Hastings, Oktober 1066

Wie William vorhergesagt hatte, eilte Harold Godwinson in Gewaltmärschen nach Süden. Er machte in London halt, um seine vollkommen erschöpften Truppen auszuruhen und neue auszuheben, doch als er erfuhr, daß die Normannen die Umgebung von Hastings in Schutt und Asche legten, brach er überstürzt dorthin auf, gegen den ausdrücklichen Rat der Witan.

William hatte in Hastings inzwischen eine Festung errichten lassen, die ihm als Hauptquartier diente. Ungläubig hatte Cædmon beobachtet, wie blitzschnell das bewerkstelligt wurde: Innerhalb von zwei Tagen hatten ein paar hundert Soldaten einen breiten Graben ausgehoben und mit der Erde einen hohen Wall errichtet. Man konnte förmlich zusehen, wie er wuchs. Es war ein denkbar simples Prinzip, doch sobald der Erdhügel mit Palisaden umgeben war, würde diese primitive Festung selbst für ein zahlenmäßig überlegenes Heer so gut wie uneinnehmbar sein, solange sie von innen entschlossen verteidigt wurde.

Von Hastings sandte der Herzog Kundschafter aus und nahm Kontakt zu den in England lebenden Normannen auf. Bald war er über die Ereignisse der Schlacht von Stamford Bridge und jeden von Harolds Schritten genauestens im Bilde.

Am Morgen des vierzehnten Oktober verließ er, nachdem er die Messe gehört hatte, mit seinem gesamten Heer von etwa siebentausend Mann Hastings und marschierte den englischen Truppen entgegen. Auf einem Hügel weit außerhalb der Stadt hielten sie an, und als die Kundschafter berichteten, das englische Heer werde bald auf dem gegenüberliegenden Hügel in Sicht kommen, gab der Herzog Befehl, die Schlachtordnung aufzustellen: links die Bretonen unter Comte Alan, rechts die Söldner aus Frankreich, Flandern und Deutschland unter Williams vertrauten Vasallen Eustace de Bologne und Roger de Montgomery, in der Mitte der Herzog selbst mit seinen normannischen Rittern und seinen beiden Brüdern, Odo und Robert.

Etienne fitz Osbern nahm für einen Augenblick den Helm ab. »Wenn wir diese Stellung halten, müssen die Engländer bergan kämpfen«, bemerkte er.

»Das glaubst du doch wohl selber nicht, daß sie uns den Gefallen tun«, schnaubte Lucien de Ponthieu.

»Setz den Helm auf, Etienne«, mahnte Roland Baynard ruhig. »Ob bergan oder bergab, auf jeden Fall haben die Engländer die Sonne im Gesicht.«

»Vorläufig«, brummte Etienne. »Aber was wird heute nachmittag?« Lucien lachte höhnisch. »Was glaubst du, wie lange es dauert, einen Haufen englischer Schweinehirten zu besiegen? Noch dazu einen müden Haufen …«

»Der gerade Harald Hårderåde, den gefürchtetsten Heerführer aller Zeiten, vernichtend geschlagen hat«, gab Etienne zu bedenken.

Cædmon lauschte ihnen schweigend und fragte sich, ob er den Nachmittag noch erleben würde, wenn er bei seinem Vorsatz blieb und sein Schwert in der Scheide ließ.

Herzog William ritt ein paar Längen vor, wendete sein Pferd und hob gebieterisch die Hand. Das leise Waffenklirren und Stimmengewirr verebbte, selbst die Pferde schienen stillzustehen.

