin am Rand der Dorfwiese im Schatten der Kastanie, die dort wuchs, hatte einen Arm um ihre Schultern gelegt, steckte ihr mit der anderen Hand irgendeine Leckerei in den lachenden Mund und flüsterte ihr etwas ins Ohr, woraufhin sie die Unterlippe zwischen ihre herrlichen weißen Zähne nahm und ihm tief in die Augen sah.
»Ja«, stimmte Seaxburh trocken zu, »ich verstehe, was Ihr meint.« Doch sie irrten sich. Nicht mit Liebeskünsten, sondern mit praktischen Vorschlägen hatte Aliesa Cædmon überzeugt. Laß sie heiraten und gib ihnen ein Stück Land, hatte sie gesagt. Mach sie zu Pächtern, und den geschuldeten Frondienst leistet Ine dir nicht auf deinen Feldern, sondern bei den Pferden, denn darauf versteht er sich. Er, seine Frau und seine Familie werden nicht mehr an deinem Tisch essen, sondern an ihrem eigenen, und so sparst du Geld. Gib ihnen Land, Saatgut, zwei Ochsen, ein Haus und ein paar Möbel, und als Gegenleistung müssen sie sich einverstanden erklären, daß sie und ihre Nachkommen auf alle Rechte verzichten, die sich eventuell aus Gunnilds Stand ableiten lassen. Und damit diese Vereinbarung nicht in Vergessenheit geraten kann, werden wir sie in einer Urkunde schriftlich festhalten, die auch in hundert Jahren noch vor jedem Gericht Bestand haben wird.
Auf diese einfache Lösung wäre Cædmon von selbst nie gekommen, denn auch wenn er Lesen gelernt hatte, war das geschriebene Wort in seiner Vorstellung doch immer noch etwas Fremdartiges, etwas, das in die Klöster und Kirchen gehörte und in seinem Alltag nichts verloren hatte. Aber er mußte zugeben, daß es in diesem Fall die Antwort auf das Problem war. Noch vor dem Frühstück am nächsten Morgen hatte er mit Hyld und mit Alfred gesprochen, der sich sofort bereiterklärte, Ine alles beizubringen, was er über das Pflügen, Eggen, Säen und Ernten vielleicht noch nicht wußte. Als Alfred dann nach dem Essen mit Ine gesprochen und Cædmon gesehen hatte, wie das finstere, bleiche Gesicht sich allmählich aufhellte und dann erstrahlte, erst da war Cædmon der Gedanke gekommen, daß er und Ine tatsächlich etwas gemeinsam hatten, das alle Grenzen von Stand, Stellung und Geburt überwand, so als teilten sie ein Geheimnis. Und als der junge Stallknecht mit leuchtenden Augen zu ihm herübergeschaut hatte, hatte Cædmon gelächelt, nicht herablassend, nicht gönnerhaft, sondern aus purer Freude.
»Und was geschieht nun?« fragte Aliesa und wies auf den gewaltigen Scheiterhaufen, der in der Mitte der Dorfwiese aufgetürmt worden war. »Natürlich feiern die Leute in Herefordshire auch Mittsommer, aber ich war nie dabei.«
»Tja … Irgendein Junge wird gleich auf diesen Baum hier klettern. Es ist immer einer der vorwitzigsten, also wird es vermutlich mein Sohn Ælfric sein. Er muß die Sonne genau im Auge behalten, und in dem Moment, da sie untergeht, muß das Feuer entzündet werden. Es ist ein uralter, heidnischer Brauch, verstehst du. Die lebensspendende Kraft der Sonne geht über ins Feuer. Es wird mächtig aufgeschürt, die Flammen müssen so hoch wie möglich schlagen. Denn es heißt, das Korn wird so hoch wie die Flammen des Mittsommerfeuers. Und das ist der Zeitpunkt, da du und ich uns zurückziehen werden.«
Sie nahm den Metbecher, den er ihr hinhielt, und trank, ehe sie fragte: »Und was geschieht, nachdem wir uns zurückgezogen haben?«
»Die Leute singen und tanzen ums Feuer, bis es heruntergebrannt ist. Dann springen die jungen Burschen für ihre Angebeteten übers Feuer. Wer es als erster wagt, ist ein großer Held. Und nach und nach wird es am Feuer immer leerer und stiller, während die Paare sich allesamt in Feen verwandeln und im Gebüsch verschwinden …«
Sie zog erschrocken die Luft ein und lachte, halb schockiert, halb belustigt. »Cædmon! Ist das wahr?«
Er nickte mit einer Grimasse komischer Zerknirschung. »Ich fürchte, ja. Wie gesagt, es ist ein sehr alter Brauch. Ein, ähm … Fruchtbarkeitsritus, verstehst du.«
»O ja.«
»Er stammt aus der Zeit, ehe die Angeln und Sachsen das alte Britannien eroberten. Es heißt, die jungfräulichen Priesterinnen jener Zeit gaben sich in der Mittsommernacht eigens dafür ausgesuchten Männern hin, die anschließend verbrannt wurden, um sie ihrer Göttin zu opfern.«
Sie verzog das Gesicht. »Das ist ja gräßlich.«
»Und vermutlich nicht wahr, aber ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Ich weiß nur, daß die Eroberer immer häßliche Lügen über die Eroberten erfinden, um deren Unterdrückung zu rechtfertigen. So wie Warenne behauptet, alle Northumbrier seien Heiden und beten zu Odin, was vollkommen lächerlich ist.«
Sie nickte, war aber in Gedanken bei der Mittsommernacht. »Und bist du auch einmal für ein Mädchen übers Feuer gesprungen, Cædmon? Und so weiter?«
Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich war ein unschuldiger Knabe von vierzehn, als mein Vater mich in die Normandie schickte. Abgesehen davon durften meine Geschwister und ich nie bleiben, wenn meine Eltern das Fest kurz nach Entzünden des Feuers verließen. Dunstan ist natürlich immer zurückgeschlichen, brüstete sich tags darauf mit seinen Taten und kassierte Prügel. Aber nie besonders schlimm. Mein Vater tat es nur, weil meine Mutter darauf bestand. Insgeheim klopfte er Dunstan auf die Schulter. Vermutlich wäre er selbst gern bis Sonnenaufgang dabei geblieben. So wie Onkel Athelstan hierbleiben wird. Und Alfred und Irmingard.«
Ælfric kam angerannt und hielt unter der Kastanie. Harold und zwei Jungen aus dem Dorf folgten ihm dicht auf den Fersen, aber Ælfric berührte den Stamm als erster. »Ich war der Schnellste! Ich darf hinauf! Nicht wahr, Vater?«
Cædmon nickte. »Du warst der erste, ja. Laß sehen.« Er und Aliesa traten zurück und machten Platz.