»Vor uns steht der Thronräuber mit einem großen Heer. Hinter uns liegt das Meer, wo feindliche Schiffe lauern. Es gibt kein Zurück für uns, der einzige Weg führt nach vorn!« rief er mit tragender Stimme. »Laßt euch von der Zahl der Gegner nicht entmutigen! Kämpft frohen Mutes und reinen Herzens, denn vergeßt nicht, das Recht ist auf unserer Seite! Gott ist auf unserer Seite!« Und mit diesen Worten hob er das Reliquiar hoch, das er um den Hals trug und das die Reliquien enthielt, auf die Harold den gebrochenen Eid geleistet hatte, und im selben Moment entrollte der Bannerträger die päpstliche Standarte. Die Truppen jubelten ohrenbetäubend. Die Morgensonne funkelte auf Kettenhemd und Helm des Herzogs, und Cædmon spürte, wie selbst ihm das Herz in der Brust vor Stolz und Ehrfurcht anschwoll, denn William erschien ihm plötzlich wie der wiedererstandene Roland: schön und schrecklich und unbezwingbar.

Und das war der Moment, da über dem Kamm des nächsten Hügels die englischen Banner erschienen.

Auch die Engländer traten in dreigeteilter Schlachtaufstellung an, auch sie hatten die stärksten Verbände in der Mitte gebündelt: Harold Godwinson, seine Brüder Gyrth und Leofwine und tausend seiner Housecarls. Insgesamt zählte das englische Heer etwa achttausend Mann, hatten die Kundschafter berichtet, doch nur ihre Anführer waren beritten. »Jetzt bleibt bloß abzuwarten, wer als erster die Geduld verliert und seinen Hügel aufgibt«, murmelte der Bischof von Bayeux und lockerte das Schwert in der Scheide.

»Ich kann nicht verlieren, was ich nicht besitze«, erwiderte William und gab das Signal zum Angriff.

Hörner erschollen auf beiden Seiten. Dann setzte das normannische Heer sich hügelabwärts in Bewegung. Vor ihnen erstreckte sich eine grasbewachsene Ebene, auf der ein einsamer Apfelbaum stand. Die Engländer rührten sich nicht. William ließ seine vorderen Linien, die Armbrust- und Bogenschützen, bis auf hundert Schritt Entfernung vorrücken, ehe er den Schußbefehl gab.

Die normannischen Pfeile prallten von den englischen Schilden ab, die eine dichte Mauer bildeten, ohne den geringsten Schaden anzurichten, und sie wurden nicht erwidert.

»Warum schießen sie nicht?« murmelte William. Nichts rührte sich auf englischer Seite, nichts war zu sehen bis auf den dichten Schildwall, es war geradezu unheimlich.

William wandte sich an Cædmon, der dicht neben seinem Bannerträger stand. »Sagt mir, warum sie nicht schießen.«

»Sie haben keine Bogenschützen, Monseigneur.«

»Was? Welch eine Unsitte ist das nun wieder? Kämpft das englische Heer immer ohne Bogenschützen?«

Cædmon schüttelte den Kopf. »Es ist unterschiedlich. Vermutlich sind viele Bogenschützen bei Stamford Bridge gefallen.«

»Das fängt ja gut an«, grollte der Herzog leise. »Wenn sie nicht zurückschießen, heißt es, daß keine Pfeile herüberkommen, die unsere Männer aufsammeln können. Unsere Schützen werden in Windeseile mit leeren Köchern dastehen …« Er dachte einen Moment nach, dann wies er auf Etienne. »Nehmt fünfzig Mann und reitet zurück zum Hafen. Holt an Pfeilen, was Ihr tragen könnt.«

Etienne war so entsetzt, daß er seine Manieren vergaß. »Aber Monseigneur …«

»Tut, was ich sage, oder nehmt den Helm ab, damit ich Euch den Kopf abschlagen kann!« herrschte William ihn an.

Etienne nickte knapp, wendete sein Pferd und galoppierte zu den hinteren Linien.