Ælfric sprang mit aller Kraft ab und versuchte, den untersten Ast des gewaltigen Baums zu fassen zu kriegen, aber er war zu hoch. Er versuchte es zweimal, dreimal, unermüdlich, aber jedesmal verfehlte er den Ast um wenigstens einen Zoll.
Cædmon hob seufzend die Schultern. »Wie du siehst, ist es nicht immer damit getan, der Schnellste zu sein.«
»Hilfst du mir?« fragte der Junge.
»Nein, das ist gegen die Regeln.«
»Aber die Sonne geht unter!« flehte Ælfric verzweifelt.
»Dann solltest du dir schnell etwas einfallen lassen.«
Ælfric sah sich mit hochrotem Kopf um. »Harold …?«
Sein Vetter schnaubte. »Das kannst du vergessen.« Offenbar hatte Ælfric unlängst irgend etwas getan, um sich Harolds Freundschaft vorübergehend zu verscherzen.
Plötzlich stand Wulfnoth neben ihm. Cædmon war schon gelegentlich aufgefallen, daß der Kleine eine fast unheimliche Gabe hatte, sich lautlos zu bewegen.
»Ich werd’ dir helfen, Ælfric«, erbot er.
Ælfric stieß erleichtert die Luft aus und winkte ihn näher. »Mach eine Räuberleiter, los.«
Wulfnoth trat neben ihn. »Die Sache hat einen Preis. Du mußt mir einen Wunsch erfüllen.«
»Was?« fragte Ælfric ungeduldig.
»Das sage ich dir anschließend.«
»Überleg dir gut, was du tust, Ælfric, nachher gibt es kein Zurück«, warnte Cædmon beiläufig.
Aber das Nachher war weit weg, nur das Jetzt galt für Ælfric. »Einverstanden. Los, los, mach schon!«
Wulfnoth verschränkte die Hände ineinander, Ælfric stellte einen Fuß hinein, packte die schmächtige Schulter seines Bruders und hangelte sich hoch. Im Nu war er zwischen dem dichten Laub verschwunden; Zweige knackten, ein paar lange Fingerblätter schwebten zu Boden, und dann erschien Ælfrics Kopf bedenklich weit oben in der Krone. »Sie ist schon mehr als halb weg!« brüllte er aufgeregt.
Cædmon sah grinsend zu ihm auf. »Laß sie nicht aus den Augen, jetzt geht es ziemlich schnell!« riet er. Dann blickte er kurz auf Wulfnoth hinab und murmelte: »Ich will nicht wissen, wie dein Wunsch lautet, aber mach ihm klar, daß ich die Einhaltung seines Versprechens überwache. Wenn er versucht, sich zu drücken, sagst du es mir.«
Wulfnoth lächelte ihn an, seine Miene zeigte verschmitzte Schadenfreude und vollkommenen Triumph.
Aliesa fuhr ihm lachend durch die weichen Locken. »Du bist ein kluger kleiner Bursche, Wulfnoth. Ich glaube, Ælfric wird den freien Blick auf die untergehende Sonne noch bereuen.«
»Das glaub’ ich auch.«
Etwa alle zwanzig Herzschläge gab Ælfric den aktuellen Sonnenstand durch, was jedesmal mit Gelächter und ausgelassenem Applaus zur Kenntnis genommen wurde. Dann war es endlich soweit: »Jetzt! Jetzt! Sie geht unter!«
Seaxburhs Mann reichte die brennende Fackel an Onkel Athelstan, der sie einmal feierlich schwenkte und dann in den Holzstapel stieß. Augenblicklich begann es zu züngeln und zu prasseln, und die versammelten Einwohner von Helmsby brachen in lauten Jubel aus.