William hob die Hand, und ein Hornsignal gab den Befehl zum Vormarsch. Die Fußsoldaten der Hauptstreitmacht rückten auf ganzer Linie vor, pflügten langsam, aber unaufhaltsam bergan, brandeten gegen die vorderste Linie der englischen Truppen, und das Gemetzel begann. Waffenklirren erfüllte den klaren Oktobermorgen, gewaltige Staubwolken stoben auf, und ein ohrenbetäubendes Gebrüll erhob sich auf beiden Seiten. »Dieu aie!« lautete der vielstimmige Schlachtruf der Normannen, »Gott helfe!« Und die Engländer erwiderten nur ein einziges Wort: »Ut! Ut!« dröhnte es vom Hügelkamm, »Hinaus! Hinaus!« Es klang wie das Gebell von Höllenhunden.

Die beiden Frontlinien schienen vollkommen ineinander verkeilt, bewegten sich kaum. Doch schließlich brach der Gegenangriff der Engländer an der linken Flanke von Williams Truppen durch. Die Bretonen gerieten ins Wanken, wichen zurück, machten schließlich kehrt und flohen. Gegen Harold Godwinsons ausdrücklichen Befehl nahm der rechte Flügel seiner Armee unter seinem Bruder Gyrth und Ælfric of Helmsby die Verfolgung auf und gab damit die erhöhte Position auf dem Hügelkamm preis.

William der Bastard schlug mit seinem Schwert auf den Schild. »Jetzt! Jetzt!« rief er, heiser vor Aufregung und Kampfeswut, und zog mit zweitausend berittenen Normannen in die Schlacht.

Cædmon blieb zurück, zusammen mit Etiennes Vater und den anderen Kommandanten, die es im Gegensatz zu ihrem Herzog für weiser hielten, das Geschehen aus dem Hintergrund zu lenken. Starr vor Entsetzen saß der junge Engländer im Sattel und sah, was er bislang nur aus Geschichten und Liedern kannte: eine Schlacht. Und so blutrünstig und detailfreudig die Schilderungen in der Dichtung auch oft waren, hatten sie ihn doch nicht auf das vorbereitet, was er bei Hastings erlebte. Er hörte die Schreie der Verwundeten und Sterbenden, das schrille Wiehern der stürzenden Pferde, sah das grauenvolle Hauen und Stechen, sah die Engländer mit der gefürchtetsten all ihrer Waffen, der Streitaxt, Ritter und Pferd auf einen Streich fällen, sah ebenso oft die berittenen Normannen die benachteiligten englischen Fußsoldaten aus luftiger Höhe niederstrecken.

Als es Mittag wurde, hatte die Wiese sich in ein aufgewühltes Feld aus rotgefärbtem Schlamm verwandelt, auf dem abgetrennte Gliedmaßen verstreut lagen wie eine schaurige Wintersaat. Und noch immer tobte die Schlacht mit unverminderter Wut.

Dann erhob sich ein Schrei des Entsetzens unter den Normannen: »Der Herzog ist gefallen! Der Herzog ist gefallen!«

»Oh, heilige Jungfrau, steh uns bei«, stöhnte Bischof Odo, bekreuzigte sich, gab seinem Pferd die Sporen und ritt in die Schlacht. Er schwang seinen Bischofsstab, der mehr Ähnlichkeit mit einer Kriegswaffe hatte, über dem Kopf und befahl den Männern brüllend, ihre Stellung zu halten. Doch ehe noch Panik ausbrechen und das normannische Heer in einen kopflosen Haufen fliehender Feiglinge verwandeln konnte, hatte der Herzog sich aus den Steigbügeln seines gestürzten Pferdes befreit und war unverletzt aufgesprungen. Cædmon entdeckte ihn erst, als er sich auf das nächstbeste Pferd geschwungen hatte und mitten im dichtesten Kampfgetümmel den Helm vom Kopf riß.

»Seht!« rief Cædmon dem Seneschall zu, der den Kopf in Trauer gesenkt hatte. »Seht doch, Monseigneur!«

Fitz Osbern blickte auf, und in diesem Moment erhob sich die Stimme des Herzogs über den Schlachtenlärm: »Schaut mich an! Schaut mich an, Männer der Normandie! William ist nicht gefallen! Gott steht mir bei, und mit seiner Hilfe werden wir bald den Sieg erringen!« Er führte das Reliquiar kurz an die Lippen, dann stülpte er den Helm wieder über und wehrte Harold Godwinsons gefürchtete Housecarls ab, die sich gierig auf ihn stürzten, nachdem er sich so leichtsinnig zu erkennen gegeben hatte. Aber es schien, als streite Gott tatsächlich auf Williams Seite. Sein Schwert fuhr durch den englischen Angriff wie die Sense durchs Korn.