»Legt mehr Holz auf«, rief Athelstan mit donnernder, metgeölter Stimme. »Laßt die Flammen bis zum Himmel schlagen, auf daß euer Korn bis in den Himmel wachse und niemand in Helmsby Not leiden muß!« Er selbst nahm einen Scheit vom Vorratsstapel und warf ihn ins Feuer, und die jungen Männer, Frauen und auch die Kinder folgten seinem Beispiel. Schnell wie ein Eichhörnchen war Ælfric aus dem Baum geklettert, schwang einen Moment vom unteren Ast, ließ sich fallen und rannte zum Feuer, sein Versprechen vergessend. Wulfnoth folgte ihm langsamer.
Die Alten saßen im Gras einen Steinwurf vom Feuer entfernt und erfreuten sich an Lammbraten, weichem Hühnchenfleisch und Met, die Kinder rannten lachend und schreiend um das Feuer herum und hörten nicht auf die ängstlichen Warnungen ihrer Mütter.
Cædmon und Aliesa verfolgten das frohe Treiben, gingen Arm in Arm von Gruppe zu Gruppe und redeten mit den Leuten, und als das Feuer seinen Höhepunkt überschritten hatte und knisternd begann, in sich zusammenzufallen, raunte Cædmon seiner Frau zu, daß es Zeit sei zu gehen.
Sie willigte ein. »Obwohl ich nichts dagegen gehabt hätte zu sehen, wie du für mich übers Feuer springst«, flüsterte sie. »Ich glaube, das könnte mir gefallen.«
»Aber ich brenne doch so schon für dich«, gab er zurück.
Sie lachte anerkennend. »Sehr schlagfertig«, lobte sie und sah sich auf der dunklen Dorfwiese um. »Wo sind die Kinder?«
»Hyld sammelt sie ein und bringt sie nach Hause.«
Aliesa nickte versonnen. »Ja, ich kann mir vorstellen, daß sie nicht hierbleiben will. Dies ist keine Nacht für die Einsamen.«
»Nein, wirklich nicht«, stimmte er zu, sann einen Moment über das Los seiner Schwester nach, und Aliesa sagte, was er dachte:
»Es kann nicht leicht sein. Nicht nur die Ungewißheit und die Angst. Aber die lange … na ja, Enthaltsamkeit.«
»Ja«, stimmte er seufzend zu. »Wer wüßte das besser als du und ich.« Sie lehnte den Kopf an seine Schulter und murmelte: »Wenn du mit dem König in den Krieg ziehst, wird es mir genauso ergehen wie Hyld. Das ist das Los der Frauen.«
Und ich werde in irgendeinem tristen Schlammloch festsitzen und mich fragen, ob du mir treu bist. Das ist das Los der Männer, dachte er, sagte aber nur: »Darüber können wir uns grämen, wenn es soweit ist.« Sie schlenderten über die Wiese und wollten sich unauffällig davonstehlen, als plötzlich ein Schatten vor ihnen aufragte. Cædmon schrak zusammen und legte die Hand an das Heft seines Schwerts. »Wer ist da?«
»Thane, ich … hatte noch keine Gelegenheit, mit Euch zu sprechen.« Es war Ine. Cædmons Augen hatten sich inzwischen auf das Dunkel eingestellt, und er erkannte Gunnild an der Seite ihres Bräutigams. »Wir wollten Euch danken«, murmelte der Stallknecht verlegen.
»Und Euch auch, Lady«, fügte Gunnild hinzu, und nach einem kurzen Zögern ergriff sie Aliesas Hand und führte sie kurz an die Lippen. »Gott hat Euch nach Helmsby geschickt.«
Aliesa blinzelte verwirrt, sah mit einem unsicheren Lächeln zu Cædmon und sagte dann impulsiv: »Du hast recht, Gunnild. Auf langen Umwegen, aber hier bin ich. Möge er euch segnen, wie er mich gesegnet hat.«
Früh am nächsten Morgen brachen Aliesa und Hyld mit Odric und Edmund als Begleitung nach Fenwick auf, um Lucien aufzusuchen, und Cædmon blieb mit Zweifeln und von bösen Ahnungen geplagt in Helmsby zurück.
Alfred saß kreidebleich an seiner Seite und gab ein schwaches Wimmern von sich, als Helen ihm eine Schale mit Hafergrütze vorsetzen wollte.
»Nimm das bloß weg«, murmelte er gequält.
In der Halle war es still wie bei einem Begräbnis. Das ist das Schlimme am Met, dachte Cædmon nicht zum erstenmal. Er ist süß und süffig und stimmt selbst den schrecklichsten Wüterich friedlich, aber der Jammer am nächsten Morgen ist unsäglich. Cædmon wußte genau, wie sein Vetter, seine Housecarls und sein Gesinde sich fühlten: als sei ihr Magen randvoll mit Galle und ihr Kopf so groß wie die neue Kirche von Helmsby. Onkel Athelstan war nicht einmal aufgestanden.
»Deine Frau ist fort?« fragte Alfred matt.
Cædmon nickte und hielt ihm einen Steinguttopf unter die Nase. »Ein wenig Schmalz, Vetter?«
Alfred wandte stöhnend den Kopf ab, den er gleich darauf mit einer schmerzlichen Grimasse in den Händen vergrub. »Hab Erbarmen, Thane …«
Cædmon stellte den Schmalztopf grinsend beiseite.