Wenig später kehrte Etienne fitz Osbern mit fünftausend Pfeilen aus Hastings zurück. Dieses Mal schossen die Schützen auf Befehl ihres Herzogs ihre Pfeile hoch in die Luft, so daß sie die Engländer von oben trafen, und bald stiftete der tödliche Pfeilregen Panik und Verwirrung unter den Gegnern. Die Reihen lichteten sich, und mit einem gezielten Angriff durchbrachen die normannischen Ritter endgültig den feindlichen Schildwall. Die Housecarls bildeten einen schützenden Kreis um ihren König, doch der Angriff konzentrierte sich auf diesen Ring, der immer dünner und dünner wurde. Vier Normannen brachen schließlich durch, preschten auf die königliche Standarte zu und hauten nieder, was sich ihnen in den Weg stellte. Einer von Harolds Bannerträgern schlug einem der Ritter den Schildarm ab, ehe er selbst fiel. Schließlich stand Harold allein. Das Schwert in der rechten, die Axt in der linken Faust, so trat er ihnen entgegen, doch einer der Normannen gab seinem gewaltigen Schlachtroß die Sporen und ritt Harold Godwinson nieder. Dann saßen sie ab, bildeten einen engen Kreis um den König von England und hoben gleichzeitig die Schwerter.

Und das war das Ende.

Die Engländer, die sich noch auf den Beinen halten konnten, wandten sich ab, warfen ihre Waffen von sich und flohen in die Dunkelheit. Fitz Osbern gab Befehl, die Fliehenden zu verfolgen und jeden niederzumachen, den sie erwischten.

 

Derweil brachte Herzog William den Mann vor sich im Sattel vom Schlachtfeld, der bei der Niederwerfung des Usurpators den halben Schildarm eingebüßt hatte. Er ritt zu einem der wenigen Zelte, die in dem notdürftigen Lager am Rand des Schlachtfelds errichtet worden waren.

»Lauft, Cædmon, holt einen Feldscher.«

»Ja, Monseigneur.«

»Nein, wartet. Jemand anders soll gehen. Ihr versorgt ihn, bis der Arzt gefunden ist. Verflucht, werdet ihr mir wohl diesen Mann abnehmen, ehe er verblutet ist?«

Ein paar Soldaten sprangen erschrocken herbei und nahmen den Verwundeten vorsichtig in Empfang, als der Herzog ihn vom Pferd gleiten ließ. Der Schein einer nahen Fackel fiel auf das bleiche, reglose Gesicht. Es war Lucien de Ponthieu.

Cædmon hatte eine Hand vor den Mund gepreßt und starrte auf ihn hinab.

William saß ab und versetzte ihm einen unsanften Stoß. »Worauf wartet Ihr, Junge, verbindet ihn, na los! Ich will nicht, daß er stirbt.«

Cædmon nickte, ließ die Hand sinken und wandte den Blick von Luciens blut- und dreckverschmiertem Gesicht ab, damit er nachdenken konnte. »Bringt ihn hinein«, wies er die Soldaten an. »Und besorgt mir einen Strick. Schnell. Wir müssen den Arm abbinden …«

 