Alfred riß sich zusammen und richtete sich auf. »Hör zu, Cædmon. Es gibt eine wichtige Sache, die ich dir sagen muß, aber in den vergangenen Tagen war es unmöglich, dich allein zu erwischen.«
Cædmon nahm einen Zug aus seinem Becher. »Jetzt bin ich allein.« »Ja. Versteh mich nicht falsch. Sie ist eine wunderbare Frau, das habe ich dir damals schon gesagt. Aber bei dieser Sache war ich nicht sicher … Sie ist Normannin, und ihr Bruder ist der Sheriff …«
Cædmon sah ihn aufmerksam an. »Ich bin ganz Ohr, Alfred.«
Der Steward atmete tief durch und rang sichtlich um Mut. »Es ist … eine vertrackte Geschichte. Aber brüll mich nicht an, Cædmon, ja? Nicht heute. Schlag mir morgen den Schädel ein.«
»Du hast mein Wort.«
Alfred deutete ein Nicken an und schloß einen Moment die Augen. »Es geht um diesen verfluchten Bastard Hereward.«
Cædmon stieß hörbar die Luft aus. »Gott sei Dank, Alfred«, sagte er leise. »Ich fing ernstlich an zu befürchten, du wolltest es mir nicht sagen.«
Alfred ließ die stützende Hand von seiner Stirn sinken. »Du weißt es?«
»Daß er in Metcombe ist und der Müller ihn versteckt, ja. Ist er allein?« »O ja. Hereward ist so allein wie ein Mann nur sein kann. Cædmon, denk nicht, ich habe Vorbehalte gegen deine Frau, aber ich war einfach nicht sicher …«
Cædmon winkte beruhigend ab. »Das verstehe ich. Und vielleicht ist es sogar wirklich besser, daß sie im Augenblick noch nichts davon weiß, denn sie ist zu ihrem Bruder geritten, und es hätte sie sicher belastet, dieses Geheimnis mit dorthin zu nehmen.« Er brach ein Stück Brot ab, steckte es in seinen Beutel, dann leerte er seinen Becher. »Ich reite nach Metcombe.«
»Ich komme mit«, verkündete Alfred mit grimmiger Entschlossenheit. Cædmon schüttelte grinsend den Kopf und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Bleib lieber hier und schlaf dich aus.«
»Cædmon, du solltest auf keinen Fall allein hinreiten«, warnte der Steward eindringlich. »Hereward mag am Ende und von allen Getreuen verlassen sein, aber er ist immer noch gefährlich. Wie ein Bär in der Falle. Nimm ein paar der Männer mit, ich bitte dich.«
Cædmon überdachte den Rat einen Augenblick und schüttelte dann den Kopf. »Wenn ich die Housecarls mitnähme, könnte es dazu kommen, daß Engländer im Streit um einen Engländer Engländer töten, weil ein normannischer Sheriff und ein normannischer König ihnen im Nacken sitzen. Und das will ich nicht.«
Alfred sah ihn aus blutunterlaufenen Augen unglücklich an und nickte unwillig. »Aber sei vorsichtig, Thane. Hengest glaubt, du seiest schuld an allem, was Hereward geschehen ist.«
»Und in gewisser Weise hat er recht. Ich gebe schon auf mich acht, keine Bange.«
Ehe der Uferpfad den Wald verließ und auf die Dorfwiese von Metcombe einmündete, saß Cædmon ab und band Widsith an eine junge Birke. Der scharfe Ritt hatte das wackere normannische Schlachtroß erschöpft, und Cædmon mußte sich eingestehen, was er eigentlich nicht wahrhaben wollte: Widsith wurde alt. Lange würde er ihn nicht mehr tragen. Lautlos schlich Cædmon zum Waldrand, legte sich auf den farn- und moosbedeckten Boden und robbte durchs Gebüsch, bis er einen klaren Blick auf die Mühle hatte. Nichts rührte sich. Die Asche des Mittsommerfeuers auf der Wiese rauchte noch hier und da, und wahrscheinlich litten auch die Leute von Metcombe an den Folgen der vergangenen Nacht. So betrachtet, hätte er kaum einen besseren Tag für diesen Besuch wählen können. Die Morgensonne begann zu klettern, fand hier und da einen Weg durch das Laub der Bäume und Sträucher und wärmte ihm den Nacken. Er konnte warten. Er hatte schon schlechter und kälter und nasser auf der Lauer gelegen. Verträumt rupfte er einen Grashalm aus, steckte ihn zwischen die Lippen und dachte an seine Frau, die jetzt vielleicht den halben Weg zu ihrem Bruder zurückgelegt hatte. Er fragte sich, was sie wohl vorfinden würde. Vor allem um ihretwillen hoffte er, daß Lucien Einsicht zeigen werde. Cædmon wußte genau, daß Aliesa mit der Ablehnung des Hofes und des normannischen Adels leben konnte, wenn nur ihr Bruder zu ihr stand. Er stützte das Kinn auf die verschränkten Hände und malte sich die Zukunft aus, überlegte, wie es wohl sein würde, wenn sie eine Tochter oder einen Sohn bekämen, was geschehen würde, wenn der König zurückkam, ob es Krieg mit Schottland geben mochte und ob sie endlich Ruhe vor den Dänen haben würden. All diese Fragen beschäftigten seine Gedanken so sehr, daß er kaum wahrnahm, wie die Zeit verging. Als die Tür zur Mühle sich endlich öffnete, war es fast Mittag.