Cædmon wünschte in dieser Nacht viele Male, er hätte früher größeres Interesse an der Kunst seiner Mutter gezeigt und aufmerksamer zugehört, wenn sie ihm etwas beizubringen versuchte. So aber mußte er ungezählte Male tatenlos zusehen, wie ein Mann starb, weil er nicht wußte, was er hätte tun können. Er ging den wenigen Feldschern zur Hand, wo er nur konnte, und kam bald zu der Erkenntnis, daß das Grauen der Nacht das Grauen des Tages überstieg. Auch im Lazarettzelt floß das Blut in Strömen, aus Stich- und Schnittwunden an Köpfen, Gliedern und Leibern, vor allem jedoch aus Stümpfen. Dutzenden von Stümpfen. Sie alle mußten ausgebrannt werden, ehe sie mit Pech verschmiert und verbunden wurden, und bald war der Gestank nach verbranntem Fleisch so übermächtig, daß Cædmon ständig ins Freie flüchten mußte, um zu würgen und Galle zu spucken und dann ein paarmal tief durchzuatmen, ehe er den Mut fand, an diesen Ort des Schreckens zurückzukehren.

Und die ganze Zeit war er in Gedanken draußen auf dem nächtlichen Schlachtfeld, bei all den verwundeten, stöhnenden und schreienden Engländern, um die sich niemand kümmerte, weder Wundarzt noch Priester.

Als der Tag anbrach, verließ er das Lazarettzelt und machte sich auf die Suche nach einem Offizier, den er um Erlaubnis bitten konnte, zwischen den Toten und Verletzten auf dem Feld nach vertrauten Gesichtern suchen zu dürfen. Doch er hatte kaum zehn Schritte im ersten zartrosa Licht des kalten, klaren Herbstmorgens zurückgelegt, als Bischof Odo auf ihn zutrat.

»Kommt, mein Sohn.«

»Wohin?«

»Kommt.«

»Aber …«

Odo schüttelte den Kopf, legte ihm die Hand auf die Schulter und brachte ihn zu einem abgelegenen Zelt am Rand des Lagers. Cædmon sah den normannischen Bischof mit bangen Augen an, aber Odo nickte nur Richtung Zelteingang. Als Cædmon sich abwandte, sagte er hinter ihm:

»Ich bin hier draußen. Falls Ihr mich braucht.«

Cædmon mußte sich zwingen, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Mit einem fast unmerklichen Hinken betrat er das Zelt.

Nur zwei Fackeln erhellten das Innere, es herrschte diffuses Halbdunkel. Cædmon sah reglose, schemenhafte Gestalten aufgereiht am Boden liegen. Langsam schritt er den Mittelgang hinab, und er erkannte seinen Vater sofort.

Er kniete sich neben ihn auf die kalte Erde und legte die Linke auf die gefalteten Hände. Sie fühlten sich warm an.

Ælfric schlug die Augen auf. »Cædmon?«

»Ja, Vater.«

Ælfric sah blinzelnd zu ihm auf. Seine Augen waren trüb. Eine häßliche, gezackte Wunde verlief diagonal über seine Wange. Cædmon wollte die Decke anheben, um den übrigen Schaden in Augenschein zu nehmen, aber Ælfric schüttelte den Kopf.

»Nein. Ich will nicht, daß du es siehst. Sorg dafür, daß sie meinen Sarg verschließen. Laß nicht zu, daß deine Mutter mich so sieht.«

Cædmon nickte. »Sei unbesorgt.«

Ælfric erschauerte, und für einen Moment verzerrte sich sein Gesicht. Seine Hände wurden klamm.

»Willst du einen Priester?« fragte Cædmon leise. Er konnte kaum glauben, wie ruhig seine Stimme klang.

»Nein. Ich habe gebeichtet, bevor wir in die Schlacht zogen, und seither … nichts getan, das ich bereue. Mit Gott bin ich im reinen. Aber mit dir nicht. Kannst du mir vergeben, Cædmon?«

»Das habe ich längst.«

Ein schwaches Lächeln zeigte sich auf dem grauen Gesicht. »Dann ist es gut. Dann ist … alles gut.« Er schloß die Augen, und Cædmon wartete. Aber Ælfric war noch nicht ganz fertig.

»Tot, Cædmon. Alle Godwinsons. Gyrth, Leofwine, König Harold.« »Nur Wulfnoth nicht.«

»Nein. Aber England. England liegt im Dreck und wird nie wieder aufstehen. Es ist bei Hastings gefallen. So wie ich.«

Nicht die Könige sind England, nicht die Godwinsons, nicht einmal du, dachte Cædmon. Aber das sagte er nicht.

»Cædmon …«

»Ja?«

»Kümmere dich um deine Mutter und um Eadwig. Such deine Schwester und vergewissere dich, daß es ihr gutgeht. Tu was du kannst für die Leute in Helmsby. Sie verlassen sich auf uns. Und du bist jetzt der einzige.«

Cædmon spürte, wie eine eisige Hand sein Herz umklammerte. »Was ist mit Dunstan?«

»Einer der ersten Pfeile hat ihn getroffen. Er stand gleich neben mir. Traf ihn … in den Hals. Mein armer Sohn … So viel Blut …« Es war nur noch ein schwaches Flüstern, dann versiegte auch das. Die blutunterlaufenen Augen fielen zu, zwei Tränen quollen unter den Lidern hervor. Mit einem leisen Stöhnen atmete er aus und lag dann still.

Noch lange hielt Cædmon die Hände seines Vaters umklammert und lehnte die Stirn an seine Schulter.

 

Die zwei Jahre, die er von zu Hause fort gewesen war, verblaßten, selbst das Grauen der letzten Nacht und des Tages zuvor schien plötzlich eigentümlich entrückt und belanglos. Begebenheiten, Bilder und Gerüche seiner Kindheit, die er lang vergessen geglaubt hatte, waren auf einmal klar und scharf in seiner Erinnerung. Er entsann sich an den Tag, da sein Vater ihm die erste Schleuder geschenkt und ihm gezeigt hatte, wie man damit umging. Er erinnerte sich genau an Ælfrics strahlendes Gesicht an dem Morgen, als Eadwig zur Welt kam. Er dachte an Weihnachten am prasselnden Herdfeuer in der Halle, an Bratäpfel und lange Geschichten. Und er dachte an Dunstan, sein Lachen, seine Verwegenheit, seine gelegentliche gedankenlose Grausamkeit. Es fühlte sich an, als habe jemand eine Axt genommen und ein Stück von ihm abgehackt, etwas Lebenswichtiges, seine Wurzeln vielleicht. Und er fragte sich, ob Lucien de Ponthieu wohl ähnlich empfinden würde, wenn er aufwachte und feststellte, daß ihm jemand den linken Arm genommen hatte.

 

Er wußte nicht, wie lange er so reglos bei seinem Vater gekniet hatte, jedenfalls waren die Hände des Toten eiskalt, als er eine Berührung an der Schulter spürte und in die Wirklichkeit zurückkehrte. Er hob den Kopf und konnte kaum glauben, was er sah. Langsam und ein wenig unsicher kam er auf die Füße. Seine Beine waren eingeschlafen.

»Ich bin erstaunt, daß Ihr die Zeit findet, zu Euren toten Feinden zu kommen, Monseigneur«, sagte er und gab sich nicht die geringste Mühe, seine Bitterkeit zu verbergen.

William schüttelte den Kopf. »Ich komme zu Euch, nicht zu den Toten. Ich bedaure Euren Verlust, Cædmon. Aber ich müßte lügen, wollte ich sagen, ich bedaure den Tod von Ælfric of Helmsby. Der einzige meiner toten Feinde, mit dem ich gern Zwiesprache gehalten hätte, ist Harold Godwinson. Aber dazu hatte ich noch keine Gelegenheit. Er ist so zerstückelt, daß noch nicht alle Teile gefunden sind.«

Cædmon wandte angewidert den Kopf ab. »Ich ersuche Euch um die Erlaubnis, meinen Vater nach Hause bringen zu dürfen. Und meinen Bruder. Falls ich ihn finde …«

»Ich kann Eure Bitte leider nicht gewähren. Ihr seid hier unabkömmlich.«

Cædmon hob das Kinn und verschränkte die Arme. »Ich wüßte wirklich nicht, wozu Ihr mich brauchen könntet.«

»O doch. Das wißt Ihr ganz genau. Ich habe meinen Teil erfüllt, Cædmon. Ich habe England erobert. Jetzt will ich Eure Antwort.«

»Nein.«

William atmete tief durch und sah einen Moment auf Ælfric hinab. »Ein gutes Gesicht«, murmelte er.