Gytha trat aus dem Haus, einen Leinenbeutel in der Hand. Cædmon lächelte unwillkürlich, als er sie sah. Gytha mußte um die Dreißig sein, war eine gestandene Frau und hatte inzwischen sieben Söhne geboren. Nicht mehr das gertenschlanke, scheue Mädchen, das nach Rauch und Milch roch. Doch die ungezierte, natürliche Anmut war immer noch dieselbe, und ihr Anblick berührte Cædmon auf die gleiche Weise wie eh und je.
Hengest folgte ihr ins Freie, sagte etwas, und Gytha nickte, reichte ihm den Beutel und sah sich nervös um. Der Müller hängte sich den Lederriemen über die Schulter und ging mit langen Schritten davon.
Cædmon wartete, bis die Wiese wieder verlassen dalag und die Tür zur Mühle sich geschlossen hatte. Dann gab er sein Versteck auf, lief zu dem großen Holzgebäude hinüber und trat ein.
Gytha stand am Herd und fuhr erschrocken herum, als sie die Tür hörte.
Er sah sich kurz in dem großzügigen Raum um und fand sich an die eisige Winternacht erinnert, als er hier Obdach vor dem Schneesturm gefunden hatte. Keine Kühe standen heute in der Ecke hinter dem Herd – sie waren zweifellos auf der Weide. Aber drei kleine Jungen spielten im Stroh am Boden.
»Gytha.«
Sie starrte ihn unverwandt an. »Da bist du also.«
Er lachte leise. »Da bin ich. Kein Grund, wie ein verschrecktes Reh dazustehen. Leg den Schürhaken weg. Ich bin es nur.«
Abwesend legte sie den mit Asche bestäubten Eisenstab auf den Tisch und die Hände um die Oberarme, so als sei ihr kalt. »Wir hörten, du seiest zurück. Und hast eine normannische Braut mitgebracht.«
»Ja. Wo ist er, Gytha?«
»Hengest? Er ist zum Fischen gegangen.«
»Ohne Angel und mit einem Brotbeutel über der Schulter? Wie eigenartig.«
Sie schlug die Augen nieder, äußerte sich aber nicht.
»Sag es mir«, bat er leise. »Es ist nicht Hengest, den ich suche. Ich will kein Unglück in dein Haus bringen. Ich will nur Hereward.«
Sie zuckte zusammen, als der Name fiel, und ihr Blick wanderte zu den drei kleinen Jungen. »Ich habe dir nichts zu sagen, Cædmon.«
Er trat einen Schritt näher. »Gytha, sei vernünftig. Früher oder später wird der Sheriff davon Wind bekommen, daß ihr einen Gesetzlosen versteckt, und dann kann nichts und niemand euch retten. Aber noch kann ich euch helfen.«
Sie wich vor ihm zurück. »Du willst uns helfen? Kein Unglück über mein Haus bringen? Warum kommst du dann her?« fragte sie bitter. »Was, denkst du, werden meine Nachbarn sagen, wenn sie hören, daß ich Hereward an dich ausgeliefert habe? Und was würde Hengest tun? Wenn du mir helfen willst, dann verschwinde!«
»Das kann ich nicht. Da ich nun einmal davon weiß, muß ich handeln, sonst mache ich mich mitschuldig.«
Sie schnaubte verächtlich. »Niemand bräuchte je davon zu erfahren, wenn du dich nur entschließen könntest, zu vergessen, was du weißt. Aber du kannst deinen geliebten normannischen König nicht hintergehen, nicht wahr? Einen Helden deines Volkes auszuliefern fällt dir hingegen nicht schwer.«
Es bekümmerte ihn, daß sie so schlecht von ihm dachte, und ihre Bitterkeit kränkte ihn. Aber er erwiderte ruhig: »Du hast recht, Gytha. Ich kann den König nicht hintergehen, denn ich habe ihm einen Eid geleistet. Und Hereward ist kein Held, glaub mir. Als Ely fiel, ist er geflohen und hat all seine Männer im Stich gelassen. Auch meinen Bruder. Aber darum geht es nicht. Ich bin nicht hier, um Hereward zur Rechenschaft zu ziehen, sondern um euch zu schützen und mich selbst. Ihr wart zu unvorsichtig. In Helmsby pfeifen es die Spatzen von den Dächern: ›Der Müller von Metcombe hält Hereward den Wächter versteckt‹. Ælfric und Wulfnoth wissen es. Mein Gesinde und meine Pächter wissen es vermutlich auch schon. Irgendwann wird die Neuigkeit sich bis nach Blackmore verbreiten, und was die Leute von Blackmore wissen, weiß auch bald der Sheriff, denn die Bauern dort leben in Angst vor ihm, und früher oder später wird einer es ihm sagen. Und dann wird er herkommen, Metcombe niederbrennen und Hengest blenden oder töten oder beides. Sie werden …«
»Hör auf!« unterbrach sie ihn schneidend. Sie trat zu ihren drei Söhnen, die mit angstvoll aufgerissenen Augen zu dem fremden Mann aufstarrten. Der älteste, vielleicht vier oder fünf und alt genug zu verstehen, was Cædmon gesagt hatte, brach in Tränen aus und vergrub das Gesicht in den Röcken seiner Mutter.
Gytha bedachte Cædmon mit einem verächtlichen Blick und strich ihrem Sohn mit einer ihrer schwieligen Hände über den Kopf. »Das ist es, was ihr Normannen am besten könnt: Kinder erschrecken.«
Cædmon senkte den Blick. »Ich bin kein Normanne, Gytha. Und es tut mir leid, ich wollte weder dir noch deinen Söhnen angst machen. Aber du mußt mir helfen. Und euch. Was … was würdest du sagen, wenn ich mein Schwert und mein Messer hierließe und nur zu Hereward ginge, um mit ihm zu sprechen? Niemand könnte dir einen Vorwurf machen, schließlich weiß ich ja ohnehin schon, daß er hier irgendwo ist.«
Gytha sah ihn verständnislos an, ihre großen Augen waren voller Unruhe. »Er wird dich töten, wenn du unbewaffnet zu ihm kommst.«
»Das glaube ich nicht.«
Er löste seinen Schwertgürtel und legte ihn auf den Tisch. Dann zog er das lange Jagdmesser aus der Scheide und rammte es hoch oben in einen Balken, damit die Kinder nicht herankommen und sich beim Spielen verletzen konnten.
Gytha beobachtete ihn mit leicht geöffneten Lippen. »Woher weiß ich, daß im Wald nicht ein Dutzend normannischer Soldaten warten?« Er sah sie wortlos an.
Sie schlug die Augen nieder und schüttelte den Kopf. »Entschuldige.« »Du mußt mir glauben, Gytha, ich bin hier, um euch zu schützen.« Es war so schwer, ihm zu glauben, nachdem der Müller ihr seit Jahren vorgebetet hatte, daß Cædmon of Helmsby ein Normannenfreund sei und kein Herz für sein eigenes Volk habe. Mit der ihr eigenen Bedächtigkeit wägte sie Für und Wider ab, sann über alles nach, was Cædmon einerseits und ihr Mann andererseits gesagt hatten, und traf ihre Wahl. »Weißt du, wo Godric der Flußschiffer wohnt?«
»Ja.«
»Auf halbem Weg zu seinem Haus steht eine alte Schäferhütte. Sie wird nicht mehr benutzt; das Moor ist dorthin gewandert, und zu viele Schafe ertranken. Da versteckt sich Hereward.«
Cædmon nickte und wollte sich abwenden.
»Warte …«
Sie hob den weinenden Jungen auf den Arm und wiegte ihn. Zu Cædmon sagte sie: »Ich habe es mir überlegt. Nimm deine Waffen mit. Ich will nicht, daß er dich tötet.«
Er zögerte einen Moment und schüttelte dann den Kopf. Er war versucht, ihr zu verraten, daß er ein kleines Wurfmesser im Schuh trug, tat es aber nicht. Es konnte schließlich nicht schaden, wenn sie ihn für unerschrockener hielt, als er war. »Nein, vielleicht ist dies wirklich der bessere Weg. Und Hereward wird keinen unbewaffneten Mann töten.« »Sieh dich vor«, bat sie leise. »Und hüte dich vor dem Moor, hörst du.« Er trat zu ihr und küßte sie lächelnd auf die Wange. »Sei unbesorgt. Vor Sonnenuntergang komme ich wieder und hol’ mir mein Schwert.«
Der Flußschiffer wohnte ein Stück außerhalb des Dorfes an einem der zahllosen Zuflüsse des Ouse, und der Weg führte durch sumpfige Heide und kleine Gehölze. Cædmon ging zu Fuß. Nach einer guten Viertelstunde sah er die verfallene Schäferhütte in einer flachen Senke vor sich liegen, blieb im Schutz einer kleinen Gruppe von Weißdornsträuchern stehen und beobachtete sie. Nichts rührte sich. Die Hütte war kaum mehr als ein armseliger Bretterverschlag mit einem löchrigen Strohdach. Sie mochte einmal eine Tür gehabt haben, aber jetzt gähnte nur eine schiefe Öffnung in den hellen Sommertag hinaus, und die Schwärze im Innern wirkte bedrohlich, als liege dort etwas auf der Lauer.
Cædmon zögerte. Ein seltsam heftiges Gefühl warnte ihn, sich weiter zu nähern. Er erwog, kehrtzumachen, von hinten an die Hütte heranzuschleichen und an einer Ritze zwischen den verwitterten Brettern zu lauschen, als hinter ihm plötzlich ein leises Rascheln erklang. Er fuhr herum und fand sich Auge in Auge mit Hengest, der eine blankpolierte Streitaxt in Händen hielt. Und der Müller war nicht allein. Links und rechts von ihm standen zwei junge Burschen, die Cædmon nicht kannte, der Kleidung nach Bauern, und sie waren mit furchteinflößenden Knüppeln bewaffnet.
»Ich bedaure, daß Ihr hergekommen seid, Thane«, sagte der Müller, und es klang tatsächlich so, als tue es ihm leid.
Cædmon spielte seinen einzigen Trumpf aus: »Ich bin unbewaffnet, Hengest.«
»Das war unvorsichtig von Euch. Doch es wird Euch nicht retten«, entgegnete er.