»Ein guter Mann«, erwiderte Cædmon schneidend.

»O ja, ich weiß. Und ich kann Euren Schmerz nachfühlen. Wißt Ihr, ich war acht Jahre alt, als mein Vater starb. So etwas vergißt man nicht.«

»Aber sicher wäre Euch nie in den Sinn gekommen, in den Dienst des Mannes zu treten, der Euren Vater auf dem Gewissen hatte.«

William runzelte gefährlich die Stirn. »Ihr solltet Euch ein bißchen in acht nehmen, Cædmon of Helmsby«, riet er leise. »Ich bin nicht verantwortlich für den Tod Eures Vaters, sondern nur er selbst. Er hat seine Wahl getroffen, hat sich auf die Seite des Eidbrechers gestellt, und ich bin sicher, er kannte sein Risiko. Genau wie er habt Ihr die Wahl. Überlegt gut, ob Ihr seinen Fehler wiederholen wollt.«

Cædmon antwortete nicht gleich. Er sah auf seinen Vater hinab. »Aber ich bin Engländer

»Ihr seid zur Hälfte Normanne.«

»Nicht in meinem Herzen.«

»Doch. Ich bin sicher. Ihr wißt es nur noch nicht. Aber wie dem auch sei. Wenn Ihr Engländer seid, dann helft England. Helft England, indem Ihr mir helft. Seht den Dingen ins Auge, die Engländer sind ein besiegtes Volk. Schwere Zeiten kommen auf sie zu. Wenn Ihr Euch ihnen verbunden fühlt, dann werdet ihr Fürsprecher vor ihren Bezwingern.«

»Ich kann mir keine undankbarere Aufgabe vorstellen«, erwiderte Cædmon.

»Was sonst wollt Ihr tun?«

»Meinen Vater nach Hause bringen. Mich um meine Mutter und meine Geschwister kümmern. Und um Helmsby.«

Der Herzog schüttelte langsam den Kopf. »Helmsby gehört Euch nicht mehr, Cædmon. Jeder englische Edelmann, der bei Hastings Waffen gegen mich geführt hat, hat sein Land verwirkt …«

»Aber …«

»… es sei denn, er erwirkt meinen Pardon. Er oder sein Erbe. Euer Vater ist gefallen, Euer Bruder auch, wie Ihr sagt. Also liegt es an Euch, meinen Pardon zu erwirken. Ihr könnt Euch sicher vorstellen, unter welchen Umständen ich bereit wäre, ihn zu gewähren.«

Cædmon sah ihn ungläubig an. »Das ist Erpressung.«

»Stimmt.«

»Ein erpreßter Eid ist nicht bindend.«

»Ich verlange keinen Eid. Ich verlange nur, daß Ihr zurückkommt, sobald Ihr Euren Vater und Bruder begraben und Eure Angelegenheiten in Helmsby geregelt habt. Den Eid könnt Ihr mir leisten, wenn Ihr Euch aus freien Stücken dazu entschließt.«

Cædmon zögerte nicht. »Einverstanden.« Er wußte, daß ihm nichts anderes übrigblieb.

Der Herzog zeigte ein schwaches, sehr erschöpftes Lächeln. »Sagen wir, ein Monat?«

»Zwei.«

»Meinetwegen. Am zweiten Adventssonntag erwarte ich Euch zurück. Wo immer ich dann sein werde, werdet Ihr zu mir stoßen.«

Cædmon nickte und verneigte sich knapp.

Das zweite Königreich
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