»Aber Hengest …«, begann einer der Milchbärte unsicher. »Er ist der Thane. Und … man darf doch keinen unbewaffneten Mann erschlagen.«
Hengest warf ihm stirnrunzelnd einen kurzen Blick zu. »Das ist auch nicht nötig. Selbst ein Thane kann im Moor ertrinken.«
Ah ja? dachte Cædmon. Erst mußt du mich zu fassen kriegen, du Bastard …
»Würdest du einem Todgeweihten eine letzte Bitte gewähren, Hengest?« erkundigte er sich.
»Ihr solltet lieber nicht glauben, ich würde es nicht tun«, knurrte der Müller drohend. »Ihr seid ein Verräter an Eurem Volk, und ich werde mich nicht fürchten, Eurem Vater und Großvater im Jenseits Rede und Antwort zu stehen, wenn ich Euch töte!«
Cædmon verkniff sich eine bissige Antwort. Es hatte keinen Sinn, den Mann weiter zu reizen, denn er war gefährlich. Seit Jahren hegte der Müller einen schwelenden Groll gegen Cædmon, der viel mehr mit Gytha als mit König William oder Hereward zu tun hatte.
»Beantwortest du meine Frage?« erkundigte er sich.
»Was wollt Ihr?«
»Laß mich mit Hereward sprechen. Nur einen Moment.«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil Ihr ihn schändlich verraten habt und es gewiß schmerzlich für ihn wäre, Euch zu sehen. Der Mann hat genug gelitten.«
»Wenn ich ihn verraten habe, solltest du ihm das Recht, mich selbst zu töten, nicht streitig machen.«
Der Müller schien einen Augenblick unsicher, und noch ehe er eine Entscheidung getroffen hatte, fragte Cædmon: »Bewacht ihr euren Helden immer zu dritt, oder habt ihr mich erwartet?«
Hengest hob die Rechte und wies auf den schlaksigen Jüngling an seiner Seite. »Bedwyn hat Euer Pferd im Wald gesehen. Ich war schon auf dem Heimweg, als er und sein Bruder …«
Cædmon packte die Axt, ehe der Müller wieder beide Hände am Griff hatte, und entriß sie ihm mit einem gewaltigen Ruck. Dann machte er einen Satz nach hinten und ließ die gefährliche Waffe einmal vor sich durch die Luft sausen, als sei es eine Sense, um die drei Männer auf Abstand zu halten.
Er stand breitbeinig, die Axt einsatzbereit in beiden Händen, und grinste in drei verdatterte Gesichter. »Und was machen wir nun, Hengest?« Der Müller ließ ihn nicht aus den Augen. »Bedwyn, lauf ins Dorf und trommel alle Männer zusammen, na los …«
Der junge Bursche wandte sich ab und rannte los, aber er war noch keine zehn Schritt weit gekommen, als Cædmon seinen linken Fuß hob und einen Augenblick wie ein Storch dastand, das Messer aus dem Schuh zog und aus dem Handgelenk warf. Die kleine Waffe wirbelte pfeilschnell durch die Luft, und die Klinge drang in Bedwyns Wade. Der Junge jaulte auf, stürzte der Länge nach und landete mit einem dumpfen Platschen in einem der tückischen Schlammlöcher.
»Bedwyn!« rief sein Bruder entsetzt und wollte zu ihm laufen, aber Cædmon hob drohend die Axt. »Du rührst dich nicht, Bürschchen.« »Aber Thane … er ist mein Bruder!«
Cædmon sah ihn finster an. »Dann schwöre beim Leben deines Bruders, daß du mir gehorchen wirst und nicht dem Müller.«
Der Junge legte ohne zu zögern die Linke aufs Herz und hob die Rechte. »Ich schwöre.«
Cædmon machte eine einladende Geste, und der Junge wandte sich ab, riß sich im Laufen den Gürtel vom Leib, fiel am Rand des Sumpflochs auf die Knie und warf seinem jammernden Bruder das rettende Seil zu.
Cædmon beachtete sie nicht weiter, ließ den Müller nicht aus den Augen und die Axt keinen Zoll sinken – dankbar, daß Hengest nicht ahnte, wie hoffnungslos ungeübt er im Umgang mit dieser, der englischsten aller Waffen war.
Schlammverschmiert und triefend kam Bedwyn schließlich zu Cædmon zurückgehumpelt. Er stützte sich schwer auf die Schultern seines Bruder und heulte leise.
Cædmon sah ihn kopfschüttelnd an. »Zieh das Messer raus, dann wird es nicht mehr so weh tun«, riet er und wahrte mit Mühe ein ernstes Gesicht. »Pflück Moos und drück es auf die Wunde«, wies er den unverletzten Bruder an. »Und ihr zwei wartet hier und rührt euch nicht von der Stelle. Habt ihr verstanden?«
Sie nickten kleinlaut.
Cædmon sah zu Hengest und machte eine einladende Geste mit der Axt. »Du und ich gehen zu Hereward.«
Mit bleichem Gesicht wandte der Müller sich ab, trottete vor Cædmon hügelabwärts und unternahm einen letzten, tollkühnen Versuch, das Blatt noch zu wenden und seinen Gast zu schützen: Er warf sich mit einem plötzlichen Satz nach hinten, um Cædmon zu Fall zu bringen und ihm die Waffe zu entreißen. Aber Cædmons Reflexe waren zu schnell. Mit einem beinah eleganten Ausfallschritt glitt er beiseite, und Hengest fiel hart auf den Rücken. Schweigend wartete Cædmon, bis der andere wieder auf die Füße gekommen war. Die Schultern des Müllers hingen mutlos herab und verrieten seine Resignation.
Am Eingang der dunklen Hütte blieb Hengest stehen.
Cædmon winkte ungeduldig. »Nach dir.«
Sie mußten beide den Kopf unter dem niedrigen Sturz einziehen.
Im Innern roch es nach Schafen und Fäulnis. Der Lehmboden der kleinen Hütte war feucht. Es gab keine Möbel.
Als Cædmons Augen sich auf das Dämmerlicht eingestellt hatten, entdeckte er in einer Ecke am Boden eine reglose Gestalt.
Cædmon packte den Müller am Arm, schleuderte ihn in die gleiche Richtung, stellte sich mit dem Rücken an die Wand neben der Tür und hielt die Axt einsatzbereit.
»Seid so gut und steht auf, Hereward.«
Nach einem Moment regte sich der Mann am Boden. Seine Bewegungen waren schleppend wie die eines Greises, aber er kam ohne Mühe auf die Füße, stand ungebeugt und trat einen Schritt vor.
Etwas Licht fiel durch die Türöffnung auf ihn. Hereward mußte etwa Mitte Dreißig sein, wußte Cædmon, doch sein Haar war schneeweiß, das Gesicht tief zerfurcht. Nur die stechenden Feenaugen waren unverändert.
Sie sahen sich lange an.
»Sie sagen, Dunstan hat sich das Leben genommen«, sagte Hereward schließlich. Seine Stimme war so kräftig und volltönend wie damals, doch die unerschütterliche Arroganz war nicht mehr herauszuhören. »Nein, er fiel im Kampf«, hörte Cædmon sich sagen.
»Nicht von Eurer Hand, hoffe ich für Euch beide?«
Cædmon schüttelte den Kopf. »Aber ich habe es gesehen.«
Hereward, den sie den Wächter genannt hatten, senkte den Blick und gestand: »Ich bin froh, daß Ihr gekommen seid. Daß es vorbei ist.«
Cædmon verhärtete sich gegen sein Mitgefühl. »Täuscht Euch nicht. Ich bin nicht hier, um Euch zu töten. Aber wenn Ihr Euch freiwillig in meine Hände gebt, dann … dann werde ich für Euch tun, was ich kann.«
Hereward hob den schlohweißen Kopf und sah zu Hengest. »Es tut mir leid, mein wackerer Freund. Ich bin dir dankbar für das, was du für mich getan hast, aber ich fürchte, das Angebot des Thane ist zu verlockend. Ich bin müde, Hengest.«
Müde, dachte Cædmon, wäre ich wohl auch. Acht Jahre auf der Flucht. Acht Jahre in erbärmlichen Verstecken wie diesem, ein Gesetzloser, den jeder töten kann, der ihn erkennt, um die Belohnung zu kassieren, die auf seinen Kopf ausgesetzt ist …
Hengest senkte den Kopf und sagte nichts.
»Es hat keinen Sinn mehr«, versuchte Hereward zu erklären. »In Ely hatten wir eine Chance, aber jetzt … ist es zu spät. England gehört William. Seine eigenen Adligen haben versucht, ihn zu stürzen, und sind gescheitert. War’s nicht so, Thane?«
Cædmon nickte. »So war es.«
Hereward löste sein Schwert und gab es Cædmon. »Laßt uns gehen.« Er legte dem Müller die Hand auf die Schulter.
Hengest nickte unglücklich, rang einen Moment um seinen Mut und sah dann zu Cædmon. »Kann ich in Metcombe bleiben, oder wird der Sheriff mir seine Bluthunde auf den Hals hetzen?«
Cædmon winkte ab. »Von mir erfährt er nichts, da kannst du sicher sein. Und wenn Hereward nicht mehr hier ist, spielt es keine Rolle, welche Gerüchte dem Sheriff zu Ohren kommen. Wenn er euch heimsucht, schickt mir einen Boten, so wie früher.«
Hengest starrte ihn ungläubig an. Er hatte offenbar nicht damit gerechnet, daß Metcombe weiterhin unter Cædmons Schutz stehen würde. Aber er brachte es nicht fertig, ihm zu danken, sondern fragte lediglich: »Wo bringt ihr Hereward hin? Nach Helmsby?«
Cædmon sah einen Moment in die immer noch lodernden Feenaugen und schüttelte den Kopf. Helmsby hatte kein Verlies, und er traute Hereward nicht. Wenn er satt und ausgeschlafen war, mochte sein Kampfgeist zurückkehren, und Cædmon hätte allerhand zu erklären, wenn dieser Gefangene ihm entwischte. Oder Lucien könnte kommen und ihn holen und Gott weiß was mit ihm tun, und das wollte Cædmon ebensowenig.
»Nach Dover«, antwortete er schließlich. »Zu Bischof Odo, des Königs Bruder. Er hat ein Herz für in Ungnade gefallene Engländer – das weiß niemand besser als ich.«